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Rudolf Steiner: Quacksalber oder Visionär?

Wolfram Janzen

Rudolf Steiner um 1905. Bild: Public Domain / Grafik: TP

Ein Teil der Querdenker-Bewegung beruft sich auf den Anthroposophen. Doch wer war der Mann, dessen Ruf von einem pseudowissenschaftlichen Guru und Rassisten bis hin zum Vorbild reicht?

Die von Rudolf Steiner (1861-1925) begründete Anthroposophie wird derzeit als eine der geistigen Grundlagen für die "Querdenken"-Bewegung ausgemacht. Es heißt dann etwa:

Rassismus und Antisemitismus sind in der Lehre von Rudolf Steiners tief verwurzelt. Und eine Nähe zum Nazismus ist bis heute nicht wirklich aufgearbeitet...

"Romantisches Denken ist verknüpft mit dem Anliegen, das Affekt- und Gefühlvolle dem Verstandesmäßigen, dem 'rationalistischen Denkstil', nicht länger unterzuordnen"...

Das Ablehnen von Impfungen gehört zu den Grundlagen anthroposophischer Medizin.

"Corona-Proteste: Schnittmengen zwischen den beteiligten Milieus [1]" in Telepolis 26.12.21

Ich bin kein Steinerianer, aber die zitierten Urteile über Steiner bedürfen der Korrektur. Sie entsprechen einem gängigen Steiner-Bild, decken sich aber nicht mit seinen Schriften und Äußerungen.

Steiners Erkenntnisweg – Rationales Denken und hellseherische Schau

Steiner baut auf den Naturwissenschaften auf, will sie aber durch seine Art von Schau ergänzen. Auch rationales "Denken" spielt für ihn eine zentrale Rolle1 [2]:

Unseren Verstand, unsere Vernunft anzustrengen, unseren Wahrheitssinn genügend anzustrengen, ist uns vielleicht unbequem, aber wir müssen uns dieser Unbequemlichkeit aussetzen.

Die "Erkenntnis höherer Welten [3]" ergänzt das rationale Denken durch Imagination, Intuition, Inspiration und Vision. Das sind eher religiöse und künstlerische "Erkenntnisweisen" als naturwissenschaftliche. Sie dürften aber bei genialen Naturwissenschaftlern auch eine Rolle gespielt haben.

Mit seinen Einblicken in die "geistige Welt" will Steiner den Materialismus der naturwissenschaftlichen Weltsicht überwinden und naturwissenschaftliche Erkenntnisse bereichern. Steiners Erkenntnistheorie ist reflektiert, auch wenn man den etwas abrupt wirkenden Sprung in jenseitige Sphären nicht nachvollziehen möchte. Ein Steiner-Zitat2 [4]:

Gewiß ist unendlich Bedeutungsvolles geschaffen worden im Laufe der letzten drei, vier, fünf Jahrhunderte gerade auf naturwissenschaftlichem Gebiet, und unsere Freunde wissen, wie oft ich die große Bedeutung der naturwissenschaftlichen Errungenschaften betone, wie ich sogar das, was die Geisteswissenschaft [so nennt er sein Gesamtkonzept] für die Gegenwart und Zukunft zu leisten hat, mit dem, was Naturwissenschaft im Laufe der letzten, besonders des neunzehnten Jahrhunderts heraufgebracht hat, vergleiche…

"Geisteswissenschaft" und Schulmedizin – Gegensätze?

Der Ergänzungsweg gilt auch für die Medizin.

In vieler Beziehung sind diejenigen Dinge bewundernswert, welche von der Schulmedizin in der letzten Zeit geleistet worden sind... [Aber:] ...unser Organismus [nicht] durch kleinliche Mittel zur Gesundung gebracht, sondern die Geisteswissenschaft selbst ist das große Heilmittel zur Gesundung...Klare, helle Gedanken, umfassende Gedanken, wie sie nur durch eine umfassende, auf das Ganze der Welt, also auch auf das Übersinnliche gehende Weltanschauung hervorgerufen werden können, sind Voraussetzung für die Gesundheit.

