Rasender Verkehrsstillstand
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Parksuchverkehr und ruhender Verkehr sind die Kippmomente der autogerechten Stadt. Wo nichts mehr geht, bilden sich neue Kommunikationsräume
Ein wunderlicher Haufen junger Menschen zog 1993 durch die Straßen Kassels. Jeder von ihnen trug eine Windschutzscheibe vor sich her. Es waren Studentinnen und Studenten des illustren Lucius Burckhardt, der die Spaziergangsforschung an der Universität etabliert hatte. In seinem Seminar ging es um "Wahrnehmung und Verkehr".
Wer im Verkehr unterwegs ist, was nimmt der wahr? Und wie wird er wahrgenommen? Indem die Studierenden die Perspektive von Autofahrer:innen einnehmen, werden sie sich der Einschränkung der Wahrnehmung bewusst. Wer sich schnell fortbewegt, hat keinen Blick für die Stadt. Ein Perspektivenwechsel lenkt zugleich den Blick zurück auf eine Karawane aus Blech und Glas, die die Stadt kaputtmöbliert und in der jeder1 nur mit sich selbst beschäftigt ist. Der Blick des Fahrers oder der Fahrerin ist stur in Erwartung von allzu vielen Gefahrenmomenten.
Die studentische Übung hat jedoch auch eine auf die entschleunigte Zukunft gerichtete Perspektive: Der Stadtraum soll ohne Automobil erfahrbar gemacht werden. Dass es so weit kommt, dafür könnte das Auto selbst sorgen. Das ist das Expansions-Paradox. So benötigt der fließende Verkehr in Berlin zweiundzwanzig mal mehr Verkehrsfläche als Fahrräder in Anspruch nehmen.2 Noch extremer wird es bei Einbezug des ruhenden Verkehrs. Rien ne va plus.
Die Frage, wo bei der Verkehrswende anzusetzen ist, beantwortet sich von selbst. Durch die Überfüllung des ruhenden Verkehrs blockiert sich die autogerechte Stadt bis zum Leerlauf im Parksuchverkehr. Die automobile Verkehrsentwicklung stößt an räumliche Grenzen. Die Optimierung des Parkraums, die heute in unzähligen Studien durchdekliniert wird, läuft der Malaise hinterher. Fortlaufend nimmt der Parkdruck zu. Er wird dadurch bezeichnet, dass die Nachfrage nach Parkplätzen das Angebot übersteigt. Der Zuwachs an Pkw zwischen 2011 und 2021 betrug 6 Millionen. Geht, als wäre es ein dialektischer Prozess, der Autoverkehr durch eine eigene Logik an sich selbst zugrunde?
Die Firmen Bosch und Mercedes haben sich zusammengetan, um einen vollautomatisierten, führerlosen Einparkservice zu entwickeln, der erst einmal im Parkhaus erprobt wird. Die Wagen fahren per Smartphone-Befehl zu einem festgelegten Stellplatz. Der Verantwortliche von Bosch sagt: "Wir wollen das Parken zum vollautomatisierten Parkerlebnis machen." Der Funktionär von Mercedes geht noch höher in der Tonlage: "Nicht nur das Fahren, sondern selbst das Parken wird zum Luxus."
Den suchenden und ruhenden Autoverkehr durch Digitalisierung der Parkraumbewirtschaftung zu verdichten, ist allenfalls palliativ. Es löst nicht das Raumproblem, sondern wirft neue Probleme auf. Ein Vorschlag ist, für das Straßenparken Sensoren in den Boden einzulassen, um Parklücken punktgenau ausfindig zu machen. Dieses überambitionierte Unterfangen dürfte in der Fläche scheitern sowie daran, dass die verschiedenen Betreiber mit verschiedenen Apps arbeiten und untereinander nicht vernetzt sind. Auch die Kommunen wären trotz Aussicht auf Gebühren überfordert.
Kaum praktikabler sind Vorschläge, Kfz-Eigentümer:innen, die trotz Stellplatz auf ihrem Privatgrundstück aus Bequemlichkeit oder wegen Zweckentfremdung ihrer Garage (Geräteschuppen usw. )auf der Straße parken, zur Einkehr ihres Wagens in das Grundstück zu zwingen. Verkannt werden hierbei die sozialen Diskrepanzen. So oder so herrscht auf den Straßen von Villenvierteln nachts vornehme Leere, während vor die Fassade eines Berliner Mietshauses im Geschosswohnungsbau gerade mal fünf Pkw für zehn bis zwanzig Mietparteien passen, Hinterhäuser nicht mitgerechnet.
Die Deutschen wendeten in 2017 pro Autofahrer:in durchschnittlich 41 Stunden für die innerstädtische Parkplatzsuche auf.3 Ökologische Folgekosten wie Abgasbelastung eingerechnet, ergibt sich ein Gegenwert von 896 € pro Pkw-Fahrer:in. Jede vierte Fahrt ist als Parksuchverkehr einzustufen, nach anderen Berechnungen sogar 30-40 Prozent. Bis zu 5 Minuten dauerte die Parkplatzsuche für 38 Prozent aller Pkw-Fahrer:innen, 15 Prozent suchten bis zu 10 Minuten. Jeder Zehnte brauchte länger. Und das, obwohl der Pkw durchschnittlich 23 Stunden am Tag still steht. Mancher, der einen günstigen Parkplatz ergattert hat, zögert aus lauter Begeisterung den Stillstand seines Wagens hinaus. Das Kraftfahrzeug wird zum "Stehzeug".
Der Verschwendung zurückgelegter Kilometer im Parksuchverkehr ist geschuldet, dass die Verkehrssituation sich bei Annäherung an den Zielpunkt der Fahrt nicht entspannt, sondern dass aus dem Blickwinkel jedes Fahrers4 die Verkehrsdichte zunimmt. Die Dichte ist ein Faktor für Stress. Und wer hat nicht schon gesehen, wie um einen freien Parkplatz Streit ausbricht? Stress und Streit sind eine der markantesten sozialräumlichen Erfahrungen der autogerechten Stadt.
An einer Frankfurter Hochschule wird eine App erprobt, welche die Parksuchzeit per Tracking erfasst und zur reinen Reisezeit hinzuaddiert. Darauf soll sich ein Prognosemodell stützen. Das Projekt rückt einen Zeitfaktor ins Bewusstsein, der bisher ignoriert wurde und gleichsam zum Manipulationsarsenal der Autobauer gehört. Es weist darüber hinaus auf eine fortschreitende Verschlechterung der Zeitbilanz des Pkw-Fahrens gegenüber dem Fahrrad hin.
Die Mobilitätswende verdient nur dann ihren Namen, wenn sie mit einer Flächenwende einhergeht. Die Städte sind weit entfernt von einer Flächengerechtigkeit, wenn etwa in Berlin 48 km2 für Kraftfahrzeuge zur Verfügung stehen, 8 km2 für Schienenfahrzeuge und 5 km2 für Fahrräder. Da Räder sowohl im fließenden als auch im ruhenden Verkehr die geringste Fläche beanspruchen, ist auf der Habenseite ein großzügiges Raumreservoir für urbane Umtriebigkeit zur verbuchen. Das urbane Leben kann je nach Dichte oder Distanz der Teilnehmer pulsieren. Es ist nicht einfach verstopft. Auf einen Pkw-Stellplatz passen zehn Fahrräder.