Rente: Sachverständigenrat mit radikalen Plänen gegen Jung und Alt

Altersversorgung: Die Empfehlungen der Wirtschaftssachverständigen im scharfen Licht. Mehr Kritik von Medien wäre bitter nötig. Gastbeitrag.

Das am 7. November vorgelegte Jahresgutachten des Sachverständigenrates1 konzentriert sich auf die Altersversorgung. Die Vorschläge an die Politik sind vielfältig und tiefgreifend.

Sie sind samt und sonders nicht neu, sondern bereits durch zahlreiche von den Bundesregierungen eingesetzten Sachverständigenkommissionen und Projektgruppen seit Jahren gefordert.

Jede dieser Maßnahmen wäre ein Angriff auf die sozialen Interessen der Jungen und der Alten in diesem Land. Neu ist die Bündelung all dieser Maßnahmen mit der Besonderheit abenteuerlicher bis absurder Versprechungen.

Die "ergänzende Kapitaldeckung" schafft das Wunder

Auf Seite 350 des Gutachtens wird das Wunder in einer Grafik dargestellt. Wenn ab nächstem Jahr vier Prozent der Bruttoeinkommen an Kapitalmärkten angelegt würde, wüchse das Rentenniveau bis 2080 auf knapp 80 Prozent.

Alle anderen Reformoptionen (dazu weiter unten) würden das Rentenniveau deutlich unter 50 Prozent halten. (Basisszenario bedeutet im Folgenden immer, Fortsetzung des jetzigen Rechtstandes).

Bild: Sachverständigenrat 23-420-01

Dieses Wunder solle nur möglich sein, wenn der Beitragssatz zur Rentenversicherung sofort um vier Prozent angehoben würde und die kommenden 40 Jahre bei ca. 24 Prozent bliebe. Der sonst von den gleichen Wissenschaftlern ständig behauptete Untergang der deutschen Wirtschaft bei nur wenigen Zehntel Prozent Steigerung der Beiträge spielt plötzlich keine Rolle mehr.

Das ist die Quintessenz des Gutachtens: Die "ergänzende Kapitaldeckung", in Klardeutsch: Aktienrente, verspricht in der "langen Frist" ein Wunder. Das ist den "blühenden Landschaften", die Helmut Kohl 1990 den Neuen Bundesländern versprach, sehr ähnlich. Eigentlich könnten die Gutachter damit das Kapitel Rentenreform abschließen.

Das macht der Sachverständigenrat jedoch nicht, denn es gibt noch für die kurze und mittlere Frist einige Maßnahmen, welche die Kosten der Altersversorgung deutlich senken können.

Jede der Einzelmaßnahmen stellt einen Angriff auf die Interessen der Rentenversicherten dar. Das wird im Folgenden nachgewiesen. Danach folgt eine Darstellung der Auslassungen und Ausblendungen von Fakten.

Der asoziale Werkzeugkasten des Sachverständigenrates

1. Weitere Anhebung der Regelaltersgrenze nach 2031 (Rente ab 67) nach der Formel 2:1. Für jedes Jahr zusätzlich durchschnittlicher Lebenserwartung wird die Lebensarbeitszeit um acht Monate und die Rentenphase um vier Monate verlängert.

Hätten die Rentenreformer im Jahr 1957 dieses Modell verfolgt, betrüge das Renteneintrittsalter heute nicht 66 Jahre, sondern 74 Jahre und zehn Monate. Nach destatis lag das durchschnittliche Sterbealter 1959 bei 65 Jahren, 2022 waren es dann 79,6 Jahre.

Die Folgen einer Anhebung der Regelaltersgrenze wären fatal: Zum einen würden die Abschläge für Verrentung vor der Regelaltersgrenze weiter steigen. Schon heute können Millionen Menschen nicht bis zum regulären Rentenalter arbeiten. Im Jahr 2021 wurden 8,5 Millionen Renten mit durchschnittlich 32 Abschlagsmonaten ausbezahlt. Das ist eine durchschnittliche Rentenkürzung von 9,6 Prozent.

Zum anderen wird das Ergebnis ein längeres Arbeiten für ein kürzeres Leben sein. Menschen mit niedrigem Einkommen sterben früher als Menschen mit höherem Einkommen.

