Reset: Die Post-EU nach dem Brexit
Der Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs ohne die Briten zeigt die gesamte Ratlosigkeit in einer zerfallenden Gemeinschaft auf
Dass die Europäische Union sich in einer tiefen Krise steckt, das leugnet niemand mehr und deshalb sprach auch Bundeskanzlerin Merkel von einer "kritischen Situation" auf dem informellen Gipfel in Bratislava. Wenn Kommissionspräsident Juncker sogar eine "Roadmap" vorstellt, dann fühlt man fast an einen kriegerischen Konflikt erinnert, aus dem man damit herauszukommen versucht. Doch die 27 Staats- und Regierungschefs wollten vor allem Einigkeit zeigen. Deshalb wurden schon im Vorfeld viele Themen ausgeklammert. Und so standen die Ergebnisse ganz im Zeichen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Und weil es auch in der Flüchtlingsfrage keine Einigung gibt, wurde der Begriff "flexible Solidarität" geschaffen. Es erstaunte, dass von Maßnahmen zur Regulierung der Finanzmärkte gar nichts mehr zu hören ist, dabei wurde doch stets behauptet, dabei hätten die Briten auf der Bremse gestanden, die nun nicht mehr geladen waren.
Die EU hat sich einen "Neustart" verordnet. Oder besser gesagt, die drei großen EU-Länder Deutschland, Frankreich und Italien haben diesen der EU vorgegeben (EU: "Neustart" angesichts europäischer Zerfallserscheinungen?), als Angela Merkel, François Hollande auf Einladung von Matteo Renzi zur Vorbereitung kürzlich zum hochgradig mit Symbolik aufgeladenen Mini-Gipfel vor Neapel zusammenkamen. Sie wollen gemeinsam den Verfallserscheinungen nach dem Brexit begegnen. Deshalb wurde ein informeller Gipfel der Einigkeit und der guten Laune zelebriert, wie es die drei Chefs der großen (verbleibenden) EU-Länder kürzlich in Italien vorgemacht haben. Und sogar das Wetter spielte mit. Die Sonne strahlte und somit wurde den 27 Staats- und Regierungschefs auch die Fahrt auf der Donau am Mittag nicht versaut.
Die Stimmung sei gut gewesen, vor allem beim Mittagessen auf dem Schiff, und die Gespräche seien offen und konstruktiv geführt worden. Man macht also auf Friede, Freude, Eierkuchen und Einigkeit in einem Europa, das real immer deutlichere Verfallserscheinungen zeigt. Es sind ja nicht nur die Briten, die das Schiff mit dem Brexit verlassen, mit denen nun über den Weg verhandelt werden soll. Da sind die erstarkenden rechtsradikalen und populistischen Bewegungen in vielen Ländern, die wie der Front National in Frankreich sogar die Wahlen gewinnen und den "Frexit" auf die Tagesordnung setzen könnten.
Da ist die Dauerbaustelle Griechenland, das irgendwie im Euro und in der EU gehalten werden soll, weil man keinen wirklichen Plan für einen Umgang mit den Problemen dort hat. Dabei ist eigentlich klar, und darauf weisen Experten wie der Ökonomie-Nobelpreisträger Stiglitz längst hin, dass einige Euro-Länder in dieser Konstruktion der Gemeinschaftswährung keine Chance haben, der deshalb für eine "einvernehmliche Scheidung" wirbt, um die EU als politisches Projekt zu retten. Ganz in seinem Sinne wächst auch in der Linken Portugals die Stimmung, sich aus der "Unterwerfung unter den Euro" zu befreien. Die Stimmung würde stärker, wenn man verstärkt versuchen würde, das Land wie die Griechen ans Gängelband zu nehmen.
