Russische Duma-Wahl mit ungewöhnlicher Transparenz
Vertrauen schaffen durch Offenheit. Während die Wähler noch an die Wahlurnen gehen, lässt die Leiterin der Zentralen Wahlkommission Ella Panfilowa angebliche Wahlfälschungsvideos im Fernsehen vorführen
Sonntagmittag im Wahllokal Nr. 2883 im Westen von Moskau. Ein junger Mann kommt zum Registrierungstisch im Wahllokal und erklärt stolz, er komme das erste Mal zu einer Wahl. Die Dame hinter dem Tisch lächelt freundlich, prüft das Geburtsdatum in seinem Pass und überreicht ihm ein kostenloses Ticket für ein Open-Air-Konzert am Wahlabend auf dem Moskauer Verneigungshügel. Alle Wähler der Jahrgänge 1996 und 1997 bekämen so ein kostenloses Ticket, erklärt mir die Dame, die Mitglied der Wahlkommission ist.
Die russische Regierung und der Kreml sind an einer hohen Wahlbeteiligung interessiert. Aber dass es insbesondere unter den Jungwählern keine Wahlbegeisterung gibt, sieht man am Sonntagmittag in den Wahllokalen. Es sind vor allem ältere Bürger, die zu diesem Zeitpunkt ihre Stimme abgeben.
Insgesamt ruhiger Wahltag
Nach den bisherigen Berichten (Sonntag 17:00) gab es bei den Wahlen in über 40 russischen Regionen Störungen und Fälschungsversuche. Im Großen und Ganzen war es jedoch ein ruhiger Wahltag. Um 14 Uhr lag die Wahlbeteiligung landesweit bei 33 Prozent, was mit der Beteiligung vorheriger Wahlen vergleichbar ist. Um 21 Uhr Moskauer Zeit (20 Uhr deutscher Zeit) schließt das letzte Wahllokal in Russlands Westen, im Gebiet Kaliningrad.
Gewählt wird an diesem Sonntag nicht nur das nationale Parlament, die Duma. In 39 Regionen finden gleichzeitig Wahlen zu Gebietsparlamenten, und in sieben Regionen Gouverneurswahlen statt. Außerdem werden 5.000 Bezirksräte neu gewählt.
In Kiew und Odessa kam es vor den Botschaften der Russischen Föderation, wo Wahlurnen für russische Staatsbürger aufgestellt waren, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, weil ukrainische Nationalisten die Botschaft belagerten und Wähler angriffen (ukrainische Fernsehbericht aus Kiew, Minute 1:20).
"Nicht alles kann erfüllt werden"
Vor dem Moskauer Wahllokal 2883 frage ich eine 48-jährige Frau, die von ihrer Tochter begleitet wird, warum sie "Einiges Russland" gewählt hat. Ob denn diese Partei ihre Versprechen erfüllt habe. Die Dame antwortet: "Nicht alles kann man erfüllen. Aber es gibt wenigstens Stabilität." Ein 50-Jähriger, der von seiner Frau begleitet wird, erklärt, er habe Jabloko gewählt. In Russland werde "nichts produziert", schimpft der Mann, alle wollte nur Manager sein, aber nicht arbeiten. Der russische Markt müsse geschützt werden. Warum er dann nicht die KPRF gewählt habe, will ich wissen. "Die KPRF ist eine Filiale von Einiges Russland", lautet die Antwort. Eine vom Kreml unabhängige Politik traut er der KPRF nicht zu.
Für die Jugend sei die Situation sehr schwierig. Sein Sohn habe ein Best-Zeugnis und sei ausgebildeter Ingenieur. Im ersten Jahr in einem Bergwerksbetrieb 500 km südlich von Moskau habe er aber nur Müll zusammengefegt. In Deutschland bekäme man dagegen einen Job, welcher der Qualifikation entspricht, habe er von seiner Cousine in Hannover gehört.
Im Wahllokal komme ich durch Zufall mit einer 89-Jährigen ins Gespräch. Die Dame wiederholt mehrmals: "Ich wähle die Sowjetmacht". Ihre Tochter fülle ihren Wahlzettel aus. Ob sie denn politisch einer Meinung seien, will ich wissen. "Nicht immer", meint die alte Dame, die aber offenbar trotzdem volles Vertrauen hat, dass die Tochter den Wahlzettel korrekt ausfüllt.
Nachwirkungen der Protestbewegung von 2011
Das erste Mal seit 2003 werden die Wahlen in Russland wieder nach dem gemischten Wahlsystem durchgeführt, eine Hälfte der 450 Abgeordneten wird nach Parteilisten, die andere Hälfte als Direktkandidaten gewählt. Ein Zugeständnis an die Protestbewegung von 2011/12, die sich an offensichtlichen Wahlfälschungen entzündete, ist auch die Senkung der Parteien-Sperrklausel von sieben auf fünf Prozent. 14 Parteien stehen diesmal zur Wahl, statt nur sieben 2011.
Nach den Meinungsumfragen werden die vier in der Duma vertretenen Parteien (Einiges Russland (ER), Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), die Liberaldemokratische Partei (LDPR) von Wladimir Schirinowski und die sozialdemokratische Partei Gerechtes Russland (GR) wieder in das Parlament einziehen. Von den Personen, die sich für eine Stimmabgabe entschieden hatten, wollten laut Umfrage des Lewada-Zentrums 50 Prozent für Einiges Russland, 15 Prozent für KPRF, 14 Prozent für die LDPRD und neun Prozent GR wählen.