Rudolf Steiner (GA 57, S. 95, 211/212)

Hier mag die Berufung auf das "Übersinnliche" stören. Es ist aber so, dass Steiner auf seinem Weg nicht nur abseitige, irrationale oder esoterische Gedankengänge findet, sondern auch plausible, evidente Erfahrungen oder Einsichten. Richtig gesehen hat er, dass Krankheit eine Störung des körperlichen-seelischen-mentalen Gleichgewichts und Heilung ein ganzheitlicher, Leib-Seele-Geist umfassender Prozess ist.

Ausgangspunkt der gesundheitlichen Vorsorge und Heilung ist für ihn immer die Betrachtung des ganzen, individuellen Menschen. Auch sein Hinweis auf "Furcht-Imaginationen", die bei der Ansteckung von infektiösen Krankheiten begünstigend wirken können, ist ebenso evident wie die krankheitsverhindernde und heilungsfördernede Wirkung von positiven Imaginationen.

Steiners "Einsicht", Krankheiten würden mit Fehlhaltungen in früheren Inkarnationen zusammenhängen und seien auszuleben, werden nur Anhänger der "Karma"-Lehre nachvollziehen können. Es steckt aber auch in dieser Ansicht ein beachtenswerter Kern: Krankheiten können sehr wohl ein Hinweis auf alte, krankheitsförderne Gewohnheiten bzw. Einstellungen sein und eine Chance für gesunde Lebensänderungen bieten.

Der Gedanke, dass Krankheiten und Seuchen ein Anstoß zur "Erziehung" (Verhaltensänderung) von Individuen und Gesellschaften sein könnte oder sollte, ist ja in Hinsicht auf den Corona-Ausbruch nicht abwegig.

Steiner und Epidemien – Selbstheilungskräfte der alleinige Weg?

Steiner hatte Ähnliches wie wir vor Augen – den Ausbruch der "Spanischen Grippe" – und das macht seine Ausführungen dazu aktuell. So muss auch gefragt werden, ob die heutigen Maßnahmenkritiker sich mit Recht auf ihn berufen können.

Angesichts der Spanischen Grippe bestreitet Steiner nicht die krankmachende Wirkung von "Bazillen" (Viren kannte er noch nicht), er weist aber mit Recht darauf hin, dass zur Entfaltung der Erreger immer die körperliche und geistige Disposition von Individuen und Kollektiven gehört. Er wendet sich gegen übertriebene Bazillenfurcht, hält aber "Hygienemaßnahmen" – gerade in Epidemiezeiten – für angebracht3 [5]:

Nun soll ja … selbstverständlich nicht gesagt werden, daß die Bazillen durchaus gepflegt werden sollen, und daß es etwas Gutes ist, recht viel sozusagen mit Bazillen zusammenzuleben …

Wen erinnert das nicht an die Parole, man müsse "mit dem Virus leben"? Hygienemaßnahmen – so meint er – seien nicht nur eine individuelle Angelegenheit, sondern eine "soziale Frage": Sie müssten aus dem "Intellektualismus" und Spezialismus der Fachleute in die Gesellschaft gebracht, also "demokratisiert" werden, wie er wörtlich sagt. Steiner wendet sich nicht unbedingt gegen das "Parieren" bei notwendigen Maßnahmen in einer Epidemie – etwa Kontaktbeschränkugen –, aber wichtiger als Vorschriften ist für ihn4 [6]:

Wenn Sie in die menschliche Sozietät hineinbringen ein Laienpublikum, das ... mit Menschenverständnis dem aufklärend für Prophylaxe wirkenden Arzte gegenübersteht ...

