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Russland: Angriffe auf liberales Abtreibungsrecht

Feministinnen in Jekatarinburg, 2019. Bild: ИванА, CC BY-SA 4.0

Konservative attackieren Recht auf Abbruch von Schwangerschaften. Regierungspartei und Kirche einig. Was das mit der Propaganda einer "russischen Welt" und der Sowjetunion zu tun hat.

Mit dem Angriff auf die Ukraine hat in Russland die Propaganda einer "russischen Welt" zunehmend auch innenpolitische Konsequenzen. Dazu gehört eine regressive Umgestaltung der Lehrprogramme an Schulen und Universitäten, wo "patriotische" Inhalte gestärkt werden sowie eine Frontstellung gegen jede effektiv arbeitende Opposition. Das trifft zunehmend auch Feministinnen.

Frauenrechte aus sowjetischer Tradition

In einem frauenpolitischen Bereich herrschen aber aktuell noch erstaunlich liberale Regelungen: Beim rechtlichen Rahmen für Abtreibungen. Eine Abtreibung wird, wie auch das regierungskritische exilrussische Onlineportal Meduza bestätigt [1], auf Wunsch der Frau bis zur zwölften Schwangerschaftswoche vorgenommen.

Tritt die Schwangerschaft infolge einer Vergewaltigung ein, verlängert sich diese Frist bis zur 22. Schwangerschaftswoche. Bei medizinischer Indikation, also eine Gefährdung von Gesundheit oder gar Leben der Schwangeren, fällt die Frist ganz weg.

Es handele sich, wie Meduza feststellt, "immer noch um eines der liberalsten (Abtreibungsrechte) der Welt". Die Kosten eines Aborts trägt bei entsprechender Indikation die Krankenversicherung. Dies gilt nicht bei Durchführung in einer Privatklinik, die vermögendere russische Frauen aufgrund des guten Rufs der dortigen Versorgung bevorzugen.

Dieser erstaunliche Liberalismus geht auf die Sowjetunion zurück, die als erstes Land in Europa die Abtreibung 1920 legalisierte. Ab den 1930er-Jahren gab es neue Einschränkungen, die unmittelbar zu mehr illegalen Schwangerschaftsabbrüchen führten.

Nach Stalins Tod kam es 1955 zu einer erneuten Entkriminalisierung, um diese illegale Praxis einzudämmen und Frauen vor Schäden durch unprofessionelle Eingriffe zu schützen.

Angriff von Konservativen und Kirche

Konservativen Kreisen in Russland, die aktuell einen großen Einfluss auf die Politik haben, war die großzügige Regelung in den letzten Jahren zunehmend ein Dorn im Auge. Vor allem die russisch-orthodoxe Kirche engagiert sich in den Reihen der Abtreibungsgegner, ähnlich wie ihr katholisches Gegenstück im Westen, etwa im abtreibungsfeindlichen Polen.

Die konservative Wende in Russland führt auch dazu, dass die vormalige Minderheitenposition, Abtreibungen generell verbieten zu wollen, von vier Prozent (2016) auf 13 Prozent (2022) der Bevölkerung anstieg [2].

Gleichzeitig hat die Quote der Russinnen und Russen, die den Schwangerschaftsabbruch als alleinige Entscheidung der Frau sehen, zugenommen und liegt nun bei 36 Prozent. Eine dritte Gruppe möchte Abtreibungen nur bei bestimmten Indikationen genehmigt sehen. Das Thema spaltet die russische Gesellschaft zunehmend.

Einen aktuellen Anlass für eine konservative Kehrtwende gab es bei den Abtreibungszahlen nicht. Die noch um das Jahr 2000 sehr hohe Zahl der Schwangerschaftsabbrüche ist in den letzten zwanzig Jahren schließlich auf etwa ein Viertel zurück der damaligen Zahl zurückgegangen [3].

Die russische Gesundheitsministerin Igorewna Skworzowa führt als Grund dafür mehr Beratungsangebote für Schwangere an. Zudem haben sich auch moderne Verhütungsmethoden verbreitet, solange ein Kinderwunsch bei Paaren noch nicht besteht.

Doch die reaktionären Abtreibungsgegner, die gerade in Putins Regierungspartei "Einiges Russland" viel Einfluss haben, lassen sich dadurch nicht beirren. Rückenwind spüren sie auch infolge des großen demografischen Problems Russlands, das sich im Zuge der Ukraine-Invasion noch verstärkt hat.

Die aktuelle Elterngeneration der in den 90er-Jahren Geborenen ist durch die damals schlechte wirtschaftliche Lage vieler Russen nicht besonders groß, was direkte Auswirkungen auf die Geburtenrate hat. Putin selbst sprach in diesem Zusammenhang 2011 von "Pflichten im Kontext der Lösung demografischer Probleme".

