Revolutionäre ohne Recherche: Junge Welt im Kampf gegen den Klassenfeind, KI – und Telepolis
Selbstkritisch wohl immer erst kurz vor Ende: Junge Welt. Bild: Stefan Kühn
Das linke Blatt sieht KI als Gefahr. Es begibt sich damit in ein schwieriges Umfeld. Hätten sie uns nur mal gefragt. Eine Glosse für den den jW-Chefredakteur Nick Brauns.
Lieber Nick Brauns,
wie einige Alternativmedien hat sich auch die junge Welt mit der Entscheidung unserer Redaktion befasst, Artikel aus der Zeit vor 2021 vorläufig zu depublizieren. Neben Eurer marxistischen Tageszeitung schrieb darüber auch das Magazin Multipolar, das verdienstvollerweise die RKI-Files freigeklagt hat, um dann fälschlicherweise eine Verschwörung finsterer Mächte herbeizuhalluzinieren.
Oder das Manova-Magazin (Motto: "Glück und Lebensfreude sind politisch"), das noch vor wenigen Tagen die inzwischen mehrfach widerlegte These verbreitete, die USA hätten in der Ukraine Geheimlabore aufgebaut, um Biowaffen zu entwickeln, die Russen töten.
Als Beleg führt dieses Online-Medium, dessen Position zu Telepolis Ihr im Wesentlichen teilt, Informationen eines Bloggers an, der die Menschheit inzwischen mit Heiligenbildern und Deutschlandfahne aufruft, sich auf Armageddon, die endzeitliche Entscheidungsschlacht Gottes, vorzubereiten.
Verschwörung in der Ukraine?
Der Beitrag über die Biowaffenlaborverschwörung war übrigens einer der Texte, die auf Telepolis offenbar in der zeit vor 2021 ungeprüft erschienen sind. Das war damals unprofessionell und unfair gegenüber den vielen sauber arbeitenden Kolleginnen und Kollegen. Diesen Text heute – im Wissen um die Hintergründe und Hinterleute dieser Räuberpistole– erneut zu publizieren, ist absurd und unverantwortlich.
Apropos Löschung
Aber lassen wir all das kurz beiseite. Ich möchte die Möglichkeit nutzen, Dir zur Übernahme der Chefredaktion der jungen Welt zu gratulieren.
Gerne hätte ich noch einmal mit Deinem Vorgänger gesprochen, der dem russischen Präsidenten Wladimir Putin im Herbst 2023 auf dem Waldai-Forum eine Frage stellen durfte.
Aber das geht nicht. Denn der Kollege wurde im vergangenen Sommer offenbar so lehmanbrothersmäßig entlassen, dass der verbliebene junge Welt-Kader mindestens zehn Tage lang nicht hinterherkam, ihn aus dem Impressum zu tilgen.
Das allerdings hätte Stalin besser gekonnt. Womit wir bei Eurem Artikel über Telepolis sind.
Von Stalin zur Realität
"Früher sind im Stalinismus aus Fotografien Menschen verschwunden, jetzt verschwinden ganze Archive", zitiert Ihr meinen Vorgänger in der Telepolis-Chefredaktion.
Der Vergleich mutet trotzkistisch an. Vor allem aber ignoriert er unsere Mitteilung zu dem Schritt. Dort heißt es, die alten Texte seien "vorerst" nicht mehr abrufbar.
Auch schildert die Erklärung "Gründe, das Archiv aus der Zeit vor 2021 zunächst offline zu nehmen". Wir prüfen derzeit also Optionen, wie und wo wir die Texte in Gänze wieder zugängig machen. Und wir sind uns unserer Verantwortung dabei sehr bewusst.
Ist KI das neue Böse?
Beachtlich fanden wir aber einen anderen Aspekt in Eurem Text: Ihr macht Künstliche Intelligenz im Journalismus als das Böse aus. Und wir, denkt Ihr, paktieren mit dem Bösen: "Telepolis ist dazu übergegangen, sich die Redaktionsarbeit durch künstliche Intelligenz (KI) abnehmen zu lassen; Artikel werden in Teilen, mithin komplett vom Computer generiert."
Unter uns: Ihr meint "mitunter". Aber was zählt Sprache schon, wenn die Ideologie stimmt? Und ja, wir arbeiten bei Telepolis mit KI-Tools. Texte werden allerdings nie komplett vom Computer generiert, immer geprüft und in der Regel von einem Autor verfasst.
Die dunkle Wahrheit hinter Google
Hättet Ihr uns gefragt, hätten wir Euch das erklärt – so wie auch einige andere Dinge. Da wir davon ausgehen, dass auch Ihr bei der jungen Welt nicht nur auf Basis der Marx-Engels-Werke recherchiert, sondern Instrumente des Klassenfeindes wie Google benutzt, haben wir eine womöglich schockierende Nachricht für Euch: Auch die genannte Suchmaschine interagiert in vielen Fällen mit künstlicher Intelligenz, wenn auch im Hintergrund.
