Ratzingers Angst vor der Kirche der Armen

Seite 5: "San Romero de América" und die Kirche von oben

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Vergeblich hatte der Vatikan Anfang 1979 die Universität Georgetown in Washington gebeten, von einer Verleihung der Ehrendoktorwürde an Romero Abstand zu nehmen. Im März 1980, so berichtet John L. Allen, entschieden sich die drei Kurienkardinäle Silvio Odino, Franjo Seper und Sebastiano Baggio dafür, dem Papst eine Amtsenthebung des Erzbischofs von San Salvador zu empfehlen. Diese Entscheidung kam nicht mehr zur Ausführung, denn wenige Tage später wurde Oscar Romero am Altar erschossen. Er selbst und seine Mitarbeiterschaft lebten schon lange in der Erwartung eines Attentats. An der Trauerfeier nahmen mehrere hunderttausend oder gar eine Million Menschen teil. 40 Teilnehmende wurden allein an diesem Tag von Waffenträgern des Regimes ermordet.

Sehr bald verehrten Christen in Lateinamerika und auf der ganzen Welt den Bischof als einen Heiligen, der mit Waffen nicht getötet werden kann: "San Romero de América". An seinem Grab in der unteren Kathedrale versammelt sich bis heute eine "Kirche von unten", während oben am Altar als übernächster Nachfolger von Romero der von Rom eingesetzte Opus-Dei-Bischof Fernando Saénz Lacalle seine Messe zelebriert.

1988 maßregelte Kardinal Ratzinger den brasilianischen Dichter und Bischof Pedro Casaldáliga auch deshalb, weil dieser Romero öffentlich als "Märtyrer" bezeichnet hatte. Dass die Amtskirche 1990 selbst ein so genanntes Seligsprechungsverfahren eröffnet hat, wirft viele Frage auf: Will man das Andenken Romeros zähmen und das, was die Befreiungstheologen "politische Heiligkeit" nennen, unterschlagen? Wird man andere Kriterien anwenden als bei dem 1984 ermordeten polnischen Priester Jerzy Popieluszko, für den seit 1997 ein Seligsprechungsprozess läuft? Warum hat nicht schon Johannes Paul II., dem die Kirche eine wahre Inflation an Kanonisierungen verdankt, der Christenheit offiziell einen "San Romero" geschenkt? Wird es angesichts des politischen Aufbruchs in Lateinamerika, bei dem sich Identifikationsfiguren wie der venezolanische Staatspräsident Hugo Chávez ausdrücklich auch auf die Befreiungstheologie berufen, überhaupt zu einer Kanonisierung Romeros durch Rom kommen?

Der Zeitraum nach dem Todesdatum wäre auch für eine Heiligsprechung keineswegs zu kurz. Josémaria Escriva de Balaguer, Gründer des im Franco-Faschismus aufgeblühten rechten Netzwerks "Opus Dei", wurde nur 17 Jahre nach seinem Tod für selig und 27 Jahre nach seinem Tod für heilig erklärt. Seine weltweite Jüngerschaft stellt seit Jahrzehnten die militantesten Gegner der Befreiungstheologie. Demnächst wird auch das Kino für diese Gestalt werben.

Doch ist eine "amtliche" Heiligsprechung Romeros aus Sicht der "Kirche von unten" noch nötig oder überhaupt wünschenswert? Rom hat den Erzbischof von San Salvador vor seiner Ermordung nachweislich im Stich gelassen und sogar gedemütigt. Zur Rechtfertigung für ihre Christenverfolgung beriefen sich Faschisten in Lateinamerika gerne auf die Amtskirche. Als Joseph Ratzinger 1984 sein scharfes Dokument zur Befreiungstheologie veröffentlicht hatte, meinte der Dominikanertheologe Edward Schillebeeckx: "Die Diktatoren Lateinamerikas werden [die Anweisung] mit Freuden aufnehmen, denn sie wird ihren Zwecken dienen." 1985 deklarierte ein Prälatenkreis um Lopez Trujillo bei einem Treffen in Chile die Befreiungstheologie als "marxistischen Verkehrung" des Glaubens. Pinochets Staatsfernsehen berichtete ausführlich darüber, und das Militär rechtfertigte unter Berufung auf die besagte Diagnose die Verhaftung des progressiven Paters Renato Hevia.

Die Geschichte des römischen Feldzuges gegen die Befreiungstheologie, die der Ratzinger-Biograph John L. Allen zusammenfasst, ist ein dunkles Kapitel aus kirchenpolitischen Strategien, Verleumdungen und Personal-"Säuberungen", die sogar vor einem weltweit geachteten Bischof wie Dom Helder Camara nicht haltmachen sollten. Der polnische Papst Johannes Paul II. konnte immerhin auf eigene Erfahrungen von Kirchenverfolgung zurückgreifen. Er war in der Sache widersprüchlich. Einerseits wiederholte er mehrfach seinen pauschalen Marxismus-Verdacht. Andererseits griff er die Anliegen der Befreiungstheologen und sogar ihre Rede von der "strukturellen Sünde" auf. Mit Blick auf den von wirtschaftlichen Machtzentren gesteuerten "Neoliberalismus" sparte er nicht an Kapitalismuskritik. Bei seinem Niederknien am Grab Romeros hat er vielleicht sogar Bedauern empfunden über sein schroffes Verhalten beim Bittbesuch des salvadorianischen Erzbischofs Anfang 1979.

