Reuters-Studie 2024: Deutsche vermissen Perspektivenvielfalt in den Medien
Neue Reuters-Studie: Zwei Drittel der Deutschen wünschen vielfältigere Perspektiven in den Nachrichten. Nur 43 % sehen dies erfüllt. Ist der Journalismus einseitig?
Ist Journalismus, sind vor allem Nachrichten als dessen aktueller Kern (zu) einseitig? Dazu liefert die jüngste Reuters-Studie interessante empirische, also erfahrungswissenschaftliche Aufschlüsse, auf der Basis umfangreicher Befragungen.
Die neueste Auflage der weltweit umfassendsten regelmäßigen Studie zu Journalismus und Medien, der Reuters Institute Digital News Report 2024 wurde dieser Tage veröffentlicht. Insgesamt basiert die Studie auf fast 100.000 Befragten aus 47 Ländern auf sechs Kontinenten. Die Daten-Erhebung dazu in Deutschland hatte Anfang dieses Jahres stattgefunden.
Kritische Stimmen fehlen in der Studie
Allerdings sollte vorab bedacht werden, dass sich an solchen Studien gerade jene Menschen kaum beteiligen, die den gesellschaftlichen Verhältnissen sehr kritisch oder sogar komplett ablehnend gegenüberstehen.
Auch insofern können solche Untersuchungen – bei allem Bemühen darum, repräsentativ zu sein – soziale Wirklichkeit nicht komplett abbilden, sondern sie schaffen eine bestimmte Wissenschafts-Realität. Und diese erscheint hier spannend.
Perspektivenvielfalt in den Medien
Denn eine der wichtigsten Aufgaben von Nachrichtenmedien aus Sicht von immerhin zwei Drittel der Befragten in Deutschland ist, dass die Publika jeweils verschiedene Perspektiven zu aktuellen Themen journalistisch vermittelt bekommen.
Gerade diese Perspektivenvielfalt in journalistischen Medien wird allerdings mehrheitlich als kaum erfüllt angesehen: Weniger als die Hälfte (43 Prozent) äußert, dass Nachrichtenmedien "eher" oder "sehr gut" darin seien, tatsächlich unterscheidbare Perspektiven zu aktuellen Themen zu bieten.
Immerhin 19 Prozent der Befragten sagen laut Studie sogar, sie seien in dieser Hinsicht regelrecht "unzufrieden" (S. 53).
Zwischen Erwartung und Leistungswahrnehmung
Bemerkenswert dabei, dass auch in der jüngsten Teilgruppe (18 bis 24 Jahre) dieser Punkt "Perspektivenvielfalt" als weniger gut erfüllt betrachtet wird. Bei der Gruppe der über 55-Jährigen, die laut Studie höhere Erwartungen an Nachrichtenmedien hat, sei die Kluft zwischen Erwartung und Leistungswahrnehmung nicht zuletzt bezüglich journalistischer Perspektivenvielfalt besonders ausgeprägt (S. 54).
75 Prozent dieser älteren Menschen erwarten von Nachrichten Perspektivenvielfalt, aber nur 45 Prozent sehen diese Forderung als erfüllt an (S. 55). Bei den jüngsten Befragten (18 bis 24 Jahre) sehen sogar nur 42 Prozent Perspektivenvielfalt in Nachrichten als erfüllt an, allerdings haben in jener jungen Altersgruppe auch nur (noch) 54 Prozent die Forderung, Nachrichten mögen verschiedene Perspektiven zu einem Thema aufzeigen.
Für das Diskurs-Klima in der Gesellschaft erscheint beides bedenklich: Die relativ geringen Erwartungen jüngerer Menschen an journalistische Qualität und zugleich die Tatsache, dass in jener Altersgruppe die Zufriedenheit mit dem Status quo nachrichtlicher Perspektivenvielfalt sogar noch geringer ist als bei den insgesamt kritischeren Älteren.
Weitere Artikel von Sebastian Köhler
Wehrpflicht – Wer nicht?
Krieg als Spiel? Eine Medienkritik
Jenseits der Angst: Desinformation als Demokratiegefahr?
Wie steht es um das Vertrauen in die Medien?
Befragte, die Nachrichtenmedien laut Studie "eher/voll und ganz" vertrauen, sehen übrigens folgerichtig auch nachrichtliche Perspektivenvielfalt in journalistischen Medien überwiegend als erfüllt an (60 Prozent dieser Menschen).
Entsprechend verhält es sich mit Befragten, die Medien "eher nicht/gar nicht" Vertrauen entgegenbringen – von denen nehmen nur 28 Prozent eine nachrichtliche Perspektivenvielfalt wahr (S. 56).
Damit stellt sich wiederum die zentrale Frage, inwiefern Leute hier und heute Medien vertrauen. Dafür ist wichtig zu wissen:
Das Internet ist laut Studie erstmals mit relativer Mehrheit die wichtigste Nachrichtenquelle der erwachsenen Online-Bevölkerung in Deutschland: 42 Prozent bezeichneten das Internet als ihre Hauptnachrichtenquelle, dicht gefolgt von linear ausgestrahlten Fernsehsendungen (41 Prozent).