Nach Zahlen der Deutschen Rentenversicherung (DRV) sterben sie etwa fünf Jahre früher. In der folgenden Grafik werden die Rentner mit den höchsten 20 Prozent der ausgezahlten Renten mit denen der untersten 20 Prozent verglichen.2

Es wird deutlich: Die Ärmeren bleiben immer weiter hinter den besser Verdienenden zurück, wenn es um die Lebenserwartung geht. Die Zahl der durchschnittlich im Alter von 65 noch zu erwartenden Lebensjahre nimmt für die Männer in der obersten Einkommensgruppe viel stärker zu als für die in der untersten.

Eine vergleichbare Wirkung haben schwere/belastende Arbeit und langjährige Arbeit. Das ergeben die Daten aus wissenschaftlichen Auswertungen von SOEP-Befragungen.3 Im Ergebnis dieser Analysen muss davon ausgegangen werden, dass die Strategie des längeren Arbeitens für viele Millionen Menschen darauf hinausläuft, nicht nur kürzere Zeit Rente beziehen zu können, sondern auch früher zu versterben.

Die Hauptopfer der längeren Lebensarbeitszeit sind die jetzt Jungen. Sie werden in 20, 30 oder 40 Jahren die Ernte derartiger "Generationengerechtigkeiten" einfahren müssen, indem sie gezwungen sind, bis 69, 70 oder noch länger zu arbeiten.

2. Reduzierung des Rentenniveaus durch Verstärkung des Nachhaltigkeitsfaktors. Bisher wirkt die Veränderung des Verhältnisses von Rentnern zu Rentenbeitragszahlern (Rentenquotient) mit 25 Prozent auf das Rentenniveau. In der gesetzlichen Rentenformel wurde der Rentenquotient mit der Absicht eingesetzt, das Rentenniveau zu senken, wenn der Quotient steigt. Bisher wurde die dämpfende Wirkung mit einem Faktor alpha von 0,25 auf ein Viertel begrenzt. Diese Wirkung soll verdoppelt werden.

Beispiel: Im Jahr 2021 bewirkte der Nachhaltigkeitsfaktor, dass die lohnbedingte Rentensteigerung um 0,92 Prozent gekürzt wurde. Mit der Erhöhung des alpha Faktors auf 0,5 würde die Kürzung 1,84 Prozent betragen haben.

Wird der Nachhaltigkeitsfaktor geändert, wie vorgeschlagen, würde er sofort wirken. Bestands- und zukünftige Rentnerinnen und Rentner wären gleichermaßen betroffen.

3. Eine "Progressive Rentenberechnung" suggeriert etwas Positives. Das Gegenteil ist gemeint: die Rentenversicherungsbeiträge über dem Durchschnittseinkommen sollen für die Rentenanwartschaften nur noch halbe Entgeltpunkte bringen. Aus maximal 90 Entgeltpunkten werden so maximal 67,5 Entgeltpunkte.

Bild: Sachverständigenrat 23-420-01

Die Grafik rechts zeigt den gegenwärtigen Stand. Die Bruttorente steigt mit der Anzahl der Entgeltpunkte linear an. Die sogenannte Eckrente (45 Jahre Beiträge auf durchgehend durchschnittliche Einkommen bewirken 45 Entgeltpunkte) beträgt 1.692 Euro brutto. Das Doppelte des durchschnittlichen Einkommens ergibt eine Rentenanwartschaft von 90 Entgeltpunkten. Die Bruttorente beträgt damit 3.384 Euro.

Der Sachverständigenrat schlägt nun vor, den Zuwachs der Entgeltpunktzahl ab dem Durchschnittseinkommen zu halbieren. Die maximal erreichbare Entgeltpunktzahl betrüge dann nur noch ca. 67,5.

Das hätte mit den Werten von 2023 dann eine Absenkung der maximal möglichen Rente von 850 Euro auf 2.540 Euro (netto etwa 2.055 Euro) zur Folge. Das sind 25 Prozent weniger. Ab der Eckrente würden die Rentenanwartschaften um glatte 50 Prozent reduziert.

Übrigens: Das durchschnittliche Monatseinkommen beträgt aktuell 3.720 Euro, das ist weniger als Facharbeiter in der Metallindustrie erhalten.

