Rudolf Steiner: Quacksalber oder Visionär?

Seite 3: Steiner – ein Rassist?

Ob Steiner Rassist und Antisemit war, ist in der Fachdiskussion sehr umstritten.1 Ohne Zweifel hat er zeitgenössische Versatzstücke in dieser Richtung aufgenommen. Seine Rassenlehre baut auf der Evolutionslehre des 19. Jahrhunderts auf. Die Kritik des alten Judentums begründete er mit seinem evolutionären Religionsverständnis und Fortschrittsvertrauen. Da ist er Mensch seiner Zeit.

Was gegen eine unhistorische Überbewertung dieser obskuren Elemente in seinem Werk spricht, ist die universalistische und kosmopolitische Ausrichtung seines Konzeptes. Überhaupt muss man vielleicht die obskuren Elemente in seinem Werk, von den erfahrungsgemäß begründeten und wegweisenden Einsichten trennen.

Steiner und der Nationalsozialismus

Steiner selbst oder die Anthroposophie generell in die Nähe des Nationalsozialismus zu rücken, ist eine Verzerrung. Steiner löste mit seinen Vorträgen und der Eröffnung des "Goetheanums" hasserfüllte Reaktionen völkischer, rechtsnationaler und antisemitischer Kreise aus. Die Anthroposophische Gesellschaft wurde 1935 von den Nazis verboten. Was Nazis aufnahmen, ist die Landwirtschaftsbewegung, die von Steiner ausging. Die passte in ihr völkisches Konzept.

Auf den Münchener Putschversuch Hitlers 1923 reagierte Steiner entsetzt:

Wenn diese Herren an die Regierung kommen, kann mein Fuß deutschen Boden nicht mehr betreten.

Er sprach von einer "großen Verheerung", die über Mitteleuropa kommen könne. Hitler sah in der Anthroposophie einen "Krankheitserreger" und in ihren sozial-politischen Bemühungen eine gezielte "jüdische" Strategie zur Zerstörung Deutschlands.

Zwischen Konservativismus und Sozialismus

In seinem sozial-politischen Konzept grenzt sich Steiner vom libertären Kapitalismus, dem marxistischen Sozialismus und dem völkischen Nationalsozialismus ab und entwickelt einen eigenen, bemerkenswerten Gesellschaftsentwurf ("Die Kernpunkte der sozialen Frage", 1920).

Seine Gesellschaftstheorie ist weder sozialistisch noch konservativ – nimmt aber jeweilige Ideen auf – und bietet interessante Aspekte und Anknüpfungspunkte: Es geht um Selbstbestimmung und Zusammenwirken der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche. Das wurde in den zeitgenössischen Bemühungen des "Dreigliederungsbundes" politisch umgesetzt – die Hitler für "Staatsverbrechen" hielt – auch bei den Waldorf-Schulen, der Demeter-Bewegung verwirklicht und wirkte in Nach-68-ger-Projekte hinein.

Steiner und seine Anhänger – Unterscheidung angebracht?

Steiner ging es wie anderen geistigen Größen. Darf man ihm das, was Anhänger aus ihm machten und machen, zurechnen? Auf jeden Fall lohnt es sich genau hinzuschauen, auf Steiner selbst und seine (angeblichen) Anhänger – und zu unterscheiden. Anthroposophie ist nicht nur Steiner und Anthroposophie keine homogene Gemeinschaft oder Bewegung. So wie Steiners Konzept Ambivalenzen enthält, wird man auch ambivalente Wirkungen seines Denkens finden.

"Orthodoxie" und "Personenkult" bestimmen in nicht geringem Maße das Bild der Anthroposophie. Den Erklärungen Steiners nach lag dies nicht in seinen Absichten. Von den Zuhörern bei seinen Vorträgen vor der Anthroposophischen Gesellschaft verlangte er "eigenes Denken". Dennoch erwartete er, dass sie seinen Denkbahnen zustimmend folgten.

Aus den Niederschriften und den darin erwähnten Fragen an ihn lässt sich kaum auf grundsätzliche Kritik schließen. Bei allem Wandel und Eklektizismus seiner geistigen Positionen blieb er selbst ein eigenständiger Denker, der Zeitströmungen auf seine Weise aufnahm und verarbeitete. Es gibt viele Berührungspunkte zur zeitgenössischen Philosophie, zum Neuhumanismus und zur Psychologie.

Teilweise gehen seine "hellseherischen" Einsichten gar nicht auf übersinnliche Einblicke zurück, sondern auf die Rezeption seiner Literaturquellen – wie Zander nachgewiesen hat.1 Den modischen Spiritismus und Okkultismus (nach der Abwendung von der Theosophie Blavatskys / Besants) lehnte er ab. Interessant sind die sachlichen Konvergenzen mit Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, obwohl er sich gegenüber Freud und Jung mehr skeptisch als zustimmend äußerte. Auch hier: Anknüpfung und "geisteswissenschaftliche" Vertiefung.1

Steiner – eine komplexe, gefeierte, verehrte, aber auch irritierende und polarisierende Persönlichkeit; sein Gedankengebäude – ebenfalls komplex, mehrdeutig, nicht immer zusammenhängend und widerspruchsfrei, nicht leicht zu überschauen, für die einen faszinierend, für andere finsterer "Okkultismus". Fragen und Widerspruch sind in seiner Person und seinem System angelegt.