Dabei wird der Studie zufolge auch die Online-Nachrichtennutzung weiterhin von traditionellen Anbietern aus TV, Radio und Print dominiert. Die Tagesschau der ARD bleibt sowohl offline als auch online die meistgenutzte Nachrichten-Einzelmarke (S. 26/27), allerdings online nur noch knapp vor t-online.
Ausgewählte Nachrichten-Marken
Beim Vertrauen in ausgewählte Nachrichten-Marken liegen ARD-Tagesschau und ZDF-heute weiter vorne, allerdings nur noch knapp vor dem (allgemeinen) Markenlabel "eine Regional- oder Lokalzeitung". Am Ende dieser Rangliste über alle Verbreitungswege hinweg wie zu erwarten weiterhin die Boulevard-Marke Bild, der also laut Studie am wenigsten vertraut wird (S.48).
Gretchenfrage: "Wie hältst Du es mit dem Medienvertrauen?"
Derzeit sind laut Studie mit 43 Prozent der Befragten genauso viele - oder eben: genauso wenige - Menschen wie im Vorjahr der Ansicht, man könne "dem Großteil der Nachrichten meist vertrauen" (S. 44f.). Diese Fragestellung nach "den Nachrichten in Ihrem Land im Allgemeinen" bleibt als solche natürlich fragwürdig, weil sich darunter sicher alle Befragten etwas ziemlich anderes vorstellen.
Wie dem auch sei: Damit habe sich der langfristig leicht rückläufige Trend des Nachrichtenvertrauens 2024 nicht fortgesetzt. Allerdings war 2023 eben auch der bisher niedrigste Wert seit Beginn dieser Messungen im Jahr 2015 zu beobachten, nachdem das abgefragte Vertrauen während der Corona-Pandemie im Jahr 2021 zwischenzeitlich deutlich angestiegen war.
Im Altersvergleich äußern Befragte im Alter ab 55 Jahren weiterhin das größte Vertrauen in Nachrichten (49 Prozent Zustimmung), auch wenn dieses im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen sei (immerhin minus sechs Prozentpunkte).
Misstrauen: Neuer Höchststand bei den Älteren
Dieser Stand der Dinge in Sachen "Medienvertrauen" heißt auch: Der Anteil jener Befragten, die Nachrichten generell nicht vertrauen, bleibt mit 27 Prozent auf einem Rekordniveau und ist damit weiterhin fast doppelt so hoch wie im Jahr 2015 (seinerzeit 15 Prozent). Damals, am 31. 8. 2015, war Kanzlerin Angela Merkel (CDU) angesichts hierher geflüchteter Menschen mit den Worten "Wir schaffen das" vielfach zitiert worden.
Und vielleicht nicht zufällig ist auch hier bei den "Älteren" mittlerweile ein neuer Höchststand gemessen worden: Nunmehr auch schon 23 Prozent der über 55-Jährigen, die in vieler Hinsicht ja als loyal angesehen werden, geben an, Nachrichten im Allgemeinen nicht zu vertrauen.
Zum Vergleich: Bei den jüngsten Befragten (18 bis 24 Jahre) sind es sogar 33 Prozent Misstrauende. Aber bei denen lag dieser Wert in den Jahren zuvor bereits noch höher (Rekordwert 2023 mit 36 Prozent).
Schwindendes Vertrauen an den "Rändern" der Alterspyramide
Last but not least zu jenen Nachrichten, welche die Befragten laut Studie selbst nutzen: Auch hier sind medien-skeptische Höchststände gemessen worden – die gleichen wie im Vorjahr: Selbst bei den Nachrichten, denen sich die Leute freiwillig zuwenden, geben 19 Prozent an, diesen nicht zu vertrauen (S.47). Kaum mehr als Hälfte, 53 Prozent und damit so wenige wie noch nie seit Beginn der Erhebung, äußerten, sie vertrauten diesen von ihnen ja immerhin selbst ausgewählten Nachrichten.
Und die Kirsche auf dem Kuchen: An den "Rändern" der Alterspyramide, bei den Jüngeren und bei den Älteren, die ja herrschaftstechnisch oft gegeneinander ausgespielt werden (sollen), sind bei dieser Frage jeweils neue Rekorde gemessen worden. Also so viele Menschen wie noch nie, die selbst den von ihnen bevorzugten Nachrichten schlicht nicht trauen (18 bis 24 Jahre: 25 Prozent, über 55 Jahre: 16 Prozent).
Manche Medien-Experten markieren das in etwa als "Medienzynismus", also als einen merkwürdig "zynischen", weil abwertenden Umgang der nutzenden Menschen mit Medien. Als einen Zynismus gegenüber Medien also.
Vielleicht scheint es sinnvoller, bei Befunden wie diesen von Medienskepsis auszugehen. Die ja auch eine aufklärerische und aufgeklärte sein kann – oder doch werden könnte. Womöglich, wenn Medienschaffende (mehr als bisher) ihren Publika auch vertrauten.