Rollentausch: Wenn Russen zu Arbeitsmigranten in China werden

Roland Bathon
Banknoten: Rubel und Yuan

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Russland erlebt eine neue Migrationswelle. Tausende Fachkräfte ziehen ins Reich der Mitte. Was treibt sie in das Land?

Die Migration zwischen China und Russland kannte jahrzehntelang nur eine Richtung. Während im Jahr 2010 die Zahl der Russen in China seit 20 Jahren stabil bei etwa 15.000 lag, betrug die Zahl der chinesischen Gastarbeiter in Russland rund eine halbe Million. Russische Befürchtungen sprachen damals sogar von einer schleichenden chinesischen Invasion durch Einwanderer im eigenen Fernen Osten.

Während nach Angaben des US-amerikanischen Carnegie Center in der russischen Grenzregion zu China rund 6,5 Millionen Menschen leben, sind es allein in der chinesischen Grenzprovinz Heilongjiang mehr als 34 Millionen.

Der langfristige Wanderungssaldo nach Russland ist in den 2010er-Jahren kontinuierlich gesunken. Alexander Gabuev, China-Experte bei Carnegie, sprach bereits 2017 von einem Trend, wonach "immer mehr Chinesen, die in Russland arbeiten, versuchen, in andere Länder auszuwandern oder in ihr Heimatland zurückzukehren".

Als Gründe nannte er die steigenden Einkommen in China und den Arbeitskräftemangel im Heimatland. Auch hätten die russischen Behörden die Entstehung einer eigenen chinesischen Subkultur wie westliche "Chinatowns" in Russland nicht zugelassen.

Die unterschiedliche Entwicklung der russischen und der chinesischen Wirtschaft habe nach der Corona-Pandemie zu einer gegenläufigen Entwicklung geführt. "Russen ziehen immer mehr nach China" titelt aktuell die große Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta und spricht von jährlich rund 11.000 russischen Auswanderern in das chinesische Nachbarland, wodurch sich die dortige Diaspora innerhalb weniger Jahre etwa verdreifacht hat.

Fachkräfte, Studenten und Ehen

Die Russen, die nach China auswandern, sind keine billigen Arbeitskräfte. "Qualifizierte Fachkräfte, Ingenieure, Lehrer und Ärzte", beschreibt die Moskauer Zeitung wichtige Auswanderergruppen. Russinnen würden zunehmend Chinesen heiraten, auch das Studium in China gewinne für junge Russen an Attraktivität.

Die Russen siedeln sich gerne in den Grenzregionen des Reichs der Mitte an, wo es nicht so weit in die alte Heimat ist, und kommen neben dem russischen Fernen Osten häufig aus Moskau und Sankt Petersburg.

Russland reagiert darauf mit dem Versprechen, die russisch-chinesische Zusammenarbeit im eigenen Land auszubauen. Zentren zur Unterstützung chinesischer Unternehmen werden eröffnet, Vorzugsregelungen für chinesische Investitionen geschaffen. Der neue Trend der Abwanderung nach China konnte dadurch bisher nicht gestoppt werden. Der russische Ferne Osten gehört nicht zu den wirtschaftlich starken Regionen im eigenen Land.

Diese Tendenz spiegelt sich auch in einer wachsenden Zahl von Erfahrungsberichten in China lebender Exilrussen in der russischen Presse wider. Zum Beispiel in der Nowye Iswestja der Bericht von Alexej, der ursprünglich aus der fernöstlichen russischen Region Primorje stammt.

2019 kam er zum ersten Mal zu Besuch nach China, nach der Pandemie ließ er sich endgültig in einer chinesischen Grenzstadt nieder. Schwierig an seinen neuen chinesischen Nachbarn findet er die meist fehlenden Fremdsprachenkenntnisse, weshalb auch die Wohnungssuche ohne lokale Unterstützung sehr schwierig sei.

Bargeld ist in China tot – selbst Bettler nutzen WeChat

China mache es den russischen Einwanderern nicht leicht, so Alexej. "Nach chinesischem Recht sind Unternehmen verpflichtet, zuerst chinesische Mitarbeiter einzustellen", berichtet er der Zeitung. Bei der Einstellung einer ausländischen Fachkraft müsse das Unternehmen dies gegenüber den Behörden begründen.

Besser sei es, mit einem Geschäftsvisum einzureisen und sich vor Ort einen Job zu suchen, bevor man sich für einen Umzug nach China entscheide. China beschreibt Alexej als "Technologieland" - ohne Smartphone, verbunden mit dem in Fernost allgegenwärtigen Messenger WeChat, sei ein Leben kaum noch möglich.

Alles werde per Telefon bezahlt, selbst die Gehälter kämen über WeChat. Bargeld sei in China tot, selbst Bettler würden WeChat nutzen.

Hohe Technisierung

Auch andere Expatriates berichten von einer vergleichsweise hohen Technisierung, aber auch von pünktlichem und gut funktionierendem Service. Auch bei der Überwachung scheint der technische Fortschritt hoch zu sein. In ihre Wohnanlage komme sie nur per Face ID, berichtet die in Südchina lebende russische Migrantin Victoria der Nowye Iswestja.

In der russischen Online-Zeitung tutu.ru erzählt die in China lebende Russin Julia, dass die meisten ihrer Landsleute ins Land gekommen seien, um Geld zu verdienen. Diejenigen, die Russland vorwiegend aus politischen Gründen verlassen, wählen andere Ziele wie Georgien oder Armenien. Nach China kommen hauptsächlich Russen, die Geld verdienen wollen, so wie in Dubai diejenigen leben, die bereits viel Geld haben.

Gute Berufschancen durch "Kult der Europäer"

Die Berufschancen für Russen in China beschreibt Julia, die selbst Lehrerin ist, als gut. Im Land blühe ein regelrechter Kult um die Europäer. Zum Beispiel in Kindergärten würden gezielt weiße Lehrer gesucht, weil die gehobenen Einrichtungen Wert auf ein europäisches Erscheinungsbild legten. Auf Gruppenfotos stehe Julia, die derzeit in einer Berufsschule arbeitet, immer im Vordergrund. Je öfter sie ihr Gesicht zeige, desto besser sei das für den Ruf ihrer Schule.

Von solchen überwiegend positiven Erfahrungen lesen andere Russen in der Heimat, und wer die Fremde nicht scheut, aber Russland nicht vor allem aus politischen Gründen verlassen will, wird China in sein Kalkül einbeziehen. So stehen die Chancen gut, dass das sehr junge Phänomen der nach China auswandernden Russen noch lange anhalten und auch eine größere Zahl von Menschen erfassen wird.