"Rabia – Der verlorene Traum": Frauen im ISIS-Gefängnis
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Konkubinen für die Märtyrer: Der provokante Film von Mareike Engelhardt zeigt die Verstrickung von Frauen in die Terrormaschine der IS-Dschihadisten in Syrien.
Eines Tages brechen die 19-jährige Jessica und ihre Freundin Laïla auf, weg von allem, was sie bisher gelebt haben. Jessicas Leben war bislang trostlos: Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie als Pflegerin von inkontinenten Senioren, zu Hause gibt es noch einen gleichgültigen Vater.
Unzufrieden mit ihrem Alltag in Frankreich, wo sie in ihren Augen "nicht respektiert" werden, angelockt von dem Versprechen eines besseren, anderen Lebens.
Sie sind dabei ohne Frage ganz schön naiv in Bezug auf die Zukunft, die ihnen angeblich bevorsteht, und die Gefahren, die ihnen drohen. So vertrauen sie auf die zwei Ehemänner, die sie im Internet kennengelernt haben.
Sie träumen von einer glänzenden Zukunft an deren Seite. Denn sie sehen die Chance, alles hinter sich zu lassen, weil es nicht schlimmer werden könnte als ihr aktuelles Leben – ein schrecklicher Irrtum.
"Ehefrauenunterkunft" mit eiserner Hand
Sie glauben auch an die sogenannten "islamischen Werte", die hier immer mit im Spiel sind. So machen sie sich im Jahr 2014 auf nach Syrien.
Die Zurückhaltung der Regisseurin Mareike Engelhardt gegenüber den konkreten religiösen Hintergründen ihrer Geschichte schadet dem Film gelegentlich, wenn er sich auf stereotype Annahmen stützt.
Aber das gelobte Land ist nicht das, was man erwartet – und vor Ort zerbrechen ihre Träume recht bald, schon ein wenig, als sie an den ersten Tagen ihres neuen Lebens im Kalifat im syrischen Raqqa in der "Ehefrauenunterkunft" ankommen, die von einer schaurig-schillernden "Madame" mit eiserner Hand geführt wird.
Hier sollen sie erst einmal dressiert und für ein Leben gehirngewaschen werden, in dem sie entweder als gehorsame Frau an der Seite eines fanatischen Dschihadisten oder selbst als potenzielle Märtyrerin ihren Platz haben. Denn tatsächlich sind die beiden unbedarften Mädchen in den Fängen der ISIS gelandet, der Terrorgruppe des "Islamischen Staats".
Die Realität in den von der Terrormiliz ISIS kontrollierten Frauenhäusern
Obwohl das von der Regisseurin Mareike Engelhardt gewählte Thema auf den ersten Blick nicht mehr besonders originell ist, besticht ihr Ansatz durch seine Neuartigkeit: Die Kamera gewährt einen direkten Einblick in die von der Terrormiliz ISIS kontrollierten Frauenhäuser.
Die Realität vor Ort unterscheidet sich oft auch von unseren westlichen Vorurteilen. So etwa müssen sich die zukünftigen Ehefrauen zwar an strenge Regeln halten, sie probieren aber gleichzeitig verführerische Dessous aus, um ihren Männern zu gefallen. Ihr anfänglich sorgloses und naives Verhalten im Film steht bald in krassem Gegensatz zu der düsteren Umgebung, in der sie gefangen sind.
Die Regisseurin filmt diese Realität gemeinsam mit ihrer Kamerafrau Agnès Godard, der langjährigen DOP (Directeur de la Photographie, Erklärung hier) von Claire Denis und Ursula Meier. Sie betont die nüchterne Bildsprache, eine schlichte und intime Herangehensweise an die moralischen Grauzonen, durch die Jessica navigiert, um ihr eigenes Überleben zu sichern.
Obwohl das Fehlen von narrativen Nuancen den Film gelegentlich melodramatisch macht, ist "Rabia" darin kühn, mit der Kamera die Körper der Frauen einzufangen und bei alltäglichen Szenen wie den täglichen Pflichten oder der Körperpflege zu verweilen.
Die Kameraarbeit ist präzise und die Bildgestaltung äußerst sorgfältig, um die Figuren so nah wie möglich zu begleiten und deren Umgebung realistisch darzustellen.
Für Schlöndorff und Polanski
Mareike Engelhardt hat eine sehr ungewöhnliche Karriere hinter sich. Sie ist Deutsche und wurde in Berlin geboren. Doch von Anfang an richtete sie sich – im Gegensatz zur breiten Mehrheit ihrer deutschen, oft sehr provinziell orientierten Kollegen – international aus, und weitete ihren Horizont nach dem Studium der Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Psychologie in Berlin, London und Paris, auch filmisch unbefangen und ohne Vorurteile ins Kosmopolitische.