Wir möchten die Gelegenheit also nutzen, Euch die Erklärung zu liefern, um die Ihr uns nie gebeten habt: Künstliche Intelligenz unterstützt die Arbeit bei Telepolis in der Recherche und der Qualitätssicherung. Man kann Artikel etwa von gängigen Tools überprüfen lassen. Bei Eurem Artikel zum Beispiel wäre Folgendes herausgekommen:
Objektivität und Neutralität
Der Artikel ist durchgehend subjektiv und parteiisch geschrieben. Er präsentiert eine stark negative Sichtweise auf die Entscheidungen von Telepolis und Heise, ohne eine ausgewogene Darstellung zu bieten. Journalistische Texte sollten grundsätzlich neutral und sachlich formuliert sein, um den Lesern eine eigene Meinungsbildung zu ermöglichen.
Trennung von Nachricht und Kommentar
Eine klare Trennung zwischen Berichterstattung und Meinungsäußerung fehlt völlig. Der gesamte Text ist mit wertenden Kommentaren und subjektiven Einschätzungen durchsetzt, ohne dass dies als Kommentar gekennzeichnet wäre.
Ausgewogenheit
Der Artikel präsentiert fast ausschließlich kritische Stimmen und Perspektiven. Es fehlen Stellungnahmen oder Erklärungen von Telepolis oder dem Heise-Verlag selbst, was gegen das Prinzip der ausgewogenen Berichterstattung verstößt.
Quellentransparenz
Obwohl der Artikel mehrere Zitate und Informationen enthält, werden die Quellen nicht immer klar angegeben. Bei einigen Behauptungen, insbesondere bezüglich der KI-Strategie von Heise oder der Bewertung durch Newsguard, fehlen präzise Quellenangaben.
Sachlichkeit
Die verwendete Sprache ist durchgehend emotional und teilweise polemisch. Formulierungen wie "Der Heise Scheiß" im Titel oder Vergleiche mit dem Stalinismus sind unsachlich und dienen eher der Emotionalisierung als der Information.
Fairness und Respekt
Der Artikel behandelt die betroffenen Personen und Institutionen nicht fair und respektvoll. Vornehmlich die Unterstellung von Motiven ohne Beweise verstößt gegen journalistische Ethikstandards.
Einordnung und Kontext
Es fehlt eine angemessene Einordnung der Ereignisse in einen breiteren Kontext. Der Artikel versäumt es, die Entscheidung von Telepolis mit ähnlichen Praktiken in der Medienbranche zu vergleichen oder mögliche rechtliche und ethische Überlegungen zu beleuchten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Artikel in seiner aktuellen Form eher einem polemischen Kommentar als einem ausgewogenen journalistischen Bericht ähnelt und damit grundlegende Standards des Qualitätsjournalismus missachtet.
Einschätzung des Junge-Welt-Textes durch eine KI
So aber hattet Ihr einen Skandaltext, wenn auch ohne Skandal. Ein wenig wie der deutsche Finanzwissenschaftler Stefan Homburg, der die Maßnahmen in der Corona-Pandemie mit der Lage nach Hitlers Machtergreifung verglich und nun, in unserem Fall, die CIA als mögliche Auftraggeberin der vorübergehenden Depublikation älterer Beiträge ins Spiel brachte.
Lieber Nick, so sucht sich eben jeder sein ideologisches und publizistisches Umfeld aus.
Meinung ist erlaubt, auch Meinungsmache
Nach der Lektüre Eures Beitrags jedenfalls hatten wir kurz überlegt, die Sache in weiteren Instanzen juristisch zu klären. Bisher aber hat sich gezeigt, dass wir uns in einen Streit um sprachliche Interpretationen begeben würden, um, wie wir denken, Meinungsmache, Mutmaßungen, Unterstellungen und viel fachlicher Unkenntnis.
Dennoch wünsche ich Euch alles Gute. Bleibt in diesen unruhigen Zeiten tapfer und kämpft weiter für die Weltrevolution. Mit oder ohne künstliche Intelligenz.
Beste Grüße!
Harald Neuber
Redaktionelle Anmerkung: Der vorletzte Absatz dieses Artikels wurde präzisiert. Telepolis weist darauf hin, dass eine juristische Prüfung vor einem Berliner Gericht nicht geklärt hat, ob es sich bei der Kritik der „Jungen Welt“ um eine Tatsachenbehauptung oder eine Meinungsäußerung handelt. Die junge Welt legt Wert auf die Feststellung, dass das Gericht dem Standpunkt unseres Hauses nicht gefolgt ist. Redaktion und Verlag haben entschieden, den Rechtsweg nicht weiter zu beschreiten und weisen darauf hin, dass alle übrigen Aussagen des vorliegenden Artikels von der Gegenseite nicht in Abrede gestellt werden.