Raubzug im Elektro Egger
Seite 3: Die Sportstunde
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Nach diesen abartigen Erfahrungen wackelte ich am nächsten Tag in die Schule und warnte sofort Roderick, Deibels Hasch ja nicht anzurühren. Doch Roderick nahm meine Warnungen nicht ernst.
"Hier muss man es haben, ja?!", sagte er und tippte sich mehrmals an seinen immer dicker werdenden Karajan-Schädel. "Hier! Totale Kopfkontrolle! Dompteur der Synapsen! Mach dir um mich keine Sorgen!"
Dabei war Roderick eigentlich der, dessen Nerven von uns allen am dünnsten waren, auch ohne Drogen. Wiederholt hatte er schon Panikattacken erlitten, aus völlig nichtigen Anlässen. Einmal waren wir zu einem Mädel namens Kathi Gierer gefahren, die am Rotkreuzplatz wohnte und sturmfreie Bude hatte. Roderick war dort in das Zimmer ihrer Eltern eingedrungen und hatte an der Wand lauter Skapuliere, schwarze Rosenkränze und altertümliche Fotos von hinterlistig dreinblickenden Personen entdeckt, woraufhin er panisch aus der Wohnung stürmte und immerzu rief: "Sinistre Todesbilder, ja?! Sinistre Todesbilder! In diesem Spukhaus bleib' ich keine Sekunde länger!" Man konnte also nur hoffen, dass er Deibels Hasch nicht anrührte, und bislang hatte er es ja Gott sei dank noch nicht getan.
Den Vormittag in der Schule verbrachte ich jedenfalls unter Aufbietung meiner letzten Kraft. Ich hatte immer noch ständig Herzrhythmusstörungen und war so im Arsch wie noch nie in meinem Leben. Ich überlegte, gleich nach der Schule zu unserem Hausarzt Dr. Müller zu gehen und ein EKG anfertigen zu lassen, doch ich hatte Angst, dass Dr. Müller mich verpetzen und die ganze Geschichte meinen Eltern weitererzählen würde.
Also ging ich lediglich zu Herrn Forghe, bei dem jetzt die Sportstunden anstanden, um mich vom Unterricht befreien zu lassen. Forghe war ein hochaufgeschossener Mann mit länglichem, von allen Weltgeschehnissen unbelecktem Priestergesicht, der nicht geheiratet und wohl auch niemals in seinem Leben eine Frau nackt gesehen hatte. Einmal war unsere Mitschülerin Astrid von Gruithuisen zu ihm hin gegangen und hatte ihm verdruckst gebeichtet, dass sie "wegen gewisser Umstände" heute nicht "an der Schwimmstunde teilnehmen" könne ("Umstände-die-die-Frau-betreffen... Herr Forghe, Sie verstehen schon: wegen dieser einen Sache... wegen... DER PERIODE!"), woraufhin Forghe gesagt hatte: "Was erzähln S' denn da von a 'Periode'? Sie san doch koa chemisches Element! Ham Sie a' Grippe? Ham Sie z'wenig g'frühstückt? 'Periode'? Wos für a 'Periode'?"
Das Schlimmste an Forghe war jedoch (außer seiner Naivität) der krankhafte, fast faschistische sportliche Ehrgeiz: Forghe verlangte von allen äußersten Einsatz, vor allem in Ballsportarten. Die Sportjunkies unserer Schule wussten, wie sie Forghe beeindrucken konnten, nämlich durch bedingungslosen, brutalsten Körpereinsatz. Deswegen grätschten, foulten und traten sie, was das Zeug hielt, immer verletzte sich einer und humpelte "Sanker!"-schreiend aus dem Spiel. Ich war mir ziemlich sicher, dass viele von ihnen in ein paar Jahren überhaupt nicht mehr gehen konnten und wegen Forghes Sportstunden ein Dasein als Krüppel fristen würden.
Jetzt ging ich zu Forghe und sagte mit mitleiderregendem Blick:
"Herr Forghe, ich habe schreckliche Kreislaufprobleme! Rote Feuerbälle rotieren vor meinen Augen! Ich kämpfe seit Stunden gegen eine Ohnmacht! Schwärze herrscht in meinem Hirn! Wahrscheinlich habe ich gestern was Falsches gegessen. Darf ich heute aussetzen beim Sport? Das Attest reiche ich Ihnen nach."
Forghe sah mich an wie einen absolut jämmerlichen, verabscheuungswürdigen Drückeberger, dann trug er mit seiner krakeligen Sütterlinschrift irgendetwas in sein Büchlein ein.
"So-so", sagte er, "'Kreislaufprobleme'... 'was Falsch's 'gessen'... Den Münchner Stadtmarathon hab ich damals 1979 mit a'm Bänderriss g'wonnen!"
"Ich weiß, Herr Forghe! Sie sind einer von der alten Schule."
In diesem Augenblick stieb Meindorff aus der Umkleidekabine, rannte an uns vorbei und rief in Forghes Richtung:
"Professor Frosch braucht a'n Alkohol, Herr Forghe! Professor Frosch braucht a'n Alkoho-o-o-o-l!"
