Rundumprogramm
Muss eine politische Partei Antworten auf alle politischen Fragen geben, wenn sie sich dem Votum der Wähler stellt?
In der Öffentlichkeit wird gegenwärtig etwa von der Piratenpartei erwartet, dass sie nicht nur zu Fragen, die das Internet oder das Urheberrecht betreffen, einen klaren Standpunkt formuliert, sondern auch zur Umweltpolitik, zur Wirtschafts- und Außenpolitik. Das Argument ist, dass die Abgeordneten im Parlament nicht nur zu den Fragen stimmberechtigt sind, die das Hauptthema ihrer Partei sind, sondern dass sie an der Entscheidungsfindung zu allen politischen Tagesfragen im Parlament beteiligt sind - und die Wählenden wollen schon vor ihrer Stimmabgabe wissen, wie sie die Abgeordneten in diesen Situationen entscheiden werden.
Ob dieser Anspruch berechtigt oder realistisch ist, ist natürlich fraglich. Die meisten Entscheidungen, die in der nächsten Legislaturperiode anstehen werden, sind vor der Wahl noch völlig unbekannt, welche Herausforderungen von den Parlamentariern zu meistern sein werden, kann überhaupt noch nicht abgesehen werden. Zwar sind einige grundsätzliche Einstellungen der Kandidaten etwa zu Militäreinsätzen in Krisengebieten oder zur Gestaltung der Wirtschaftsordnung für die Wahlentscheidung nicht unwichtig, aber zu welchen Entscheidungen diese in konkreten zukünftigen politischen Konstellationen führen werden, kann nicht vorhergesagt werden, und schon gar nicht, ob diese dann zu den konkreten Wünschen derer passen, die mit ihrer Wahl dafür gesorgt haben, dass eine Partei ins Parlament einzieht.
Vertrauen in die Entscheidungsfähigkeit und die politische Kompetenz der Parlamentarier ist deshalb wichtiger als jede einzelne Aussage im Wahlprogramm. Die Wähler haben weniger einen Anspruch darauf, dass sie schon vor der Wahl wissen, was ihre Repräsentanten im Einzelnen in den nächsten vier Jahren zu tun beabsichtigen, als vielmehr darauf, eine gewisse Sicherheit zu bekommen, dass ihre Abgeordneten in komplexen Situationen in der Lage sind, ausgehend von ihren politischen Prämissen, plausible und konsistente Entscheidungen zu treffen.
Dafür wäre es wichtiger, dass die verschiedenen Teile eines Wahlprogramms sinnvoll zusammenpassen und nicht im Widerspruch zu einander stehen, als dass das Programm alle Politikfelder abdeckt. Aber gerade in dieser Hinsicht hat etwa das Programm der Piratenpartei noch große Schwächen.
Es ist sicherlich unbestritten, dass die Erweiterung der Partizipation der Bürger im politischen Prozess und die Vergrößerung der Transparenz politischer Entscheidungen zentrale Forderungen der Piratenpartei darstellen. Die Bedingung der Möglichkeit einer Veränderung des politischen Betriebs in diese Richtung sehen die Piraten durch die Verfügbarkeit der notwendigen Informationen für alle Bürger einschließlich jederzeit möglicher Interaktion (Befragung, Abstimmung, Meinungsäußerung, Mitbestimmung). Die Infrastruktur dafür stellt das Internet und die mobilen Kommunikationstechnologien bereit, die immer und überall stabil zur Verfügung stehen. Diese Technologien sind der Grund dafür, dass die bisherige Form der repräsentativen Expertendemokratie wirklich und effektiv durch eine transparente Demokratie der Bürgerbeteiligung ersetzt werden kann.
Energieversorgungspolitik und Zukunft der partizipativen Demokratie
So weit, so gut. Vor diesem Hintergrund sind allerdings die Aussagen im Wahlprogramm zum Atomausstieg überraschend. Natürlich kann man ganz unabhängig von den Hoffnungen, die man über eine zukünftige Demokratie hat, Sorgen über die Sicherheit einer Energieversorgungstechnik haben und deshalb nach Alternativen suchen. Die Piratenpartei fordert jedoch einen Ausstieg aus der Kernenergie innerhalb von drei Jahren. Bedenkt man, dass schon heute die Versorgungssicherheit und -Stabilität durch die bisherigen Abschaltungen gefährdet ist, ist ein überstürztes weiteres Abschalten von Kraftwerken ohne hinreichende Sicherheit, dass alternative Versorgungssysteme stabil funktionieren, mit der großen Rolle, die die Piraten dem Internet beimessen, unvereinbar.
Gerade wenn die Informations-Infrastruktur eine so große Rolle spielen soll für das Funktionieren der Demokratie, dürfte eine radikale Veränderung der Energieversorgung nur mit größter Vorsicht und eher bedächtig als übereilt vorangetrieben werden. Denn das Netz, seine Server, Verteilungssysteme und Funkmasten, brauchen vor allem eines, eine absolut stabile, unterbrechungsfreie Energieversorgung. Eine Demokratie, die nur auf der Basis zeitnaher Partizipation aller interessierten Bürger via Internet und mobiler Kommunikationstechnik funktioniert, kann der Gefahr eines tage- oder wochenlangen Blackouts ausgesetzt werden. Energieversorgungspolitik und Zukunft der partizipativen Demokratie hängen eng zusammen, wenigstens an solchen Stellen müssen die Piraten Prioritäten setzen und Abhängigkeiten in ihre politischen Ziele einbauen – sonst machen sie sich unglaubwürdig.
Vielleicht meinen die Aktivisten innerhalb der Piratenpartei, dass die Sicherheit der Energieversorgung nur eine Frage der Technik ist, dass intelligente Software und dynamische Netze diese Probleme lösen können. Das mag sogar richtig sein. Die Erfahrungen technologischer Großprojekte der letzten Jahre sollten aber auch denjenigen, die bezüglich technischer Lösungen eher euphorisch veranlagt sind, gelehrt haben, dass solche Systeme Kinderkrankheiten haben und bis zu ihrem stabilen Funktionieren eben Zeit brauchen.
Das Beispiel zeigt, dass es der Piratenpartei gegenwärtig weniger an Antworten auf politische Fragen fehlt, als an vernünftigen, zusammenhängenden Konzepten. Das Programm besteht aus einer Sammlung schöner Wünsche und Visionen, die beziehungslos nebeneinander stehen. Verantwortungsvolle Politik besteht aber darin, auf den verschiedenen Handlungsfeldern Ziele zu verfolgen, die einander nicht widersprechen, sondern aufeinander abgestimmt sind. Voraussetzung dafür ist, dass Programmteile nicht "aus dem Bauch heraus" zusammenhangslos aneinander gereiht werden, sondern dass geprüft wird, welche Auswirkungen ein Ziel auf die Erreichbarkeit anderer Ziele hat.
Man könnte entgegnen, dass die Piratenpartei in dieser Frage nicht schlechter aufgestellt ist als manch andere, etablierte Partei. Das mag richtig sein, aber die Piraten waren ja mit dem Anspruch angetreten, anders Politik machen zu wollen als die etablierten. Und zu einer transparenten Klarheit gehört auch, dass politische Ziele nicht nur schöne Wünsche sind, die man gern hört, sondern dass sie durchdacht und plausibel sind.