RKI-Protokolle: Große Medien meiden Corona-Aufarbeitung
RKI-Protokolle zur Corona-Krise liegen offen. Große Medien zeigen aber kaum Interesse an ihrer Auswertung. Was steckt hinter dieser journalistischen Zurückhaltung?
Ein besonderes Kapitel des Corona-Journalismus ist der Umgang mit den Protokollen des Krisenstabs im Robert-Koch-Institut (RKI). Dieses Kapitel beginnt nicht erst mit der von Multipolar gerichtlich erstrittenen Herausgabe einer ersten, teilweise geschwärzten Fassung, die am 20. März 2024 veröffentlicht wurde.
Das Kapitel begann mit der ersten Sitzung der "Lage-AG", wie sich der spätere RKI-Krisenstab zunächst nannte, bzw. mit den ersten Empfehlungen und Anweisungen dieser Behörde.
Denn obwohl die fachlichen Einschätzungen das RKI für das gesamte Pandemie-Management prägend waren, hat sich kein großes Medium während der Pandemie erfolgreich um die Herausgabe der internen Protokolle bemüht.
Jeder konnte die Protokolle herausfordern
Der Weg dazu war nicht nur über den presserechtlichen Auskunftsanspruch möglich, sondern stand jedem über das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) offen. Doch es war Paul Schreyer von Multipolar, der das IFG nutzte und Ende 2021 vor dem zuständigen Verwaltungsgericht Klage erhob.
Zuvor waren schon die Protokolle der Bund-Länder-Konferenzen im Bundeskanzleramt und die Protokolle des Corona-Expertenrats gerade nicht durch Recherche großer Medienhäuser an die Öffentlichkeit gekommen, sondern aufgrund des Bemühens einzelner und der Verbreitung in den Social Media.
Die Protokolle des Corona-Expertenrats und der Bund-Länder-Konferenzen wurden vom Frankfurter Arzt Christian Haffner erstritten - auch hier war es kein "Investigativ-Ressort", das sich verdient gemacht hätte.
Der Berliner Tagesspiegel hatte zwar ebenfalls auf Herausgabe der Bund-Länder-Protokolle geklagt, dann aber nicht daraus berichtet. Nachfragen dazu ließ der Tagesspiegel seinerzeit unbeantwortet.
Leitmedien sehen keinen Skandal
Die erste Veröffentlichung von RKI-Protokollen stieß bei den führenden Medien zunächst auf wenig Interesse. Dabei hatte Multipolar mit der Veröffentlichung am 20. März 2024 explizit zur Kooperation aufgerufen:
"Wir laden alle interessierten Journalisten zur Mitrecherche ein."
Der ARD-Faktenfinder befand frühzeitig, die rund 2.000 Seiten seien "weit weniger brisant, als es vor allem in 'Querdenker'-Kreisen behauptet wird". Einen Skandal gebe es nicht. Dabei stützte sich der Faktenfinder allerdings nicht auf eine eigene Auswertung des gesamten, noch teilweise geschwärzten Materials, sondern auf Einschätzungen von Experten.
Auf die Nennung des Mediums, das die Dokumente veröffentlicht hatte, verzichtete der Faktenfinder ebenso wie auf die Nennung des erfolgreichen Klägers, Paul Schreyer.
Die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt fragte einen Tag nach Veröffentlichung sämtlicher RKI-Protokolle in der Süddeutschen Zeitung (SZ): "Und wo ist jetzt der Skandal?"
Viel Zeit, einen möglichen Skandal zu finden, hatte sie nicht.
Leak machte alle Protokolle ungeschwärzt öffentlich
Ende Juli 2024 folgte dann die Veröffentlichung der vollständigen RKI-Protokolle, ungeschwärzt und mit allerhand Begleitmaterial.