Nicht zuletzt gibt es auch noch die andere Richtung. Gerade hat der Luxemburger Jean Asselborn sogar den "vorübergehenden oder notfalls" definitiven Ausschluss Ungarns aus der EU gefordert, weil das Land massiv die Grundwerte der Gemeinschaft verletze (Asselborn fordert Ausschluss Ungarns aus der EU). Und läuft nicht sogar schon ein verschärftes Verfahren gegen Polen, weil man in Brüssel immer stärkere Zweifel an der Rechtstaatlichkeit in dem osteuropäischen Land hat? Eigentlich könnte der Zustand der Union kaum trauriger sein. Statt über die grundlegenden Probleme zu sprechen, kleistert man sie viel eher mit einer scheinbar guten Stimmung und Aktivismus in Fragen zu, die eigentlich nur eine Randnotiz sein dürften.
Der beschworene "Geist von Bratislawa"
Doch auch Bundeskanzlerin Merkel kam deshalb zum Beginn des Treffens am Freitag nicht um diese Feststellung herum: "Wir sind in einer kritischen Situation." Als Profi im politischen Theater versuchte sie deshalb auch Erwartungen herunterzuschrauben. "Es geht ja jetzt nicht darum, einfach von einem Gipfel die Lösung der Probleme Europas zu erwarten", fügte sie an. Doch man wolle, "durch Taten zeigen, dass wir besser werden können". Deshalb wolle man "konkrete Fortschritte" machen.
Wie in jedem Hollywood-Streifen muss es nach Drehbuch auch ein Happy End geben. So beschwor die Kanzlerin auf der Abschlusspressekonferenz schließlich den "Geist von Bratislava", der "ein Geist der Zusammenarbeit" sein soll. Unterstrichen wurde dies symbolisch auch dadurch, dass sie gemeinsam mit dem französischen Sozialdemokraten Hollande auftrat. Im Verein mit den übrigen Staats- und Regierungschefs sei man zur Überzeugung gelangt, sagte sie, dass man Kompromisse, ein Gefühl der Solidarität und der Zusammenarbeit brauche "und dass wir auf einer Basis gemeinsamer Werte arbeiten."
Welche das sein sollen, sagte sie nicht. Mit denen, welche die linken Vordenker EU vertreten haben, haben sie sicher kaum etwas zu tun, auch wenn man versuchte, sie beim Mini-Gipfel auf der Insel Ventotene für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Hollande unterstrich seinerseits erneut die Worte der Kanzlerin und betonte seinerseits die Bedeutung der beiden großen Euroländer für die Gemeinschaft in der Krise: "Nach dem Brexit ist es sehr wichtig, dass Deutschland und Frankreich Einigkeit zeigen." Gemeinsam werde man sich in den nächsten Monaten intensiv dafür einsetzen, dass die "Agenda von Bratislava" ein Erfolg wird, betonten beide.
Beschwipste Formeln
In diesem Sinne durfte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker seine "Bratislava Roadmap" darlegen, mit der die EU (und vor allem er) Handlungsfähigkeit beweisen will. Denn nicht nur die EU kämpft längst ums Überleben, sondern auch ihr Kommissionspräsident. Das hat zuletzt auch die Nebelkerze gezeigt, als er seinem Vorgänger Barroso Privilegien entzogen hat, allerdings auch nur auf Druck der Ombudsfrau. Damit versuchte er auch davon abzulenken, dass er erneut wegen seiner Probleme mit dem Alkohol schwer unter Druck steht, weshalb längst Rücktrittsforderungen laut wurden (Juncker will nicht zurücktreten). Denn, so hatte kurz zuvor die französische Liberation berichtet, hatte er sich allein bei einem Gespräch beim Mittagessen mit der Zeitung vier Gläser Champagner hinter die Binde gekippt.
Beschwipst klingen auch die Formeln von Hollande und Merkel. Real ist statt Solidarisierung gerade eine deutliche Entsolidarisierung auf allen Ebenen in Europa festzustellen. Doch beide übernahmen brav die Sprachregelungen der Abschlusserklärung mit dem Titel "Bratislava Declaration and Roadmap". Darin heißt es: "Wir sind entschlossen, mit 27 Mitgliedstaaten einen Erfolg aus der EU zu machen." Demnach sei zwar die EU "nicht perfekt, aber sie ist das beste Instrument, das wir haben, um den Herausforderungen vor uns zu begegnen". Gefordert wird auch, die Kommunikation unter den Staaten, mit den Institutionen und mit den Bürgern zu verbessern. "Wir brauchen die EU, nicht nur, um Frieden und Demokratie zu sichern, sondern auch die Sicherheit unserer Menschen", wird erklärt.