Er hält also verständliche und einsehbare Kommunikation der Maßnahmen für wichtig – ein Gesichtspunkt, den sich Corona-Wissenschaft und -Politik "hinter die Ohren schreiben" sollten.

Steiner erwartet viel von nicht materialistisch verstandenen, individuellen Selbstheilungskräften, aber egoistischen Rückzug darauf findet er nicht heilsam5 [7]:

Nehmen wir an, wir leben in einer Epidemie drinnen oder in einer Seuche. Selbstverständlich muß da einer für den anderen stehen ...Wenn sich ausbreitet eine edle Gesinnung, so daß die egoistische Furcht zurücktritt, und das liebende Helfen unter den Menschen wirkt, [würde man erfahren,] was die Ausbreitung einer solchen Gesinnung auf das Beendigen von Epidemien wirken könnte, wenn man sich danach benehmen würde.

Steiner – ein Impfgegner?

Ob Steiner sich gegen die Corona-Impfungen aussprechen würde, lässt sich nicht mit Gewissheit im Nachhinein entscheiden. Steiner sah Impfungen als problematisch an (er hatte die Pockenimpfung vor Augen). Er wendet sich aber gegen Fanatismus in dieser Frage – wie überhaupt gegen jeden "Dogmatismus" in Heilmethoden6 [8]:

Sehen Sie, wenn man jemand impft, und man hat den Betreffenden als Anthroposophen und erzieht ihn anthroposophisch, so schadet es nichts...

Wo die anthroposophische Einsicht und Erziehung fehlt, empfiehlt er7 [9]:

Da muß man eben impfen. Es bleibt nichts anderes übrig. Denn das fanatische Sichstellen gegen diese Dinge ist dasjenige, was ich, nicht aus medizinischen, aber aus allgemein anthroposophischen Gründen, ganz und gar nicht empfehlen würde. Die fanatische Stellungnahme gegen diese Dinge ist nicht das, was wir anstreben, sondern wir wollen durch Einsicht die Dinge im Großen anders machen.

Ich vermute, bei seiner Wertschätzung der Naturwissenschaften würde Steiner wohl die Impfung als "Notlösung" empfehlen, zumal die Impfstoffe ja auch nach dem Prinzip "Gleiches mit Gleichem bekämpfen" wirken, wenn auch nicht in homöopathischen Dosen.

Hier – bei der Unterscheidung von Anthroposophen und "gewöhnlichem" Volk – wird bemerkbar, dass Steiner sich zwar mit allgemeinverständlichen Einführungen auch an ein nicht anthroposophisches Publikum wandte, tiefere esoterischen Einblicke aber an "Wissende" und "Eingeweihte" weitergab. Seine Erkenntnismethode und seine zentralen "Erkenntnisse", sind nicht allen zugänglich, sollen aber allen bekannt gemacht werden.

Von den jetzt schon "Wissenden" und der weiteren Entwicklung der Menschheit erwartet Steiner eine Durchdringung des allgemeinen Bewusstseins im Sinne der "geisteswissenschaftlichen" Einsichten. Auch hier wieder der Doppelcharakter, die Ambivalenz seines Konzeptes. Es ist anscheinend für Interpreten und Anhänger schwer, den Doppel- und Ergänzungscharakter seines medizinischen und weltanschaulichen Entwurfs zu durchschauen. Dies führt zu einseitigen Interpretationen und Bewertungen.

Steiner und Wissenschaftlichkeit – Kritische Fragen

Auch, wenn man das differenziert sieht, bleiben kritische Fragen. Soweit er naturwissenschaftliche Erkenntnisse ins Spiel bringt – die natürlich zeitgebunden sind – wird man ihm Wissenschaftsorientierung attestieren können. So z.B. in seiner frühen Schrift: "Haeckel und seine Gegner" (1900). Steiner übernimmt naturwissenschaftlichen Grundlagen Haeckels (wie die "Evolutionsidee"), nicht aber dessen Folgerungen für die Religion.