Wiederum war es kein großes Medium, das für Transparenz sorgte, sondern die freie Journalistin Aya Velázquez - die "für einen journalistischen Artikel und einen Social Media Post aus dem Jahr 2022" vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Zweieinhalb Wochen später fragte die Tagesschau dann: "Wie unabhängig ist das RKI?". Im Beitrag werden Passagen zitiert, in denen sich RKI-Mitarbeiter über den Einfluss des Bundesgesundheitsministeriums als Fachaufsicht wundern und festhalten:
"Die wissenschaftliche Unabhängigkeit des RKI von der Politik ist insofern eingeschränkt." (Protokoll vom 10. September 2021)
Nebenwirkungen der Pandemie-Politik nicht im Blick
Der Spiegel befand im November 2024 nach Analyse der nunmehr 4.000 Protokollseiten, die "eine Journalistin" ins Netz gestellt habe, der RKI-Krisenstab habe "den Public-Health-Anspruch aus dem Blick verlor", also zu sehr auf das Infektionsgeschehen fokussiert und Kollateralschäden der Maßnahmen vernachlässigt. Aber er bekundete auch:
In den Protokollen findet sich kein Skandal, den manche Maßnahmenkritiker aus ihnen herauslesen; es gibt keine Hinweise darauf, dass das RKI ein willfähriger Gehilfe der Bundesregierung war.
Spiegel 45/2024
Der Vorwurf, es gäbe eine "Pandemie der Ungeimpften", stellte sich als nicht haltbar heraus.
Medienjournalist René Martens hielt trotzdem noch im Januar 2025 die Berichterstattung über die RKI-Files für "hochgejazzt".
Lauterbach übte Einfluss auf RKI aus
Dabei wurden wenigstens einzelne Themen, die jeweils Potential für einen Skandal haben, aus den RKI-Protokollen von Medien aufgegriffen – ohne nennenswerte Erschütterungen des Politikbetriebs.
SZ, NDR und WDR ermittelten – inklusive Christina Berndt – in einer gemeinsamen Recherche Ende November 2024, dass die in den RKI-Protokollen notierte politische Einflussnahme auf die Risikoeinstufung der Pandemie von Minister Karl Lauterbach persönlich kam.
Obwohl dieser zuvor stets politische Einflussnahme auf das RKI bestritten hatte, verteidigte er später genau diese eigene Einflussnahme.
Und Lothar Wieler, während der Corona-Pandemie RKI-Präsident, sagte in einem Podcast der Zeit, er habe unter Gesundheitsminister Lauterbach sehr gelitten.
RKI-Mitarbeiter akzeptierten Lauterbachs Vorgaben
Interessanter Nebenbefund: Gegen die politische Einflussnahme hat nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums kein einziger RKI-Mitarbeiter offiziell protestiert, obwohl Beamte dazu ggf. verpflichtet sind.
Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit dienstlicher Anordnungen haben Beamtinnen und Beamte unverzüglich bei der oder dem unmittelbaren Vorgesetzten geltend zu machen. Wird die Anordnung aufrechterhalten, haben sie sich, wenn ihre Bedenken gegen deren Rechtmäßigkeit fortbestehen, an die nächsthöhere Vorgesetzte oder den nächsthöheren Vorgesetzten zu wenden.
Aus § 63 Bundesbeamtengesetz
Es waren vor allem wieder Blogger und Kleinstmedien, die sich intensiv mit den Protokollen beschäftigten und u.a. eine "Chronologie des politischen Einflusses auf das RKI" erstellten (Medienspiegel bei Aya Velázquez).
Angesichts der Bedeutung, die den Gefahreneinstufungen durch das RKI zukamen, beispielsweise bei gerichtlichen Überprüfungen von Maßnahmen, ein eigentlich nicht zu unterschätzender Vorgang.
Kubicki wertete RKI-Protokolle aus
Doch eine intensivere Beschäftigung mit dem umfangreichen Material gab es in den Leitmedien nicht, weshalb der damalige Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki selbst in die Protokolle geschaut hat und dazu schrieb:
Ich habe es mir nicht so leicht gemacht wie zum Teil hochdotierte und reichhaltig besetzte Redaktionen vor allem von ARD und ZDF.
Wolfgang Kubicki
In Kubickis eigenem, umfangreichem Beitrag werden auch zahlreiche Antworten der Bundesregierung auf seine parlamentarischen Anfragen aufgeführt und in Bezug auf die jeweiligen RKI-Einschätzungen sowie die öffentlichen Verlautbarungen der jeweiligen Zeit gesetzt.