Bevölkerungsrückgang in Russland heizt Debatte über Abtreibungen an

Hier versuchte die russische Regierung in früheren Jahren zunächst nur mit besseren Sozialleistungen für Kinder gegenzusteuern, etwa einem Mutterschaftsbonus bei Geburt. Nun ist allerdings auch die Zuwanderung vor allem aus Mittelasien zurückgegangen, die die geringe Geburtenquote lange Zeit ausgeglichen hat. Das ist eine direkte Folge des Krieges und verstärkt das Problem der sinkenden Gesamtbevölkerung Russlands.

Eine aktive Kämpferin gegen die Abtreibung ist die Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für Familien, Frauen und Kinder, Jelena Misulina, die der Regierungspartei "Einiges Russland" angehört. Misulina ist auch für erhebliche Einschränkungen der Arbeit von LGBTQ-Organisationen in Russland verantwortlich. Sie fordert etwa [4] für Abtreibungen eine schriftliche Einverständniserklärung des Ehemanns – eine Position, die auch die russisch-orthodoxe Kirche vertritt [5].

Die Geistlichen gehen aber noch weiter. Patriarch Kyrill will die Abtreibung aus dem Leistungskatalog der russischen Krankenversicherung streichen lassen [6] und den beliebten Privatkliniken als Alternative die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen untersagen.

Der Verkauf von Verhütungsmitteln im Einzelhandel soll nach dem Willen der Kirche [7] verboten werden. Eine erste Gesetzesinitiative, Abtreibungen nicht mehr staatlich zu finanzieren, scheiterte 2015 am Widerstand des Gesundheitsministeriums. Das Ministerium gab zu bedenken, dass es bei weiteren Einschränkungen zwangsläufig zu einem Anstieg gefährlicher illegaler Abtreibungen kommen könnte.

Wissenschaftlerin: Zahl der Abtreibungen rückläufig

So findet mit der konservativen Offensive in Russland ein Kampf gegen das Abtreibungsrecht in einer Zeit statt, "in der die Zahl der Abtreibungen von selbst zurückgeht", wie Meduza unter Berufung auf die Anthropologin Michele Rivkin-Fish schreibt. Zusätzlich lässt dieser Kampf der Konservativen historische Lehren aus der russischen Geschichte einfach außer Acht – dass weniger Verhütung und Kriminalisierung der Abtreibung zu mehr illegalen Abbrüchen mit hohen gesundheitlichen Risiken führt.

Ähnlich wie der Krieg gegen die Ukraine bleibt der harte Kurs im liberalen, urbanen Teil der russischen Bevölkerung nicht ohne Widerstand. So kam es im Januar [8] in der westsibirischen Metropole Tscheljabinsk zu einer Kundgebung von Feministinnen gegen ein Abtreibungsverbot. An der wichtigsten Flaniermeile wurde ein Banner mit der Parole "Ein Abtreibungsverbot ist Mord an Frauen" aufgespannt.

Auch über die rigide Abtreibungspolitik in Teilen der USA oder in Polen und etwa den folgenden "Abtreibungstourismus" gibt es in russischen Zeitungen noch sehr offene, kritische Berichte [9]. Diese erscheinen in einer Zeit großer Repressionen gegen die Presse nicht ohne Hintergedanken: Kritik an westlichen Zuständen ist immer erlaubt.

Es ist möglich, dass solcher Widerstand und die mehrheitliche Einstellung der russischen Bevölkerung den konservativen Kurs zumindest in diesem frauenpolitischen Bereich bremsen. Solcher Widerstand hat in Russland bis heute immer dann einen besseren Stand, wenn er sich auf sowjetische Traditionen berufen kann.

Denn in der "russischen Welt" schwingt unterschwellig immer auch eine Portion Sowjetnostalgie mit. Schlechter stehen die Zeichen bei frauenpolitischen Themen ohne eine solche Tradition, denn der westlich geprägte Feminismus zählt zu den eindeutigen Feindbildern bei Russlands regierenden Konservativen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-8116215

Links in diesem Artikel:
[1] https://meduza.io/feature/2022/06/26/kak-pravo-na-aborty-stalo-instrumentom-politicheskoy-borby-i-kak-zhenschiny-po-vsemu-miru-boryutsya-za-pravo-rasporyazhatsya-svoim-telom
[2] https://wciom.ru/analytical-reviews/analiticheskii-obzor/preryvanie-beremennosti-za-protiv-i-kakova-rol-gosudarstva
[3] https://ria.ru/20191204/1561971204.html
[4] https://laender-analysen.de/russland-analysen/338/ist-die-genderpolitik-in-russland-konservativ/
[5] https://tass.ru/obschestvo/16890723
[6] https://ria.ru/20220517/aborty-1789055285.html
[7] https://www.ng.ru/news/761300.html
[8] https://www.kommersant.ru/doc/5760895?query=%D0%B0%D0%B1%D0%BE%D1%80%D1%82%D1%8B
[9] https://www.kommersant.ru/doc/5358042?query=%D0%B0%D0%B1%D0%BE%D1%80%D1%82%D1%8B