Steiner will die innere Welt mit der äußeren, Wissen und Glauben versöhnen, nicht auf dem Weg mystischer Subjektivität und auch nicht mit der bloßen Registrierung "objektiver" Tatsachen, sondern auf dem Weg der an der Sachlichkeit der Naturwissenschaft geschulten "Sehkraft des Geistes". Sie soll die von Haeckel nur auf der materiellen Ebenen gelösten "Welträtsel" durch Einblick in die geistigen Ebenen "vertiefen"8 [10]:

Unsere moderne naturwissenschaftliche Denkweise ist zwar im eminentesten Sinne wissenschaftlich … aber sie hat so, wie sie ist, alle Möglichkeit verloren, über das Innenleben, über den Geist mitzusprechen. – Und wir müssen, meine ich, wenn wir die "Zeichen der Zeit" richtig deuten, vor einer Epoche einer Vertiefung in den Geist stehen. Das nächste Zeitalter wird Augustinismus und Haeckelismus als "aufgehobene Momente" in sich enthalten.

Steiner beansprucht für seine Geisteserforschung Objektivität, Evidenz und damit Wissenschaftlichkeit. Er meinte9 [11]:

Jeder geistig normal entwickelte Mensch hat das Vermögen, in jene Tiefen [des Geistes] bis zu einem gewissen Punkte hinunterzusteigen. Aber die Bequemlichkeit des Denkens verhindert viele daran.

Abgesehen davon, dass sich Steiner in seinem Entwicklungsoptimismus getäuscht hat – es kam nicht Menschheitsaufschwung, sondern die Barbarei zweier Weltkriege – er überschätzt auch die Validität seiner "Forschungsmethode". Die Überzeugung, dass jeder aufgeschlossene und vernünftige Mensch seine "übersinnlichen" Erkenntnisse teilen könnte, ist eine Täuschung. Dieser Bereich seiner Lehre ist nicht Wissenschaft, sondern Glaubenssystem.

Zur Wissenschaftlichkeit gehört Nachprüfbarkeit und Intersubjektivität. Doch wie soll man mit einer Lehre wissenschaftlich kommunizieren, die sich zwar als "Wissenschaft" versteht, aber sich herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden gegenüber überlegen fühlt? Steiners Einsichten beruhen auf seiner persönlichen Sichtweise und erhalten ihre Geltung in der Anthroposophie aufgrund seiner Autorität in dieser Gemeinschaft – dies, obwohl er Autoritätshörigkeit vehement ablehnt und "freies Denken" befürwortet. Seine hellseherische Einblicke in die "geistige Welt" lassen sich nicht intersubjektiv nachprüfen.

So muss man auch fragen, ob sich seine Erkenntniswege und Einsichten "demokratisieren" lassen – wie er meint. Resultiert aus seinen Sonder-Offenbarungen nicht auch eine Haltung, die sich tendenziell demokratischen Gegebenheiten von Gesellschaften und "Main-Stream"-Orientierungen überlegen fühlt? Ist es diese Haltung, die möglicherweise zur Teilnahme zahlreicher Anthroposophen bei den "Querdenken"-Demonstrationen mit ihren "Wir blicken es, ihr nicht"-Kundgaben beiträgt?

Steiner empfand sich wohl als eine Art philosophischer Agent des "Weltgeistes" und war von einem ausgesprochenen Sendungsbewusstsein erfüllt. Das hat sich auf Teile seiner Jüngerschaft übertragen. Das Eintauchen in und die Beharrung in seiner Sonderwelt ist gesellschaftlich problematisch und kann durch ihren religiösen Charakter dissoziale Wirkungen entfalten.

Dazu gehören kommunikative Störungen wie Verhärtung gegen andere Sichtweisen oder Fanatismus. Auf Steiner selbst trifft dies nicht zu, ist aber eine Gefahr unter seinen Anhängern. Als einer, der beruflich mit Waldorf-Schulen zu tun hatte, habe ich aufgeschlossene, liberale Steinerianer erlebt und auch engstirnige, verbohrte. Doch das findet man bei allen religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen.