Joseph Ratzinger, zeitlebens ein vom Schreibtisch geschützter - typisch deutscher - Büchertheologe, war als Gegner der Befreiungstheologie spätestens seit 1978 amtlich aktiv. Kapitalismuskritik im ökonomischen Sinn ist bei ihm nicht nachzulesen, und er scheut überhaupt das Wort "Kapitalismus". Es ist nicht auszuschließen, dass er schon in den 80er und 90er Jahren der maßgebliche Motor der vatikanischen Aktivitäten gegen die Kirche der Armen gewesen ist. John L. Allen schreibt:

Fast die Hälfte der weltweit eine Milliarde Katholiken sind Lateinamerikaner. ... Wo die katholische Kirche eine solch dominante Kraft darstellt, ist man berechtigt, eine Sozialordnung zu erwarten, die die Wertvorstellungen des Evangeliums besser wiedergibt. ... Dass der lateinamerikanische Katholizismus in den neunziger Jahren keine solche Wirkung ausübte, ist in großem Maß von Joseph Ratzinger zu verantworten.

Namentlich auch die Menschen in El Salvador, dem Land von "San Romero", leben noch immer unter bedrückenden ökonomischen Verhältnissen. Für sie wäre es fatal, wenn Joseph Ratzinger (Joseph Ratzinger und die „neoliberale“ Weltordnung) sich wirklich als der dem "neoliberalen Zeitalter" genehme Papst erweisen würde.

Der Fall Sobrino: Kein Ende in Sicht?

Noch nach dem Zusammenbruch des autoritären Staatssozialismus sowjetischer Prägung sorgte Rom dafür, dass 1992 die Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe (CELAM) in einem vorgelegten Abschlussdokument jeglichen Bezug der Gottesreichverkündigung Jesu zur irdischen Sozialordnung verneinte. Mit dieser Botschaft hatte man den Juden Jesus von Nazareth faktisch zugunsten des reinen Christusdogmas begraben. Zu den Leitern der Konferenz gehörte der chilenische Kardinal Jorge Medina Estévez, "der lange Zeit mit Chiles General Augusto Pinochet auf gutem Fuß gestanden hatte." (J. L. Allen)

Bis heute hat Roms Kampf gegen die Kirche der Befreiung noch immer nicht aufgehört. Im mexikanischen Bistum Chiapas sieht sich der Bischof z.B. mit Weisungen der Vatikanbürokratie gegen eigenständige Wege der Pastoral mit indigenen Diakonen konfrontiert (Publik-Forum, 1.12.2006). In Cajamarca, im Norden Perus, fällt der Ortsbischof dem Priester Marco Arana, der die Rechte der Campesinos gegen die Übergriffe eines Goldminenbetreibers verteidigt und mit Mord bedroht wird, öffentlich in den Rücken (Publik-Forum, 26.1.2007). Die befreiungstheologische Tradition Perus hat Rom vor allem durch die Ernennung neuer Opus-Dei-Bischöfe entmachtet.

Gegen die Christuslehre eines der bekanntesten und populärsten Befreiungstheologen, des Jesuiten Jon Sobrino, richten sich die jüngste Notifikation aus Rom und eine gesonderte Erklärung zu den Anmerkungen. Scheinheilig wurde dieser Vorgang öffentlich als bloße "brüderliche Ermahnung" dargestellt. Entsprechende Sanktionen blieben der örtlichen Kirchenobrigkeit überlassen, was im Bischofspalais von San Salvador auch sogleich richtig aufgefasst wurde.

Im Kontext der "Option für die Armen", die von der ganzen Kirche geteilt werde, erinnert die "Note on the Notification" vielsagend an ein Wort des Papstes: "The first poverty among people is not to know Christ." Zentraler Streitpunkt ist neben der Rede vom "Reich Gottes" die eingangs erwähnte Zweinaturenlehre, also ein vermeintlich rein dogmatisches Thema. Vereinfacht gesagt: Sobrino wird vorgeworfen, er nehme beim irdischen Jesus kein göttliches Bewusstsein an, das der späteren dogmatischen Lehre entspricht. Genau über dieses Thema aber will der Papst in Kürze als Theologe im freien Diskurs ein eigenes Jesus-Buch veröffentlichen. Wie praktisch, dass die Glaubenskongregation vorab schon den amtlichen Monolog hinsichtlich anderer katholischer Theologenmeinungen führt.

Beim besagten Thema hätte Rom sich eine lange Liste europäischer Theologen vornehmen können. Die Wahl fiel aber - wohl kaum zufällig - auf Sobrino. Dieser war früher ein enger Berater von Erzbischof Romero. Als am 16. November 1989 ein Todeskommando der Militärs die Jesuiten-Kommunität in San Salvador überfiel, überlebte er als einziges Mitglied der Hausgemeinschaft und zwar nur deshalb, weil er verreist war. Basiskirchliche Netzwerke in Deutschland vermuten zusammen mit Franziskanern und Steyler Missionarinnen im Vorgehen gegen den 68jährigen Jesuitenpater eine kirchliche "Machtauseinandersetzung".

Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Münster, die Sobrino 1998 die Ehrendoktorwürde verliehen hat, sieht keinen Grund, ihre hohe Wertschätzung des Befreiungstheologen zu revidieren.

Das vom Erzbischof von San Salvador, Fernando Saénz Lacalle am 11. März mitgeteilte allgemeine Lehrverbot diene, wie ähnliche Fälle hinreichend gezeigt hätten, nicht der weiterführenden Klärung, "sondern der Vergiftung der innerkirchlichen Atmosphäre". Im konkreten Fall werde die Solidarität der katholischen Kirche mit den armen und verfolgten Christen in Lateinamerika und überall auf der Welt in Zweifel gezogen.

Filmhinweise und Quellen