Von den zehn anderen Parteien, darunter Grüne, Kommunisten Russlands (eine Linksabspaltung der KPRF), die rechtsliberale Parnas, die sozialliberale Jabloko-Partei und die ultrapatriotische Rodina-Partei, kommt nach der Ende August durchgeführten Umfrage keine über zwei Prozent der Stimmen.
Fälschungsvorwürfe im Gebiet Altai sollen untersucht werden
Wenn sich die Wahlfälschungsvorwürfe im Gebiet Altai bestätigen, werde man die Wahlen dort annullieren, drohte die neue Leiterin der Zentralen Wahlkommission (ZIK), Ella Panfilowa.
Die ZIK-Chefin wendet erstaunliche Methoden an, um die Wahlfälschungen in Russland vorzubeugen. Heute stellte sie in Fernseh-Live-Übertragenen die per Video zugeschalteten Vorsitzenden regionaler Wahlkommissionen zur Rede. Im Internet waren Videos aufgetaucht, die angeblich Fälschungen in Wahllokalen oder Vorbereitungen zu Fälschungen belegen.
Gestellte Fälschungs-Videos?
Der Leiter der Zentralen Wahlkommission des Gebietes Rostow, Sergej Jusow, erklärte im Fast-Verhör durch Panfilowa, ja, er habe das Video zu den Vorfällen im Wahllokal 1958 gesehen. Aber es gäbe keine hundertprozentige Sicherheit, "dass das ein Wbros (massenhaftes Einwerfen gefälschter Wahlzettel, U.H.) war, aber es sah so ähnlich aus". Man habe bereits "Maßnahmen" ergriffen. Die Wahlurne sei versiegelt und "zur Seite gestellt" worden.
Bei der Rossija-24-Live-Übertragung aus der Zentralen Wahlkommission ließ Panfilowa auch Videos aus dem sibirischen Altai-Gebiet vorführen, die im Internet aufgetaucht waren und angeblich geplante Wahlfälschungen bestätigen. Die Leiterin der örtlichen Wahlkommission, Irina Akimowa, wurde in der Live-Übertragung zur Rede gestellt. Sie erklärte, die Videos seien gestellt. Auch Panfilowa meinte, es fehlten eindeutige Fakten, wie erkennbare Gesichter und Pass-Daten. Die ZIK-Leiterin forderte Polizei und Staatsanwaltschaft auf, Ermittlungen aufzunehmen.
Bei den Videos ging es um Vorbereitung zur sogenannten "Karussell-Methode". Bei dieser Methode fahren Gruppen von bezahlten Personen Wahllokale ab und stimmen mehrmals ab. Dabei nehmen sie sogenannte Wahlberechtigungsscheine zur Hilfe. Diese werden an Personen ausgegeben, welche am Wahltag aus persönlichen oder beruflichen Gründen nicht im heimatlichen Wahlbezirk abstimmen können. Panfilowa erklärte, die Karussell-Methode könne nur begrenzt Schaden anrichten. Im ganzen Land seien nur wenige Wahlberechtigungsscheine ausgegeben worden. In Moskau hätten nur 0,37 und im Moskauer Gebiet nur ein Prozent der Wähler Wahlberechtigungsscheine erhalten.
ARD: Russische Führung hat kein Interesse an hoher Wahlbeteiligung
Es ist für Russland höchst ungewöhnlich, dass hohe Beamte Videos mit belastendem Material, bevor eine polizeiliche und staatsanwaltliche Ermittlung begonnen hat, ins Internet stellen. Doch offenbar ist es das Ziel der neuen Leiterin der Zentralen Wahlkommission, das Vertrauen der Bürger und der internationalen Öffentlichkeit in den Wahlprozess zu erhöhen und das Abrutschen der Wahlbeteiligung in wenige aussagekräftige Größen von 30 bis 40 Prozent zu verhindern.
Einige Beobachter aus Deutschland wie Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik erklärten, sie hätten in Moskau wenig Wahlplakate gesehen. Eine Sprecherin der ARD-Tagesschau erklärte gar, der Kreml habe wohl an einer hohen Wahlbeteiligung kein Interesse (Minute 1:00). Das Gegenteil ist der Fall. Eine hohe Wahlbeteiligung ist wichtig für das Ansehen nicht nur des Parlaments, sondern auch für das Putins im In- und Ausland.
Hausbesuche von Partei-Vertretern
Der Autor dieser Zeilen wohnt im Westen Moskaus und kann bestätigen, dass es vor der Wahl in seinem Briefkasten fast täglich neue Wahlwerbung von Parteien und Direktkandidaten gab. In seinem Haus tauchten sogar Vertreter der Duma-Parteien "Einiges Russland" und LDPR auf, die sich nach den Sorgen und Nöten der Hausbewohner erkundigten.
Täglich gab es im Fernsehkanal Rossija 24 zwei Wahldebatten mit Vertretern von vier und mehr Parteien. Außerdem kämpften die Parteien in dem Stadtteil im Westen Moskaus auch mit modernen Agitations-Ständen um Wählerstimmen. Es stimmt also nicht, wenn behauptet wird, die Macht in Russland habe kein Interesse an einer hohen Wahlbeteiligung.
Sicher ist wohl, dass es bei den Russen eine Wahlmüdigkeit gibt. Die Menschen setzen vor allem auf Putin und sie wissen, dass die Duma kaum eigene politische Akzente setzt. Parlamentsdebatten schaffen es nur höchst selten in die Abendnachrichten.