Gesundheitskonzept – vielfältiger Ansätze

Noch ein Wort zu Steiner als angeblichen Vertreter der Homöopathie: Steiner hat zwar einiges aus der Homöopathie übernommen, aber die klassische Homöopathie Hahnemanns lehnt er als irrational ab. Seine kritische Haltung belegt folgende Aussage – aus der sich auch ergibt, dass er die Vergabe allopathischer Mittel nicht rundweg ablehnt1 [12]:

Ja, meine Herren, homöopathisch kann man eben nicht alle Krankheiten kurieren; manche muß man eben allopathisch kurieren.

Steiners Gesundheitskonzept besteht aus weit mehr als den von ihm empfohlenen Rezepturen, dazu gehören naturkundliche Heilverfahren, z.B. die Misteltherapie, harmonisierende Körperübungen wie die Eurythmie und die Beachtung individueller, kollektiver, ökonomischer, ökologischer, spiritueller und kosmischer Faktoren.

Steiner – ein Rassist?

Ob Steiner Rassist und Antisemit war, ist in der Fachdiskussion sehr umstritten.1 [13] Ohne Zweifel hat er zeitgenössische Versatzstücke in dieser Richtung aufgenommen. Seine Rassenlehre baut auf der Evolutionslehre des 19. Jahrhunderts auf. Die Kritik des alten Judentums begründete er mit seinem evolutionären Religionsverständnis und Fortschrittsvertrauen. Da ist er Mensch seiner Zeit.

Was gegen eine unhistorische Überbewertung dieser obskuren Elemente in seinem Werk spricht, ist die universalistische und kosmopolitische Ausrichtung seines Konzeptes. Überhaupt muss man vielleicht die obskuren Elemente in seinem Werk, von den erfahrungsgemäß begründeten und wegweisenden Einsichten trennen.

Steiner und der Nationalsozialismus

Steiner selbst oder die Anthroposophie generell in die Nähe des Nationalsozialismus zu rücken, ist eine Verzerrung. Steiner löste mit seinen Vorträgen und der Eröffnung des "Goetheanums" hasserfüllte Reaktionen völkischer, rechtsnationaler und antisemitischer Kreise aus. Die Anthroposophische Gesellschaft wurde 1935 von den Nazis verboten. Was Nazis aufnahmen, ist die Landwirtschaftsbewegung, die von Steiner ausging. Die passte in ihr völkisches Konzept.

Auf den Münchener Putschversuch Hitlers 1923 reagierte Steiner entsetzt [14]:

Wenn diese Herren an die Regierung kommen, kann mein Fuß deutschen Boden nicht mehr betreten.

Er sprach von einer "großen Verheerung", die über Mitteleuropa kommen könne. Hitler sah in der Anthroposophie einen "Krankheitserreger" und in ihren sozial-politischen Bemühungen eine gezielte "jüdische" Strategie zur Zerstörung Deutschlands.

Zwischen Konservativismus und Sozialismus

In seinem sozial-politischen Konzept grenzt sich Steiner vom libertären Kapitalismus, dem marxistischen Sozialismus und dem völkischen Nationalsozialismus ab und entwickelt einen eigenen, bemerkenswerten Gesellschaftsentwurf ("Die Kernpunkte der sozialen Frage", 1920).

Seine Gesellschaftstheorie ist weder sozialistisch noch konservativ – nimmt aber jeweilige Ideen auf – und bietet interessante Aspekte und Anknüpfungspunkte: Es geht um Selbstbestimmung und Zusammenwirken der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche. Das wurde in den zeitgenössischen Bemühungen des "Dreigliederungsbundes" politisch umgesetzt – die Hitler für "Staatsverbrechen" hielt – auch bei den Waldorf-Schulen, der Demeter-Bewegung verwirklicht und wirkte in Nach-68-ger-Projekte hinein.