Kubicki hatte das Gesundheitsministerium unter anderem gefragt, warum keine differenzierten Daten veröffentlicht werden, wer an und wer nur mit Corona, aber aufgrund eines anderen Leidens verstorben ist. Noch im November 2022 antwortete das Ministerium, an einer technischen Lösung werde gearbeitet.
Durch die RKI-Leaks wissen wir jetzt: Differenzierte Zahlen lagen dem RKI spätestens seit dem Frühjahr 2022 vor, wurden aber nie der Öffentlichkeit präsentiert. Dem Datensatz vom 23. Februar des Jahres können wir eine Grafik entnehmen, aus der hervorgeht, dass der Anteil der Menschen, die zwar an Covid erkrankt waren, aber an einer anderen Ursache verstorben sind, zum Teil lange vor meinen Fragen bekannt war.
So kann man aus dem Leak erkennen, dass der Anteil der offiziellen Corona-Toten, die lediglich positiv getestet wurden, im Einzelfall über 25 Prozent lag. Somit wurde die offizielle Zahl der Corona-Toten immer höher ausgewiesen, als es richtig gewesen wäre.
Wolfgang Kubicki
Auch die Untauglichkeit des sogenannten Inzidenzwertes für die Einschränkung von Grundrechten, wie sie in der sogenannten "Bundesnotbremse" verankert wurden, ergibt sich für Kubicki aus den RKI-Protokollen.
Nach Kubickis Einschätzung haben die RKI-Protokolle durchaus Brisanz.
Ich muss gestehen: Ich hätte zuvor nicht geglaubt, dass in unserem gewaltengegliederten System ein solcher Vorgang möglich ist. Ein Minister, der offensichtlich eigenständig – gewissermaßen par ordre du mufti – die wissenschaftliche Grundlage für Grundrechtseinschränkungen beschließt, war vorher nicht in meiner Vorstellungswelt.
Wolfgang Kubicki
Warum das geringe Medieninteresse?
Warum haben Medien die geleakten RKI-Protokolle nicht viel intensiver unter die Lupe genommen und eigene Geschichten daraus gemacht?
Aus den Berichten selbst ergibt sich, dass sie eben nicht viel Relevantes gefunden haben - was eine Prüfung der Maßstabsgerechtigkeit fordert.
Denn angesichts dessen, was sonst in Medien skandalisiert wird, ist das kaum tragfähig.
Naheliegender ist rein menschliches Verhalten: Man hätte all die sich aus den RKI-Files ergebenden Fragen längst während der Pandemie stellen und recherchieren können. Doch es gab vor allem in der Anfangsphase ganz überwiegend eine längst auch mit wissenschaftlichen Inhaltsanalysen belegte Regierungstreue im deutschen Journalismus.
Und dass alle für die Aufarbeitung relevanten Protokolle nicht von großen Medien, sondern sogenannten Alternativmedien zutage gefördert wurden, wird die Lust, sich damit eingehender zu beschäftigen und dabei immer wieder auf eigene Versäumnisse stoßen zu können, nicht gerade gefördert haben.
Für diese Interpretation spricht auch, dass Paul Schreyer, der als Erster RKI-Protokolle für alle zur Verfügung gestellt hatte, am 1. August 2024 auf die Frage, ob er "in den letzten Monaten mal eine Einladung zu einer TV-Talkshow (ARD oder ZDF) erhalten" habe, mit einem schlichten "Nein" antwortete.
Auch Aya Velázquez wurde direkt nach ihrer Veröffentlichung der ungeschwärzten und erweiterten RKI-Protokolle von praktisch keinem Medium angefragt. Ausnahmen waren der ORF, Nius und eine Regionalzeitung, wie sie am 5. August 2024 auf Anfrage mitteilte.
Die noch etwas unrühmlichere Interpretation wäre journalistische Arbeitsverweigerung. Die Chefredakteurin der Neue Osnabrücker Zeitung, Louisa Riepe, schrieb am 26. Juli 2024, also drei Tage nach dem Leak, unter der Überschrift "Skandal um RKI-Protokolle? Warum wir bei der Berichterstattung vorsichtig sind":
Angenommen, die Dokumente wären tatsächlich echt: Es bedürfte trotzdem eines immensen Aufwandes, sie zu sichten und sich ein Gesamturteil zu bilden. Louisa Riepe