Russland: Ein Imperium, viele Namen

Andrii Vlasov

Putin mit Vertreter von Patriarch Kyrill. Bild: kremlin.ru, CC BY 4.0

Der Drang Russlands zur Expansion hat sich seit Zarenzeiten nicht gelegt. Deswegen beziehen sich auch Putins Ideologen auf diese Epoche. Warum das für den Blick gen Moskau wichtig ist. (Teil 1)

Im Kontext des Krieges Russlands gegen die Ukraine stellen sich Forscher, Analysten und Journalisten weltweit die Frage nach den Ursachen dieses Krieges. Telepolis ging in diesem Zusammenhang jüngst auf die ideologischen Grundlagen des modernen Russlands ein.

Heute biete ich aus ukrainischer Sicht eine Ergänzung zu dieser und anderen Beiträgen an. Dies soll den Lesern helfen, nicht nur die Ursprünge des gegenwärtigen Krieges zu verstehen, sondern auch ihre eigenen Schlussfolgerungen darüber zu ziehen, was von Russland in der Zukunft zu erwarten ist.

Das letzte Imperium der Welt

Russland ist das letzte klassische Imperium der Welt, dessen Zweck und wichtigste Daseinsberechtigung die ständige territoriale Expansion ist.

Dies ist das Hauptmotiv der die Außen- und Innenpolitik des Landes und der Hauptgrund für die Kriege, die Russland in den letzten Jahrzehnten entfesselt bzw. angezettelt hat.

Andrii Vlasov, Experte für digitales Marketing und Kommunikation, Mitglied des Journalistenverbandes der Ukraine.

Betrachtet man die Geschichte der Länder des alten Europas, so haben sie alle die Phase des Imperialismus, der territorialen Expansion, der Diktaturen und der Kriege, die wegen territorialer Ansprüche gegeneinander geführt wurden, durchlaufen.

Viele Länder des alten Europas hatten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Kolonien in Afrika, Südostasien und Südamerika. Jahrhunderts Kolonien in Afrika, Ostasien und Südamerika. Erst nach Jahrhunderten zerstörerischer Kriege, gegenseitiger Gebietsansprüche und nationaler Unzufriedenheit waren die europäischen Länder kriegsmüde.

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Meines Erachtens haben aber noch zwei weitere Umstände wesentlich zur Ablehnung militärischer Gewalt in Europa beigetragen: Die Länder, die Kolonien hatten, gaben sie auf.

Das waren und sind übrigens die einflussreichsten Länder in Europa. England, Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien, Portugal. Der Verzicht auf Kolonien bedeutet eine Verlagerung des Schwerpunkts. Das Land konzentriert sich auf sich selbst, auf die Verbesserung der Effizienz seiner Wirtschaft, der Bildung, der Wissenschaft, der Lebensqualität der Menschen innerhalb seiner historischen Grenzen.

Alle Länder in Europa überdenken ihre Vergangenheit und die Fehler, die zu Kriegen geführt haben.

Das gilt besonders für die größten Länder Europas. Sie werden kein Land in Europa finden, das seine koloniale Vergangenheit verherrlicht, welches die Sklaverei in der Vergangenheit und die unmenschliche Behandlung der Völker der kolonisierten Länder, den Nationalsozialismus und die Fremdenfeindlichkeit gutheißt.

Großbritannien, Frankreich und Deutschland sind die deutlichsten Beispiele für die Neudefinition ihrer Vergangenheit und die Wiedergutmachung.

Der derzeitige britische Premierminister Rishi Sunak ist Punjabi und ein religiöser Hindu. Er regiert ein Land, das vor 80 Jahren die Heimat seiner Vorfahren kolonisiert hat.

Frankreich wurde zur Heimat von Millionen von Flüchtlingen, Migranten aus den afrikanischen Ländern, die es einst kolonisierte. Und heute sind viele Einheimische aus diesen Ländern erfolgreich in verschiedenen Bereichen des französischen Lebens tätig.

Deutschland hat den Weg der Reue über die Folgen des Nationalsozialismus beschritten und geht ihn weiter. Es hat die Verbrechen voll anerkannt und Konsequenzen aus seiner Vergangenheit gezogen.

All dies ist der Hauptgrund für den Erfolg der europäischen Länder. Anstatt um Territorien und Ressourcen zu kämpfen, haben die europäischen Länder den Weg der Zusammenarbeit, der gegenseitigen Unterstützung und der Verbesserung der Lebensqualität der Menschen in ihren Ländern gewählt. Für die Europäer ist es viel teurer zu kämpfen, als in Frieden zu leben.

Das einzige Imperium, das seine Fehler und Verbrechen der Vergangenheit nie eingestanden hat, ist Russland.

Vielleicht sehen Sie jetzt die Geschichte dieses Landes mit anderen Augen. Am 30. August 1721 proklamierte sich der russische Zar Peter I. zum Kaiser und das Land erhielt den Namen Russisches Reich (früher Moskowien, das Moskauer Reich).

