Rammstein: Till Lindemann und die "Selber-schuld"-Fraktion
Manche Fans und Fürsprecher reagieren auf die Vorwürfe frauenfeindlicher als die Angeschuldigten selbst. Tenor: Betreten des Backstage-Bereichs auf eigene Gefahr. Was daran falsch ist.
"Sie haben ein Recht auf ihre Sicht der Dinge", hieß es vor wenigen Tagen in einer Stellungnahme der Band Rammstein über die jungen Frauen, die Anschuldigungen gegen den Leadsänger Till Lindemann erheben. Niemand soll demnach vorverurteilt werden – weder Rammstein noch die jungen Frauen, die Lindemann sexuelle Übergriffigkeit vorwerfen.
In der Band muss es eine ernste Diskussion unter Männern gegeben haben, die wahrscheinlich jede Feministin gern belauscht hätte – und sie geht vermutlich noch weiter.
Nun gibt es in "sozialen Netzwerken" und Foren reihenweise Kommentare von Fans und Laienverteidigern Lindemanns, die eigentlich gern "Alles Lüge" geschrien hätten. Da dies die Band selbst nicht tut, betonen sie, dass deren "Groupies" schließlich genau wüssten, was sie im Backstage-Bereich erwarte – und schließlich auch genau das wollten.
Abgesehen davon, dass schon die Bezeichnung "Groupies" fragwürdig ist, weil sich die jungen Frauen gemäß ihrer Schilderung gar nicht aktiv darum bemüht haben, in engeren Kontakt mit Lindemann oder seinen Bandkollegen zu kommen, hätten auch Frauen, die das getan und dabei Sex in Betracht gezogen haben, noch ein Recht auf einen Rückzieher, wenn die Chemie aus der Nähe dann doch nicht stimmt.
Dieses Recht haben schließlich auch Menschen, die sich auf ein Tinder-Date unter Normalsterblichen einlassen, obwohl die Motivation dafür in der Regel kurz- oder langfristige Partnersuche ist. In sexuell motivierten Kontaktanzeigen heißt es oft "Alles kann, nichts muss." Warum sollte das bei Treffen mit Promis nicht gelten? Etwas anderes als selbstverständlich vorauszusetzen, wäre tatsächlich Machtmissbrauch.
Die Motivation, einen Künstler kennenzulernen, dessen Band von Menschen verschiedenen Geschlechts und Alters geschätzt wird, muss nicht automatisch sexuell sein. Und auch wenn sie es teilweise ist, sind Promis keine Halbgötter, die aus der Nähe nicht enttäuschen können.
Das geschilderte "Rekrutierungssystem", mit dem junge Frauen für Lindemann ausgesucht worden sein sollen, könnte gerade ja auf solche ernüchternd und abstoßend gewirkt haben, die aus der Ferne von ihm fasziniert waren.
Einvernehmlichkeit setzt klare Kommunikation voraus
Die Band Rammstein hat sich inzwischen von ihrer selbsternannten "Casting-Direktorin" Alena Makeeva getrennt. Sie soll auf den Konzerten eine Vorauswahl junger Frauen nach Lindemanns Geschmack in den abgetrennten "Row Zero"-Bereich vor der Bühne, in den Backstage-Bereich und zu After-Show-Partys eingeladen haben – wohl in einigen Fällen, ohne klar zu kommunizieren, was von ihnen erwartet werde.
Die Frage ist, welchen Auftrag sie genau von Lindemann hatte, was sie für ihn "klarmachen" sollte oder auch nicht – und ob sie vorgegeben hat, etwas geklärt zu haben, was ganz und gar nicht geklärt war. Auch für diese Frau gilt natürlich erst mal die Unschuldsvermutung.
Manche der Auserwählten fühlten sich aber nach eigener Schilderung überrumpelt und unter Druck gesetzt, mit Lindemann Sex zu haben, Shelby Lynn, die den Stein ins Rollen brachte, sagt, er sei wütend geworden, als sie nicht wollte – eine Vergewaltigung wirft sie ihm nicht vor, aber sie äußert den Verdacht, ihr sei am Rande eines Rammstein-Konzerts in Vilnius etwas in die Drinks gemischt worden.
Und hier würde es strafrechtlich relevant. Ein "Nur ja heißt ja"-Gesetz gibt es in Deutschland nicht; aber wenn eine Frau gar nicht zustimmen oder ablehnen kann, weil sie betäubt oder unter Drogen gesetzt wurde, wird es kriminell.
An die Herkunft von Hämatomen an ihrem Körper kann sich Lynn nicht erinnern. Sie sagt nicht, dass sie von Lindemann stammen. Doch manche Laienverteidiger bei Facebook und Co. meinen vorsorglich, Lindemann hätte auch in diesem Fall ausreichend Warnschilder aufgestellt: Sie verweisen darauf, es sei doch aus Liedern und Gedichten bekannt, dass er nicht auf "Blümchensex" stehe. Insofern wäre sie ja auch irgendwie selbst schuld, wenn es Lindemann gewesen wäre.
Das "lyrische Ich" ist kein Haftungsausschluss
Der Verlag, der besagte Gedichte herausgebracht und sich vor wenigen Tagen von Lindemann getrennt hat, wollte zuvor das "lyrische Ich" von der realen Person getrennt wissen – angeblich bis dato ohne Kenntnis eines nicht ganz neuen Pornovideos mit Lindemann.
Dessen "lyrisches Ich" schien jedenfalls wohlwollend betrachtet eher auf BDSM-Sex zu stehen – aber gerade in der BDSM-Szene ist vieles abgesprochen, das auf den ersten Blick spontan und nach gemeiner Willkür aussieht. Das unterscheidet verantwortungsbewusste Menschen mit entsprechender Neigung von Sexualstraftätern. Klare Kommunikation vorab und "Safewords" sind dort wichtig, um individuelle Grenzen festzulegen, wo "normale" Grenzen beiderseitig als zu eng empfunden werden.
Wenn in Liedern und Gedichten mit BDSM-Bezug solche Absprachen nicht vorkommen, heißt das noch lange nicht, dass sie von einem Sexualstraftäter verfasst wurden. Es ist aber eben auch kein Haftungsausschluss im Sinne von: "So, jetzt wisst ihr, wie ich drauf bin. Betreten des Backstage-Bereichs auf eigene Gefahr!"
Wie sollten unerfahrene junge Frauen es besser wissen, wenn in der Literaturszene sogar Vergewaltigungsfantasien, bei denen Betäubungsmittel eine Rolle spielten, als künstlerische Freiheit eines "lyrischen Ichs" durchgingen? Das Lindemann-Gedicht "Wenn Du schläfst" klang jedenfalls nicht mehr nach einem einvernehmlichen Rollenspiel.
Wer meint, er müsse sich nur als jemand outen, der nicht auf Blümchensex steht, und hätte dann bei allen, die ihm trotzdem nahe kommen, völlig freie Bahn, ist auf dem Holzweg. Ob Lindemann das gedacht oder sich weitgehend gedankenlos verhalten hat, ist unklar.
Wer aber für ihn die Unschuldsvermutung gelten lässt und zugleich die Vorwürfe der Frauen mit "Selber schuld" abtut, stellt damit ein größeres Warnschild vor sich selbst auf als Lindemann mit seinen Gedichten.
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