RKI-Protokolle: "Die Pandemie der Ungeimpften" – eine politische Konstruktion

erlin, 2021, 10. November, Hinweis auf die 2 G Corona-Regel am Eingang zu einer Ausstellung in Berlin

Berlin,10. November 2021, Eingangsort zu einer Ausstellung. Bild: Werner Spremberg /shutterstock.com

Ungeschwärzte RKI-Files: Die Diskrepanz zwischen Wissen der Regierung und der Härte ihrer Maßnahmen wie auch ihrer Kommunikation. Medien und Politik unter Beschuss.

Die Regierung hatte während der Corona-Krise intern einen anderen Wissenstand, als sie vermittelt hat. Das ist der große Vorwurf, dem sich die Verantwortlichen stellen müssen.

Die jüngsten Veröffentlichungen der ungeschwärzten RKI-Files erhöhen die Dringlichkeit der genauen Aufarbeitung dessen, wie das Vorfeld zu den Corona-Maßnahmen aussah: Mit welchem Wissen welche Maßnahmen aufgrund welcher Überlegungen begründet wurden, welche Rolle die Politik dabei spielte. Und Medien.

Samthandschuhe abgestreift

Müßig zu betonen, dass es um keine Kleinigkeit geht, sondern um wesentliche Einschränkungen der Grundrechte ab März 2020 bis April 2023 in einem bis dato unbekannten Ausmaß: Der Staat hatte einen Ausnahmezustand verhängt und die "Samthandschuhe, mit denen er im Normalzustand die Bürger anfasst" abgestreift.

Die eiserne Faust der Exekutive kam zum Vorschein, so der Zeitdiagnostiker Peter Sloterdijk in einem Suhrkamp-Buch, das 2021 erschien.

Das ist etwas, das alle beunruhigen muss, die für Demokratie, sprich für Gewaltenteilung und Grundrechte eintreten.

Beunruhigend war für viele anderes

Die Gewichtung war aber nicht für jeden so eindeutig und einsichtig. Beunruhigend für den größten Teil der Öffentlichkeit und vor allem für die Politik war die Gefahr, die von der Verbreitung des Virus ausging.

Und umso beunruhigender waren für sie die Kritiker und Gegner der Maßnahmen, bzw. die Skeptiker, die grundlegend die Gefahr durch das Coronavirus als geringer einordneten.

Verständige und Unbelehrbare

Man schritt also zur Gegenoffensive. Dem Gefühl der Unsicherheit durch die Virus-Bedrohung noch eine zweite durch die Skeptiker hinzuzufügen, war keine Option. Leitmedien sagen, wo’s lang geht. Auf diese Pädagogik lief das Selbstverständnis hinaus. Mit wenig Frustrationstoleranz gegenüber den Kritikern, die auf andere Prioritäten pochten.

Die Öffentlichkeit wurde in Verständige und Unbelehrbare eingeteilt – wobei auch bei letzteren eine Menge Pädagogik, Angstmacherei und Lehrpläne verteilt wurden. Die Belehrung durch Politiker und großen Medien fiel teilweise drastisch aus, empört und verdammend.

Der Tagesschau fällt ein Kommentar auf die Füße

Das fällt etwa der Tagesschau gerade auf die Füße. Im Debattenforum X, früher Twitter, macht ein Video-Clip-Ausschnitt die Runde, in der eine Kommentatorin vom MDR moralisch unerbittlich mit Impfverweigerern ins Gericht geht.

Sie macht sie nicht nur für die restriktiven Maßnahmen mitverantwortlich, sondern auch für "Tausende von Corona-Opfern". Allerdings steht ihre selbstgewisse Empörung politisch und wissenschaftlich, wie sich herausstellt, auf einem bröckeligen Fundament.

Weiß man das erst im Nachhinein?

Nein, sagen Beobachter und Kritiker. Das hätte man schon früher wissen können, dass die wissenschaftliche Basis für die strengen Maßnahmen nicht so felsenfest ist wie die Verurteilung der Ungeimpften.

Man hätte auf jeden Fall sozial verträglicher mit den Ungeimpften umgehen müssen.

Spahn ruft im November 2021 die "Pandemie der Ungeimpften" aus

Die Diskussion darüber kocht an der Empörung über Jens Spahns Kampagnen-Parole von der "Pandemie der Ungeimpften" hoch. Das unsägliche Label hatte der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn am 3. November 2021 geäußert: "Wir erleben gerade vor allem eine Pandemie der Ungeimpften – und die ist massiv."

Wie die Tagesschau gestern Abend berichtete, war man im RKI nicht einverstanden mit dieser "Wissenschaftskommunikation". Auch Drosten ("Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften. Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften, wir haben eine Pandemie") und Streeck widersprachen Spahn. Die Formulierung sei nicht richtig.

"Aus fachlicher Sicht nicht korrekt"

Die Äußerung dazu aus dem RKI-Protokoll ist in einem sehr vorsichtigen Ton gehalten. Auffallend ist, dass man einer bestimmten Kommunikation nicht schaden wollte:

In einem Dokument vom 5. November (2021, Einf.d. V.) heißt es dabei zum Thema "Wissenschaftskommunikation": "In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei. Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden?"

Tagesschau

Eine klare Botschaft senden

Die Maßnahmen gegen Ungeimpfte waren dagegen eisern. Ungeimpfte waren deklassierte Bürger, wurden durch G2 im Winter 2021 von Besuchen von öffentlichen Begegnungsstätten, Restaurants, Cafés, Kinos, Theater, Schwimmbäder usw. ausgeschlossen, mussten sich eine Menge Beschimpfungen gefallen lassen und waren in ihrem Berufsleben einem großen, erheblichen Zwang ausgesetzt, sich impfen zu lassen.

