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Rammstein und Till Lindemann: Die Stunde der Trittbrettfahrer

Harald Neuber

Von einer Rammstein-Fanseite in Israel. Bild: @RammsteinIsrael, Facebook

Vorwürfe gegen Band und Frontmann harren Aufklärung. Medien und Politiker preschen vor. Wie die Debatte im Backstage beginnt und beim Holocaust endet. Ein Telepolis-Leitartikel.

Es ist still geworden um die Band Rammstein und ihren Frontmann Till Lindemann [1]. Was nicht heißt, dass sich die Affäre nicht weiterdreht, und zwar in keine gute Richtung.

Denn gut wäre, die teilweise offenbar misogyne, weil frauengefährdende Kultur im Eventbereich mit dem Ziel zu diskutieren, strukturell etwas zu ändern, um Sicherheit für weibliche Fans zu erreichen.

Gut wäre, zu hinterfragen, wie es zu mutmaßlichen Übergriffen im Backstagebereich der Rammstein-Konzerte kommen konnte, wenn doch offensichtlich ist, dass diese Geschehnisse nur Teil einer generell sexualisierten und auf männliche Machtstrukturen ausgerichteten Szene ist, die mit der sexuellen Befreiung von Frauen als Groupies im klassischen Sinne kaum mehr etwas gemein hat [2].

Stattdessen aber beherrschen Skandalisierung, Individualisierung und Aktionismus die Debatte. Ich habe an die Stelle schon früher darauf verwiesen [3], dass – ungeachtet der Schuldfrage, die zum jetzigen Zeitpunkt immer noch niemand zweifelsfrei bewerten kann – rechtsstaatliche Grundsätze zu zerrieben werden drohen [4].

In Konsequenz wird einzig die Polarisierung verstärkt. Die einen sahen und sehen in Till Lindemann einen Täter und in seinem Umfeld Mittäter. Die anderen sehen ihn als Opfer einer Kampagne.

Die nach wie vor ausverkauften Rammstein-Konzerte liefern zumindest ein Indiz dafür, dass die zweite Gruppe, also diejenigen, denen die Massivität der Vorverurteilung Unbehagen bereitet, zumindest nicht in der Minderheit ist; ebenso übrigens wie die Tatsache, dass sechs der acht Rammstein-Alben gerade wieder in die Top 100 der offiziellen deutschen Album-Charts aufgestiegen sind.

Als große Frage stellt sich also neben den erwartbaren Negativeffekten für den Rechtsstaat: Ist den Mädchen und Frauen mit dieser Skandalisierung, die von medialer wie politischer Seite – und dies allem Anschein nach nicht immer mit hehren Zielen – forciert wird, wirklich geholfen?

Denn welche Rolle spielt eigentlich das Empowerment junger Frauen, also grosso modo die Befähigung, sich zu wehren und übergriffigen Männern, vor oder hinter der Bühne, zugekokst oder nicht, einfach auch mal in die Eier zu treten?

Kaum eine, leider. Stattdessen bauschen die Medien den Skandal auf, und die Politiker inszenieren sich – was antiemanzipatorischer ist, als es auf den ersten Blick scheint – als Beschützer vermeintlich wehrloser und daher beschützenwerter Frauen.

Diese weitgehend unwidersprochene Tendenz treibt bizarre Blüten. Man mag etwa fragen, ob es dem Charme eines Rock’n’Roll-Konzerts zuträglich ist, wenn man (und frau) unter den moralisch-strengen Blicken der in Signalwesten gekleideten städtischen Awareness-Teams feiern muss.

Mit Juden zu Frauen und gegen Rammstein

Geht es nach dem Juristen und Absolventen der Diplomatenschule des Auswärtigen Amtes, Felix Klein, der laut StudiVZ-gleicher Selbstbeschreibung [5] "oft Konzerte und Theateraufführungen" besucht und "gerne wandert und Rad fährt", soll es so weit gar nicht erst kommen.

Klein nämlich hat ein Verbot von Rammstein-Konzerten ins Spiel gebracht, und zwar – Achtung! – "unabhängig davon, ob sich die Vorwürfe gegen Till Lindemann bewahrheiten".

Das muss man erst einmal sacken lassen. Zumal der Bundesbeamte Klein diese demokratie- und kulturfeindliche Intervention mit dem Argument rechtfertigt, die betroffenen Frauen ernst zu nehmen, was er aber gerade nicht tut, weil er ihre Situation nur ausnutzt, um sich selbst in die Schlagzeilen zu bringen.

Und haben Jüdinnen und Juden, die er als Repräsentant des Täterstaates zu schützen vorgibt, diese Position schon jemals in signifikanter Weise vertreten? War es nicht vielmehr so, dass noch Anfang 2022 tausende israelische Fans in der ausverkauften Toto Hall bei Tel Aviv begeistert Rammstein-Texte mitgegrölt haben?

Oder haben vielleicht Frauen, die Vorwürfe gegen Lindemann erheben, ein Verbot von Rammstein-Konzerten gefordert? Man weiß es nicht und Klein erklärt es auch nicht. So dient seine Wortmeldung bislang nur als besonders krasses Beispiel dafür, auf welch perfide Weise Vertreter der politischen Sphäre offenbar missbräuchlich versuchen, eigenen PR-Profit aus der Sache zu ziehen, mitunter sogar unter rhetorischen Rückgriff auf den Holocaust.

Schließlich ist eine Nuance in den bisherigen Reaktionen viel zu wenig wahrgenommen worden: Denn obwohl der Verlag Kiepenhauer & Witsch seinen Autor Lindemann nach Bekanntwerden der Vorwürfe sofort feuerte und noch am selben Freitagnachmittag rückstandslos von der Homepage tilgte, hatte der kurz "Kiwi" genannte Verleger jahrelang mit den Vergewaltigungsphantasie-Gedichten des Angeklagten Reibach gemacht. Ist vielleicht ein Teil dieses Gewinns in Empowerment-Programme für Mädchen geflossen? In den wortreichen und verquasten Kiwi-Erklärungen ist davon jedenfalls nichts zu lesen.

Der Musikkonzern Universal war da schon professioneller. Nach Bekanntwerden der Vorwürfe stellte der Kulturkonzern die Vermarktung und Promotion der Alben der Band bis auf weiteres ein. "Wir sind davon überzeugt, dass eine lückenlose Aufklärung der Vorwürfe, auch durch die Behörden, absolut notwendig ist", hieß es zur Begründung.

Universal ist damit vorerst eine schwierige Gratwanderung gelungen: maßvolle Konsequenzen zu ziehen, ohne dem moralisierenden Druck einer Vorverurteilung nachzugeben, Lindemann und die Band zur Aufklärung zu drängen und gleichzeitig auf einer rechtsstaatlichen Aufarbeitung der Affäre zu bestehen.

Ob das richtig war, wird sich zeigen und kann dann entsprechend korrigiert werden. Ehrlicher als die Reaktionen aller Kiwis und Kleins zusammen ist es allemal.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9193061

Links in diesem Artikel:
[1] https://telepolis.de/-9187947
[2] https://www.telepolis.de/features/Rammstein-Till-Lindemann-und-Deutschland-Von-boesen-Maennern-und-guten-Maedchen-9183848.html
[3] https://telepolis.de/-9164598
[4] https://telepolis.de/-9184500
[5] https://www.antisemitismusbeauftragter.de/Webs/BAS/DE/beauftragter/amt-und-person/lebenslauf/lebenslauf-node.html