Damit zeigte sich, dass man vor allem, wie schon auf dem Mini-Gipfel, noch in Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf einen gemeinsamen Nenner kommt (Kontrolle der Grenzen und Sicherheit als oberste Werte). Konkret, so war ebenfalls zu erwarten, hat man sich vor allem auf die zukünftige Abwehr von Flüchtlinge geeinigt. "Ungeregelte Ströme" wie im vergangenen Jahr dürfe es nie wieder geben, eine "vollständige Kontrolle der Außengrenzen" müsse gewährleistet werden.
Konkret wird Bulgarien genannt. Dem Land soll bei der Sicherung der Grenze zur Türkei geholfen werden. Und der Flüchtlings-Deals mit der Türkei soll vollständig umgesetzt werden. Sofia soll dafür zunächst 108 Millionen Euro erhalten, die noch um weitere 52 Millionen aufgestockt werden sollen, kündigte Juncker an. Der hatte schon zuvor angeregt, noch im Oktober 200 Grenzschützer und 50 Fahrzeuge nach Bulgarien zu entsenden, um die illegale Einwanderung zu unterbinden.
Verteidigungspolitik als Band, Sozialpolitik als Phrase
Vor allem wird das wiederholt, was schon nach dem Mini-Gipfel bekräftigt wurde. Und dazu gehört auch die Verteidigungspolitik, in der nun gemeinsam an einem Strang gezogen werden soll, um damit das Territorium der Union vor militärischer Bedrohung und Terror zu schützen. Angesprochen wird unter anderem der verstärkte Austausch von Daten unter den Mitgliedsstaaten. Gestärkt werden soll angesichts der "geopolitischen Herausforderungen" auch die Sicherheit nach außen und Verteidigung. Im Gespräch sind auch sogenannte "Battlegroups" für Auslandseinsätze, mit denen zum Beispiel Frankreich in Mali längst überfordert ist.
Gesprochen wird auch über ein EU-Hauptquartier für militärische und zivile Einsätze. Ein Fonds für die Anschaffung von Rüstungsgütern soll bis Juni 2017 aufgebaut werden, kündigte Juncker schon zuvor an. Debattiert wird auch die Idee von Nationalgarden. Die sollen als Verteidigungseinheiten von den jeweiligen Mitgliedstaaten aufgestellt werden und auch für Naturkatastrophen eingesetzt werden.
Und weil man es dabei nicht belassen wollte, wurde auch noch schmallippig ein Punkt zur Sozialpolitik aufgenommen, den Renzi schon auf dem Mini-Gipfel eingebracht hatte. Denn der sorgt sich vor allem um Zukunft der Jugend. Blumig wird in der Erklärung aber nur davon gesprochen, "eine vielversprechende wirtschaftliche Zukunft für alle zu schaffen, unseren Lebensstandard zu sichern und der Jugend bessere Chancen zu bieten". Diese Phraseologie findet sich wortgleich in zahllosen Dokumenten der EU. Sie verdeckt nur, wie die reale Lage in einigen EU-Ländern ist, wo die Arbeitslosigkeit in Griechenland und Spanien noch bei 20% oder darüber liegt.
Die Jugendarbeitslosigkeit liegt trotz der vor sechs Jahren ausgerufenen "Jugendgarantie" in beiden Ländern sogar zwischen 44 und 50%. Dabei wurde schon damals vollmundig verkündet, dass Jugendliche innerhalb von vier Monaten nach Abschluss einer Ausbildung oder dem Verlust des Arbeitsplatzes eine Stelle, eine Ausbildung, ein Praktikum oder eine Fortbildung erhalten sollen. Überdies droht die EU zum Beispiel Spanien und Portugal noch immer mit der Streichung von Geldern aus EU-Fonds. Damit wären auch Projekte in diesen Bereich bedroht. Das allein sagt eigentlich genug darüber aus, was von derlei Ankündigungen zu halten ist. Die scheinen ohnehin als Feigenblatt an die Abschlusserklärung angeklebt, um nicht deutlich zu zeigen, dass man offenbar nur noch in Fragen von Polizei und Militär auf den kleinsten gemeinsamen Nenner kommt.