So arbeitete sie nach ersten Kurzfilmen als Regieassistentin, unter anderem für Volker Schlöndorff und für Roman Polanski. Sie studierte Drehbuch an der französischen Filmschule "La Fémis", wo sie auch ihren ersten Spielfilm entwickelte, den sie mit internationalen Darstellern drehte.
"Rabia" ist darum trotz der Regisseurin weniger ein deutscher als ein französisch-britischer Spielfilm – sein Thema, der politisch-religiöse Fundamentalismus und die Verstrickung von Frauen in die Terrormaschine, ist universal.
Dem Film voraus gingen mehrere Jahre intensiver Arbeit und persönliche Begegnungen mit Frauen, die aus Raqqa zurückgekehrt sind und deren Erlebnisse und Erfahrungen die Regisseurin gesammelt hat und in ihr Drehbuch einfließen ließ.
Persönlichkeitsumcodierung und Entmenschlichung
Nach und nach verlieren die Frauen alles, was sie einst zu freien Menschen machte: Zuerst ihre persönlichen Besitztümer – insbesondere ihre Bücher und Telefone, die sie mit Wissen und der Außenwelt verbanden – dann ihre westliche Kleidung, die durch lange, den Körper fast vollständig verhüllende Gewänder ersetzt wird, und schließlich ihren eigenen Willen.
Jessica wird nach ihrer Ankunft im Kalifat in "Rabia" umbenannt. Die "Madame" überwacht diesen Prozess der Persönlichkeitsumcodierung und Entmenschlichung mit eiserner Autorität, durch die sie zu fügsamen Ehefrauen oder zukünftigen Predigerinnen geformt werden sollen.
Die Regisseurin spiegelt in ihrer Inszenierung dieses zunehmende Gefühl von Gefangenschaft: Enge, dunkle und heruntergekommene Räume, sparsam eingesetzte Musik oder bedrückende Soundkulisse verstärken das Gefühl eines erdrückenden Alltags.
Das Ergebnis im Kino ist ein hartes und beklemmendes Kammerspiel aus Sehnsucht und Psychoterror. "Rabia" ist eine facettenreiche Reflexion über die Macht des Wortes und über Mechanismen von Manipulation und Indoktrination.
Ambivalenz und latente Perversion
Megan Northam spielt mit viel Können die junge, blauäugige Westlerin, die im Zentrum steht und durch das rigide System des Frauenhauses langsam geformt und entmenschlicht wird. Die franco-belgische Lubna Azabal ist in ihrer Rolle als strenge, gleichzeitig sanfte und immer charismatische Leiterin des Hauses, die nur als Madame bekannt ist, erschreckend überzeugend.
Die Beziehung zwischen den beiden Frauen ist besonders faszinierend in ihrer Ambivalenz und latenten Perversion. Diese Figur ist besonders interessant. Wegen ihrer inneren Überzeugung, der jeder Zynismus fernzustehen scheint.
Das Einzige, was wir von ihr erfahren, ist, dass sie zuvor Rechtswissenschaften an der Sorbonne studiert hatte. Sie ist aber auch auf Nachfragen hin nicht bereit, vollständig zu offenbaren, was genau sie nach Syrien geführt hat.
Nur über die anderen Frauen hat Madame eine klare Meinung: "Wenn sie hierherkommen, dann deshalb, weil ihnen etwas Fundamentales fehlt."
Konkubinen für die Märtyrer
Eines der offenen Geheimnisse nicht nur dieses Films, sondern der ihm zugrundeliegenden Wirklichkeit ist, dass es ein Programm gibt, das junge Frauen unter falschen Versprechen und unter Missbrauch des Islam in den Nahen Osten bringt, um sie den Männern, die für die extremistischen Überzeugungen kämpften, als Konkubinen zuzuführen.
Obwohl den Märtyrern Sex-Belohnungen – 40 Jungfrauen – fürs Jenseits versprochen wurden, möchte man auch schon auf Erden davon kosten.
Frauen im Alltag einer Terrorsekte
Damit erzählt dieser provokante Film auch von Dingen und Prozessen, die weit über eine Innenansicht islamistischen Terrors hinausgehen. Es geht um jede Form von politisch-kulturellem Fundamentalismus.
So wie die ISIS strukturell und in ihrem sozialen Alltag eine Terrorsekte ist, sind auch extremistische Parteien strukturell Politsekten.
Diese Sekten sind eben nicht, wie es das schlichte Vorurteil will, nur einfach "patriarchal". Sie sind auch "matriarchal", brauchen die Unterstützung oder Duldung und die Menschlichkeit, die Wärme der älteren, "mütterlichen" Frauen neben dem Fanatismus der jungen Fundamentalistinnen.
Nur so lässt sich das System aufrechterhalten: Indem ältere, "starke" Frauen anderen Frauen mit Verachtung begegnen und zur totalen Unterwerfung bringen.