Von Tobias Hans, CDU, wird die Aussage auf X zitiert: "Dazu glaube ich ist es wichtig, dass man 'ne klare Botschaft sendet den Ungeimpften: Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben."

"Die drei Schlagworte "Pandemie der Ungeimpften" waren Ende 2021 dann so weit verbreitet, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung und dem Großteil der Medien nicht mehr in Frage gestellt wurden", berichtet die Schwäbische.

Es war zum Zeitpunkt der 2G- oder 3G-Maßnahmen aber bereits einiges bekannt, das einer solchen Rede widersprach, argumentieren Kritiker und Beobachter.

So wusste auch das RKI bereits am 5. November: "Man sollte dementsprechend sehr vorsichtig mit der Aussage sein, dass Impfungen vor jeglicher (auch asymptomatischer) Infektion schützen. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand zur Impfung trifft dies immer weniger zu." Umso mehr, als "eine fortlaufende Adaptation des Virus an den Immunselektionsdruck in der Population anzunehmen ist, welche zukünftig ebenfalls die Schutzwirkung der Impfung gegen Infektion herabsetzen könnte“ (Zitate aus Schwäbische).

Bekannt war spätestens durch die Verbreitung der Omikron-Variante bereits, dass die Covid-Impfung zwar geimpfte Personen mit großer Wahrscheinlichkeit vor schweren Verläufen bewahren könne, aber dass dem Eigenschutz kein Fremdschutz gegenübersteht. Geimpfte bleiben ansteckend.

Tagesschau-Faktenfinder: "Kritisch hinterfragen"

Der Tagesschau-Faktenfinder zitiert dazu den Virologen Martin Stürmer: "Insofern stand das 3G-Konzept (geimpft, genesen oder getestet) zu dem Zeitpunkt (November 2021, Anm. d. V.) bereits auf wackeligen Beinen und man muss auch kritisch hinterfragen, ob man es nicht etwas früher hätte beenden müssen."

Die 3G-Regel am Arbeitsplatz wurde aber erst im März 2022 aufgehoben, so der Faktenfinder.

Es gab auch Medien-Artikel, die vergleichsweise früh von wackeligen Grundlagen berichteten. Wie etwa Tim Röhn im März 2022.

Man denke nur an Karl Lauterbachs Aussage im Februar, wonach ohne Maßnahmen 500 Menschen täglich an Corona sterben würden, oder den Irrglauben, mit diskriminatorischen Akten – wie etwa dem Ausschluss von Ungeimpften – ließe sich irgendetwas Positives bewirken. Dass die Impfungen nur einen kleinen Schutz vor Ansteckung bieten – geschenkt, 2G oder 3G wird dennoch nicht eingestampft.

Tim Röhn, Deutschlands postfaktischer Umgang mit Corona

Was wussten die Entscheider? Was war ihre Basis?

Eine Frage zu den jüngsten Veröffentlichungen der RKI-Files führt damit direkt in den brisanten politischen Kern der Debatte: Was musste den Entscheidern bereits bekannt gewesen sein, als die Maßnahmen gegen die Ungeimpften verhängt und die Impfkampagne gefüttert wurden?

Worüber geben die Diskussionen im RKI, die mit der Enthüllung des Whistleblowers veröffentlicht werden, Aufschluss?

Für Gegenargumente derjenigen, die die Formulierung von der "Pandemie der Ungeimpften" zwar für überzogen, die harten, in grundgesetzliche Rechte eingreifenden Maßnahmen dennoch für gerechtfertigt halten, steht das Statement des bereits genannten Virologen Martin Stürmer:

Die Formulierung ist eine vereinfachte Darstellung der Situation, dass sich hauptsächlich Ungeimpfte angesteckt haben und dass es hauptsächlich Ungeimpfte waren, die auch die schweren Verläufe hatten.

Martin Stürmer, Tagesschau-Faktenfinder

Wann kommt die Enquete-Kommission?

Das muss nun genau und sorgfältig überprüft werden. Zum Beispiel durch einen Untersuchungsausschuss im Bundestag. Angekündigt war nach der Europawahl, dass eine Initiative zu einer Enquete-Kommission noch vor der parlamentarischen Sommerpause erfolgen könnte.

Aber dazu gibt es nun keine bestätigenden Nachrichten mehr. Schon im März hielt Christian Drosten eine Aufarbeitung der Corona-Jahre für nötig. Vorangebracht wurde nichts.

Auch die öffentlich-rechtlichen wie auch andere reichweitenstarke Medien könnten über ihre Selbstbeobachtung und Selbstkritik nachdenken. Glaubwürdigkeitsverluste und dass Narrative, die man für bedenklich und gefährlich hält, große Resonanz bekommen, kommen nicht von irgendwoher. Man hat sich weit aus dem Fenster gelehnt, um Kritik moralisch als non grata abzustempeln.

Dass bislang vergleichsweise spärlich über die RKI-Protokolle berichtet wurde – und wenn, dann z.B. über die Kritik des RKI an der Veröffentlichung – ist da ein wenig hoffnungsvolles Zeichen. Gibt es dazu nur so wenig zu berichten und zu diskutieren wie lange Zeit über Nebenwirkungen von Impfungen?

Immerhin muss man sich gegen den Vorwurf allzu großer, unkritischer Nähe zur Regierung wehren.

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