Der Sachverständigenrat bezeichnet den Vorgang als progressiv und versieht es mit dem schönen Begriff "intragenerationelle Umverteilung", weil zumindest mit einem Teil der eingesparten Gelder die geringeren Rentenanwartschaften aufgewertet werden sollen.

Die tatsächliche Absicht ist im Gutachten etwas versteckt: Das Kürzungsprogramm soll "den Sozialstaat entlasten". Die erwartete starke Zunahme an Altersarmut soll weniger aus Steuern und damit mehr aus Beitragsgeldern finanziert werden.

Eine echte Zukunftsaufgabe der heute Jungen: Solidarität mit dem Steuerstaat, dafür verzichtet man doch gerne – oder?

4. Die Erhöhungen der Bestandsrenten sollen nicht mehr an die Lohnentwicklung gekoppelt werden, sondern an die Inflationsrate. Das hat zur Folge, dass die Bestandsrenten an zukünftigen Reallohnsteigerungen und damit der Produktivitätsentwicklung nicht mehr beteiligt werden.

Eine Rente, die 2007 begonnen hätte, wäre 2021 um 12 Prozent niedriger ausgefallen. Absehbar ist, dass eine derartige Umstellung auch zu wachsender Altersarmut führen wird. Je älter ein Mensch wird, umso stärker die Abkopplung von der Lohnentwicklung und damit von der Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards in der Gesellschaft.

Da es dem Sachverständigenrat ja um die "Bündelung der Maßnahmen" geht, wirkt die Lohnabkopplung für die Bestandsrentner zusätzlich zu der verstärkten Absenkung des Rentenniveaus durch den geänderten Nachhaltigkeitsfaktor.

5. Rentensplitting soll die Witwen-/Witwerrenten ersetzen. Mit dem Rentensplitting ist gemeint, dass die Renten eines Ehe- oder Lebensgemeinschaftspaares zusammengelegt und danach halbiert werden. Jeder/Jede hat damit Anspruch auf 50 Prozent der gemeinsamen Rente. Dieses Verfahren wird nur für die Jahre, in denen die Ehe bzw. Lebensgemeinschaft bestand, angewendet.

Im Falle des Versterbens eines Partners, gibt es dann keine Hinterbliebenenrente mehr. Das kann in den wenigen Fällen, in denen der/die Partner*in deutlich mehr als den Einkommensfreibetrag (aktuell: 992,64 Euro) als Rente erhält, von Vorteil sein.

Für den absolut größten Teil der Rentnerhaushalte wäre die Wirkung aber die Folgende: Nach dem die Witwen-/Witwerrenten bereits 2002 von 60 Prozent auf 55 Prozent reduziert wurden, soll jetzt die nächste Absenkung auf 50 Prozent erfolgen. Zusätzlich würden damit auch die Kinderzuschläge beseitigt werden.

Neben einer Entlastung der Rentenkasse will der Sachverständigenrat mit der Splittingrente Anreize zur stärkeren Erwerbsbeteiligung vor allem von Frauen erreichen. "Simulationen zeigen, dass das Arbeitsangebot von Zweitverdienenden bei einem Wegfall der Witwen- und Witwerrenten zunimmt".

6. Die "ergänzende Kapitaldeckung" soll, anders als noch bei der Riesterrente, obligatorisch eingeführt werden. Dazu sollen vier Prozent der Bruttolöhne an Finanzmärkten, vorzugsweise in Aktien, angelegt werden (siehe oben).

Der Sachverständigenrat unterstellt für seine Berechnung eine Realverzinsung von fünf Prozent über den ganzen Zeitraum. Der nominale Zinssatz müsste dann vermutlich sieben bis neun Prozent betragen. Das sind Margen, die nur mit hochriskanten Anlagestrategien erreicht wurden, oder eben mit starken Verlusten, wie mehrfach geschehen.

Im Kern empfehlen die Wirtschaftssachverständigen, Lohngelder im Volumen vieler hundert Milliarden Euro aus dem Wirtschaftskreislauf zu entziehen. Pro Jahr würden vier Prozent nach Zahlen der Deutschen Rentenversicherung (DRV) etwa 70 Milliarden Euro der Konsumnachfrage entziehen.

Für die Wirtschaftsweisen anscheinend kein Problem. Für den realen Wirtschaftskreislauf stellt das jedoch eine stark zunehmende Rezessionswahrscheinlichkeit dar.