"Revolutionäre Suppe": Ausnahmezustand in Kasachstan
Teils militante Gaspreis-Proteste haben in der früheren Sowjetrepublik zum Rücktritt der Regierung geführt
Auslöser von Massenprotesten seit dem Jahreswechsel in zahlreichen Städten Kasachstans waren massive Preiserhöhungen für Flüssiggas. Doch darum geht es nun kaum noch. Die Regierung ist zurückgetreten, in drei Regionen wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Gewalt und politische Forderungen bestimmen das Bild auf der Straße.
Die Bedeutung der Gaspreise
Flüssiggas (LPG) spielt beim Betrieb von Autos in Kasachstan eine wesentlich größere Rolle als in Mitteleuropa. Das Land produziert etwa doppelt so viel LPG wie verbraucht wird und der Export ist bisher lukrativer als der Verkauf auf dem Inlandsmarkt. Der Weltmarktpreis beträgt mehr als das Dreifache. Auch die Preise in Nachbarstaaten wie Russland sind höher.
Eine zum Jahreswechsel geplante Verdopplung des Preises traf die Bevölkerung im Land hart - obwohl das Preisniveau auch nach der Steigerung nur die Hälfte desselben in Mitteleuropa erreicht. Die bisher niedrigen Preise kamen unter anderem durch Subventionen zustande.
Das kasachische Durchschnittseinkommen und der Lebensstandard sind jedoch ebenfalls wesentlich niedriger (durchschnittlich 510 Euro pro Monat), die Größe des mittelasiatischen Flächenstaates erfordert häufig lange Autofahrten.
Zurückrudern und Rücktritt der Regierung brachten keine Beruhigung
Dass es nicht nur wegen Kraftstoffpreisen in der kasachischen Bevölkerung brodelte, zeigte sich im Rahmen der Krise schnell. Nach den ersten Massenprotesten in mehreren Großstädten und Metropolen mit je bis zu 16.000 Teilnehmern ruderte die Regierung sofort zurück, was die Preiserhöhung anging. Als das nicht fruchtete, kam es sogar zum kollektiven Rücktritt der Regierung von Premier Asqar Mamin.
Der Präsident des Landes, Kassym-Schomart Tokajew, forderte per Twitter zur Beendigung der Proteste auf. Doch die Gemüter der Demonstranten beruhigten sich nicht.
Die Regionalverwaltungen der Protesthochburg Aktau und der Millionenmetropole Almaty wurden von Protestierenden gestürmt. Die russische Zeitung Kommersant berichtet, Fenster und Türen wurden eingeschlagen. Sicherheitskräfte, die die Verwaltung geschützt hatten, mussten fliehen. Aus der Innenstadt von Almaty waren laut Kommersant-Korrespondenten vor Ort Schüsse zu hören (hier eine Sammlung von Videos der Proteste). Medien berichten auch von Plünderungen in der Stadt und berufen sich auf den örtlichen Polizeichef.
Der Zorn trifft vor allem Altpräsident Nasarbajew
Almaty ist mit zwei Millionen Einwohnern die größte Stadt des Landes und war früher Hauptstadt. Dort befindet sich auch der frühere Präsidentenpalast, einstmals genutzt von Langzeit-Staatsoberhaupt Nursultan Nasarbajew, in dem nach einer Meldung des Onlineportals gazeta.ru ein Feuer ausgebrochen sein soll. Weitere Regierungsgebäude in der Stadt seien besetzt worden.
Dass der Zorn von Demonstranten ausgerechnet Nasarbajews ehemalige Residenz traf, ist wohl kein Zufall. Nasarbajew trat zwar 2019 nach Jahrzehnten an der Macht zurück und bekleidet seitdem offiziell nur noch die Funktion des Vorsitzenden des Staatsrates. Er gilt jedoch weiterhin als "graue Eminenz" der halbautokratischen Regierung des Landes. Sprechchöre bei Protesten fordern auch seinen kompletten Rückzug aus der Politik schreibt die Onlinezeitung Lenta.ru. Die Parole dazu lautet "Geh weg, alter Mann".
In weiteren Städten kam es ebenfalls zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und dem Einsatz von Wasserwerfern gegen Demonstranten. In der kasachischen Hauptstand Nur-Sultan und zwei weiteren Regionen wurde am 5. Januar der Ausnahmezustand bis zum 19.1. ausgerufen, Soziale Messengerdienste und mobiles Internet sind seit dem 4. Januar durch die Behörden blockiert.
Uneinheitliches Verhalten der Sicherheitskräfte
Die Regierung spricht in Verlautbarungen von "extremistischen Gruppen", die Gewalttaten verübten. Tatsächlich nahmen laut gazeta.ru Gruppen von Demonstranten in Aktau auch Sicherheitskräfte gefangen und entwaffneten sie sowie beschlagnahmten einen Militär-Lkw.
Das Medienportal RBK berichtet auch davon, dass in Einzelfällen Polizisten oder Mitglieder von Spezialeinheiten zu den Demonstranten übergelaufen seien und sich an Protesten beteiligten. Als Quelle beruft es sich auf mehrere kasachische Telegram-Kanäle, die entsprechende Aufnahmen zeigen. Von anderen Orten werden heftige Straßenschlachten gemeldet, wo die Polizei die Demonstranten abzuwehren versucht.
Russischer Experte: führerloses, aber politisches Aufbegehren
Die Proteste kamen vor allem in ihrem Umfang selbst für Fachleute unerwartet gibt der russische Mittelasienexperte und Politologe Arkady Dubnow gegenüber der lettischen Online-Zeitung Meduza an.
Aus den Gaspreis-Protesten sei in der Zwischenzeit eine "revolutionäre Suppe" entstanden. Dubnow sieht vor allem in der Ölförderregion im Westen des Landes große Unzufriedenheit, da dort die Haupteinnahmen Kasachstans generiert würden, aber die Leute keine entsprechenden Investitionen in ihre Region sähen.
Er sieht ein bisher noch politisch führungsloses Aufbegehren der Bevölkerung, das sich aber nun politisiert habe. Es zeige eine Kluft zwischen der politischen Führung des Landes und der Bevölkerung. Der Rückzug der Regierung sei zu spät erfolgt, um die protestierenden Massen zu beruhigen. Nun rechnet er mit weiteren gewalttätigen Auseinandersetzungen in den nächsten Tagen.
Politische Statements zum Protest gibt es bisher vor allem aus dem benachbarten Russland. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow ließ verlautbaren, dass es nun wichtig sei, dass sich niemand in die Vorgänge von außen einmischt. Er sei überzeugt, dass die "kasachischen Freunde" die Situation alleine lösen könnten. Moskau verfolge die Ereignisse im "brüderlichen Nachbarland" aufmerksam hieß es auch aus dem Russischen Außenministerium.
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