Forghe sah mich entgeistert an, dann rümpfte er die Nase und fragte - zur Abwechslung ohne jede Verbitterung, sogar mit einer Spur von Fürsorge:
"Für was braucha Sie denn a'n Alkohol? Müass ma was desinfizieren? San Sie hing'fallen?"
"Nein, Herr Forghe, nein", sagte ich. "Alles ist gut..."
Ich ging zur Turnhallenbank, ließ mich in meiner Straßenbekleidung auf die lange Holzpritsche fallen und versuchte, meinem zerrütteten Körper etwas Leben einzuhauchen. Mann, es war alles ein einziger Jammer! Nicht nur der Raubbau, den ich mit meiner Gesundheit trieb, auch die allgemeine emotionale Lage... Ich versuchte seit Monaten, eine Freundin an Land zu ziehen, doch nichts gelang, und all meine Bestrebungen krachten immer wieder jämmerlich in sich zusammen! Um es mit der allergrellsten Klarheit zu sagen: Ich war um keinen Meter vorwärts gekommen, ich war immer noch hundseinsam, ich war so einsam wie Father McKenzie! Kennt den noch jemand? Das ist DER, DER NOCH einsamer als Eleanor Rigby ist! Denn diese Lektion hatte ich gelernt in der Musikstunde von Herrn Bornschlegel: Wenn man so einsam war wie Father McKenzie, dann drohte der Strick oder der Sprung von der Brücke, und genauso kaputt fühlte ich mich jetzt im Augenblick: Schulisch gescheitert, zerrüttet vom Suchtgift, abonniert auf den Alkoholikerkiosk, immer noch ohne Sex, im Kopf kurz vor der Faltung der Prionen, während ALLE, ALLE, ALLE ihre Schäfchen ins Trockene gebracht hatten. Und als ich im zarten Alter von 12 war, hatte unsere Nachbarin Frau Manz zu meiner Mutter gesagt: "Sie, Frau Wimmer! Ihr Sohn, der hat so sinnliche Lippen! Aus dem wird amal a richtiger Casanova!1 Da wer'n sich die jungen Frauen freuen, wenn sie ihren Sohn küssen dürfen!" ... Alles Phantasmen! Alles Lügengespinste! Alles Traumschlösser! Denn hier in der Turnhalle des Karlsgymnasiums 1985 saß ein exaktes Ebenbild von Father McKenzie.
Wie zum Hohn trabten jetzt aus den Umkleideräumen auch noch Teile der 10a vorbei, die schon den ganzen Tag ihre kostspieligen Sportanzüge von Adidas getragen hatten - Betzenstein, Leclerc, Kampp und die Anderen -, warfen mir hasserfüllte Blicke zu und liefen durch die Halle Richtung Fußballfeld, bereits jetzt brüllend: "Decken! Linke Flanke decken! Wieso bleibt der Depp nicht am Mann...?"
Und alsbald sah ich auch Herrn Zantner durch die Turnhalle schreiten, Forghes engen Kollegen, der gerade einen Teil der 10a- und 10d-Klasse im linken Teil der Turnhalle zum Bodenturnen versammelte. Zantner war ein gänzlich anderes Kaliber als Forghe. Darauf deutete schon sein Tom-Selleck-Schnurrbart und seine lockige Porno-Mähne hin. Denn Zantner war Leistung völlig egal, er hatte nur ein Ziel, und das bestand darin, Mädchen zu berühren. Und da das bei Hallensportarten leichter zu bewerkstelligen war als draußen im Freien, arbeitete er viel mit Reck, Bock und Barren, wo er sich dann seinen jeweiligen Schützlingen näherte, sie mit sanfter Hand berührte und sagte: "Spreizen! Noch mehr spreizen!" Schon wiederholt war es zu Beschwerden bezüglich solcher Vorfälle gekommen, aber irgendwie landete dergleichen nie vor einem Ausschuss.
Nicht weit von dort, wo ich jetzt saß, hatte Zantner mich vor drei Jahren einmal zu einem Salto am Bock gezwungen, und im selben Augenblick, als ich los sprang, kam ein Schwung junger Mädchen in die Turnhalle, woraufhin Zantner sich sofort in ihre Richtung bewegte, weg von den Matten und dem Bock, wo er eigentlich hätte Hilfestellung leisten sollen. Während ich durch die Luft wirbelte, näherte er sich seinem Schlüsselreiz, den Mädchen, um sie zu fragen, ob sie Lust hätten, bei seinem Sportunterricht mitzumachen, und ich knallte brutal wie ein Alpin-Opfer mit dem Rücken auf den Hallenboden.
Denn für Zantner galt, was von Mark D. Chapman nur behauptet wurde: Er wollte spreizen, spreizen, nichts als spreizen! Forghe wollte bolzen, Zantner einfach nur spreizen. Und so wie es jetzt im Augenblick aussah, würden wir für immer auf Forghes Weg weitergehen. Wir würden nie mit Zantners Glorie mithalten können, wir würden auf alle Ewigkeit mit Forghe in der "Wos moana Sie do mit 'Periode'?"-Mannschaft spielen.
Die Passage stammt aus dem Roman Die 12 Leidensstationen nach Pasing von Stefan Wimmer. Erschienen im Heyne Verlag.