Steiner und seine Anhänger – Unterscheidung angebracht?

Steiner ging es wie anderen geistigen Größen. Darf man ihm das, was Anhänger aus ihm machten und machen, zurechnen? Auf jeden Fall lohnt es sich genau hinzuschauen, auf Steiner selbst und seine (angeblichen) Anhänger – und zu unterscheiden. Anthroposophie ist nicht nur Steiner und Anthroposophie keine homogene Gemeinschaft oder Bewegung. So wie Steiners Konzept Ambivalenzen enthält, wird man auch ambivalente Wirkungen seines Denkens finden.

"Orthodoxie" und "Personenkult" bestimmen in nicht geringem Maße das Bild der Anthroposophie. Den Erklärungen Steiners nach lag dies nicht in seinen Absichten. Von den Zuhörern bei seinen Vorträgen vor der Anthroposophischen Gesellschaft verlangte er "eigenes Denken". Dennoch erwartete er, dass sie seinen Denkbahnen zustimmend folgten.

Aus den Niederschriften und den darin erwähnten Fragen an ihn lässt sich kaum auf grundsätzliche Kritik schließen. Bei allem Wandel und Eklektizismus seiner geistigen Positionen blieb er selbst ein eigenständiger Denker, der Zeitströmungen auf seine Weise aufnahm und verarbeitete. Es gibt viele Berührungspunkte zur zeitgenössischen Philosophie, zum Neuhumanismus und zur Psychologie.

Teilweise gehen seine "hellseherischen" Einsichten gar nicht auf übersinnliche Einblicke zurück, sondern auf die Rezeption seiner Literaturquellen – wie Zander nachgewiesen hat.1 [15] Den modischen Spiritismus und Okkultismus (nach der Abwendung von der Theosophie Blavatskys / Besants) lehnte er ab. Interessant sind die sachlichen Konvergenzen mit Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, obwohl er sich gegenüber Freud und Jung mehr skeptisch als zustimmend äußerte. Auch hier: Anknüpfung und "geisteswissenschaftliche" Vertiefung.1 [16]

Steiner – eine komplexe, gefeierte, verehrte, aber auch irritierende und polarisierende Persönlichkeit; sein Gedankengebäude – ebenfalls komplex, mehrdeutig, nicht immer zusammenhängend und widerspruchsfrei, nicht leicht zu überschauen, für die einen faszinierend, für andere finsterer "Okkultismus". Fragen und Widerspruch sind in seiner Person und seinem System angelegt.

Fußnoten

[17] [1] Gesamtausgabe=GA, [digital verfügbar], Band 241, S. 43

[18] [2] GA 261, S. 34

[19] [3] GA 154, S.46

[20] [4] GA 57, S. 195, 216

[21] [5] GA 261, S.16 f.

[22] [6] GA 314, S. 287 f.

[23] [7] GA 314, S. 287 f.

[24] [8] Briefe, Band II, S. 304, 1892—1902

[25] [9] Steiner, Ernst Haeckel und die "Welträtsel", Aufsatz 1899, GA 30 S.393 f.

[26] [10] GA 349, S. 32

[27] [11] Dazu: Helmut Zander, Rudolf Steiners Rassenlehre [28], 2006.

[29] [12] Helmut Zander, Anthroposophie in Deutschland, Bd. 1, Göttingen, 2007

[30] [13] Dazu: R. Steiner, Über die Psychoanalyse I, II, 1917, GA 178, SS. 13 ff.; Gerhard Wehr, C.G. Jung und Rudolf Steiner, 1982.


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[28] http://perso.unifr.ch/helmut.zander/wp-content/uploads/2015/09/Zander-Steiners-Rassenlehre.-Pl%C3%A4doyer.pdf.pdf
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