"Flexible Solidarität"
Der Nenner ist auch nur deshalb möglich, weil sogar dabei noch Teilfragen ausgeklammert wurden. Zum Beispiel, was die Umverteilung von Flüchtlingen angeht, die letztes Jahr beschlossen wurde. Doch seither tobt ein erbitterter Streit in der Frage, denn Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei wollen von einer einigermaßen fairen Verteilung der Flüchtlinge nichts wissen. Spanien tut zum Beispiel solidarisch, handelt aber nach dem Prinzip, dass Papier geduldig ist. Von dem Versprechen, 17.000 Menschen aufzunehmen, ist nichts zu sehen. Obwohl Bürgermeister in Städten längst Strukturen geschaffen haben und regelrecht Flüchtlinge fordern, sind bisher nur wenige angekommen.
Anders als Spanien haben aber die Visegrád-Staaten offen Widerstand gegen die Entscheidung geleistet. Die Slowakei hat die Kommission wegen der auferlegten Quote verklagt, Ungarn befragt Anfang Oktober die Bevölkerung und es wird mit einer breiten Ablehnung gerechnet. Und so machte der Pole und EU-Ratspräsident Donald Tusk vor dem Gipfel noch einmal Druck und stilisierte die Frage der Einwanderung zur entscheidenden Frage für die Einheit der EU hoch. Und seine Forderungen finden sich deutlich in den Beschlüssen wieder (Kontrolle der Grenzen und Sicherheit als oberste Werte). Als Kompromissformel sprechen nun die Visegrád-Staaten von einer "flexiblen Solidarität". Zu der wären sie bereit, wenn man sie selbst entscheiden lasse, welchen Beitrag sie zu einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik leisten wollen. Mit anderen Worten: "Rosinenpickerei", die Merkel zum Beispiel in Bezug auf Großbritannien immer abgelehnt hat. Was darunter zu verstehen ist, muss sich ohnehin noch zeigen.
Schaut man sich den Gipfel an, dann hat der Begriff Neustart weniger mit etwas Neuem oder einem Start zu tun. Er steht wohl mehr für einen "Reset" an einem Computer, der sich aufgehängt hat. Man setzt also keine Parameter oder Grundbedingungen anders oder spielt gar ein neues Betriebssystem auf. Man startet nur das System neu, das im Fall der EU schon lange nicht mehr funktioniert. Über wichtige Fragen, wie man zu einem funktionierenden System kommt, wird nicht gesprochen. Denn da würden zu viele Widersprüche aufbrechen. Die sollen im Bestreben, Einigkeit zu suggerieren, aber nicht gezeigt werden.
Deshalb wurde zum Beispiel schon im Vorfeld die Frage der Finanzmarkttransaktionssteuer ausgeklammert, um von einer umfassenden Regulierung der Finanzmärkte nicht zu sprechen. Dabei wurde immer wieder Großbritannien dafür zentral verantwortlich gemacht, warum man in diesen Fragen nicht wirklich vorankommt. Dabei sah man die Regulierung zu Beginn der Finanzkrise als zentral an, damit sich derlei Vorgänge nicht widerholen. Über die Transaktionssteuer sollen zum Beispiel riskante Geschäftspraktiken wie der hochfrequente Wertpapierhandel eingedämmt werden. Obwohl die Finanzmarktsteuer inzwischen sogar immer weiter ausgehöhlt und quasi bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde, die alle Jahre wieder - vor allem vor Wahlen - aus der Versenkung gehoben wird, ist auch jetzt nicht einmal ohne die Briten eine Einigung möglich. Es zeigt sich, dass die nur als Ausrede herhalten mussten. Die wirklichen Bremser sitzen offensichtlich woanders.