Von diesem Zeitpunkt an bis heute hat das Russische Reich zwar seinen Namen, nicht aber sein Wesen geändert. Die Sowjetunion und die heutige Russische Föderation (RF) sind im Grunde auch das Russische Reich, nur unter anderem Namen. Seine Hauptziele waren immer die gleichen:

Russlands Expansionismus und die Rolle der Orthodoxie

Die Sowjetunion kämpfte mit Finnland und China um Territorien. Und die Länder des Warschauer Paktes, einschließlich der ehemaligen DDR, wurden zwangsweise dem "sozialistischen Lager" zugeschlagen (man erinnere sich an die Aufstände in Ungarn 1956 und in der Tschechischen Republik 1968).

Auch die Russische Föderation hat während ihrer gesamten Existenz um Territorien gekämpft. In den Tschetschenien-Kriegen starben 11.000 russische Soldaten und bis zu 40.000 Zivilisten.

Und alle militärischen Konflikte in den Ländern der ehemaligen UdSSR werden von den Nachrichtendiensten der Russischen Föderation angezettelt. Abchasien, Transnistrien, Südossetien, die ukrainischen Regionen Donezk und Lugansk – überall gab es bewaffnete Angriffe Russlands.

Sprachliche und kulturelle Expansion im Russischen Reich

Dieser Trend ging einher mit einem Ethnozid an der einheimischen Bevölkerung, Marginalisierung der Kulturen, der Bräuche und Sprachen der Völker, die das Imperium bewohnten. Und dem Zwang zum Erlernen der russischen Sprache sowie dem Verbot des Gebrauchs der Nationalsprachen.

So wurde die ukrainische Sprache im Russischen Reich mehrfach vollständig verboten: ihr Studium, Unterricht, Buchdruck, Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften.

In der Sowjetunion wurden anstelle offizieller Verbote Bedingungen geschaffen, unter denen die ukrainische Sprache und die Sprachen anderer Völker rasch aus allen Lebensbereichen verdrängt wurden.

So wurde 1958 in Artikel 20 der Grundlagen der Gesetzgebung der UdSSR und der Unionsrepubliken über das nationale Bildungswesen eine Bestimmung über die freie Wahl der Unterrichtssprache und das Erlernen aller Sprachen außer Russisch auf Antrag der Eltern der Schüler verankert.

Mit anderen Worten: Russisch war obligatorisch, die Landessprachen waren fakultativ.

Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass die Sowjetunion ein anderes politisches System hatte als vor oder nach ihrer Gründung und ihrem Zerfall. Das politische System ist nur eine Projektionsfläche, ein Instrument, um die oben genannten Endziele des Imperiums zu erreichen.

Die Russische Welt und die Rolle der Kirche

Wenn man nun weiß, dass das Russische Reich im Grunde nicht untergegangen ist, sondern nur seinen Namen geändert hat, versteht man die Grundlage aller Ideologen des russischen Nationalsozialismus.

Iljin, Prochanow, Dugin und andere Philosophen, deren Ideen von Putin und der gesamten politischen Elite Russlands benutzt werden, sind von der Idee Russlands als Imperium inspiriert.

Diese Philosophen sind ausgesprochene Faschisten und machen daraus keinen Hehl. Und sie stellen sich das Verhalten und die Außenpolitik Russlands in Übereinstimmung mit dieser Vision vor.

Die gleiche imperiale Vision ihres Landes ist tief in den Köpfen der einfachen russischen Bürger verwurzelt, nicht nur derer, die in Russland leben, sondern auch derer, die im Ausland leben.

Einige Wissenschaftler meinen, die ideologische Grundlage des russischen Imperialismus sei die Orthodoxie. Ich stimme dieser Behauptung nur teilweise zu. Die Religion ist in Russland nur ein Instrument der Staatsmacht.

Seit mindestens 300 Jahren steht die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) de facto unter staatlicher Kontrolle. 1721 rief Zar Peter I. den sogenannten Heiligen Synod ins Leben – das höchste Leitungs- und Rechtsorgan der Russisch-Orthodoxen Kirche, das seine Tätigkeit unter der Kontrolle und mit Billigung der Staatsmacht des Russischen Reiches ausübte.

Zum Synod gehörte auch der Oberprokurator, ein vom Kaiser ernannter weltlicher Beamter.

In der UdSSR wurde die Praxis der Kontrolle des religiösen Lebens noch intensiviert. Zunächst wurden alle Religionen verboten und Kirchen massenhaft zerstört. Doch 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, beschloss Stalin – ein ehemaliger Student des Theologischen Seminars –, die Möglichkeiten der ideologischen Einflussnahme auf die Bürger der UdSSR zu verstärken, und 1943 wurde die Wahl des Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche erlaubt.

Von diesem Zeitpunkt an stand die Russisch-Orthodoxe Kirche unter vollständiger Kontrolle des sowjetischen und später des russischen Sicherheitsdienstes.

Viele Priester mussten mit dem KGB zusammenarbeiten und hatten eigene Decknamen. Dies verstärkte die Fähigkeit der sowjetischen und später russischen Sicherheitsdienste, ihre Aktivitäten außerhalb Russlands auszuüben, insbesondere in allen europäischen Ländern, in denen es Gemeinden der Russisch-Orthodoxen Kirche oder ihr angeschlossener Kirchen gibt.

Andrii Vlasov ist Experte im Bereich digitales Marketing und Kommunikation. Er ist Mitglied des Journalistenverbandes der Ukraine. Zusammen mit seiner Frau, seinen Kindern und seinem Vater lebt er seit 2022 in Deutschland.


Redaktionelle Anmerkung: Die Bildunterschrift wurde korrigiert.