Russland: Vom FrauengefÀngnis an die Front
Wachturm in Pensa, Russland. Bild: Pavel Neznanov / Unsplash Licence
FĂŒr den Ukraine-Krieg werden Frauen in russischen GefĂ€ngnissen rekrutiert. Was steckt dahinter? Telepolis sprach mit Olga Romanova von der Gefangenenhilfsorganisation "Russland hinter Gittern"
Die Verluste beider Seiten im Ukraine-Krieg sind hoch. Nachdem seit dem Herbst 2022 offiziell vonseiten der russischen Behörden in Strafanstalten mit dem Anreiz Straffreiheit rekrutiert wird, findet das Anwerben von Freiwilligen nun auch in Haftanstalten fĂŒr Frauen statt. Telepolis sprach ĂŒber die Rekrutierungsaktion und die BeweggrĂŒnde der Freiwilligen mit der russischen Journalistin und Menschenrechtlerin Olga Romanowa.
Angesichts des verlustreichen Krieges: Warum gehen russische Frauen aus Haftanstalten freiwillig an die Front? Ist der Grund eher die Situation in russischen GefÀngnissen oder der Wunsch nach Rehabilitierung?
Olga Romanowa: Es gibt nicht nur einen Grund. Die MĂ€nner kamen schon frĂŒher in den Krieg, vor allem wegen der schlechten Situation in den GefĂ€ngnissen. Die MĂ€nner interessieren sich weder fĂŒr das Geld noch fĂŒr die Ideologie. Auch die Frauen kommen aus unertrĂ€glichen VerhĂ€ltnissen, streben nach Freiheit. Sie wirken aber viel ideologisierter.
Warum ist das so?
Olga Romanowa: Frauen- und MĂ€nnergefĂ€ngnisse sind unterschiedliche Welten, wenn auch beide mit sehr grausamen Regeln. Aber bei den MĂ€nnern gibt es unsichtbare rote Linien, die WĂ€rter nicht ĂŒberschreiten können, ohne einen Aufstand zu riskieren. Das gibt es bei den Frauen nicht. Keine roten Linien, keine AufstĂ€nde und keine interne Hierarchie.
Es ist deswegen bei den Frauen einfacher, sie dazu zu bringen, mit allem einverstanden zu sein. Jede kĂ€mpft fĂŒr sich und man kann sie einfacher unter Druck setzen. In Bezug auf ihre Kinder oder indem man ihnen einfach die Damenbinden verweigert.
Aber warum sind sie als Freiwillige von der Propaganda stÀrker durchdrungen?
Olga Romanowa: In MĂ€nneranstalten gibt es Handys, Drogen. Es findet alle erdenkliche, eigentlich verbotene Kommunikation mit der AuĂenwelt statt. Bei den Frauen ist der Fernseher die einzige Kommunikation nach drauĂen.
Man zeigt ihnen nur Patriotisches, wo jeder sein Leben fĂŒr das Vaterland geben will. Anderes dĂŒrfen sie nicht schauen. Sie werden "zombifiziert". Sie wollen wie die Filmhelden an die Front gehen, notfalls sterben.
Wenn man der in Russland von oben vorgegebenen sehr konservativen Ideologie der "Russischen Welt" folgt, dann besteht die Rolle der Frau eher nicht darin, stark zu sein. Der moderne Feminismus wird ja abgelehnt. Wie kann da die Soldatin zum Ideal werden?
Olga Romanowa: In der GefÀngniskultur der Frauen existiert das Bild der starken Frau weiter. Da gibt es beispielsweise auch offen lesbische Frauen. Sie stehen an der Spitze der ErnÀhrungskette.
Man muss generell sagen, dass sehr verschiedene Frauen in Haft sind. Solche, die gar nicht mit den Behörden kooperieren, egal, was ihnen angeboten wird, oder andere, die vom familiĂ€ren GlĂŒck nach der Haft trĂ€umen und nicht empfĂ€nglich fĂŒr die Rekrutierung sind.
Aber es gibt eben die Wölfinnen, so nennen sie sich selbst. Sie gehen an die Front. Eine Wölfin ist nicht schwach.
Russische ScharfschĂŒtzinnen in der Ukraine
Unter den in GefÀngnissen rekrutierten MÀnnern sind die Verluste hoch. Werden auch Frauen in gefÀhrliche Brennpunkte im Kriegsgeschehen geschickt?
Olga Romanowa: Ja, das werden sie. Man preist ihnen ihre Aufgabe als ScharfschĂŒtzinnen an â doch sie sind Kanonenfutter. Ich weiĂ, dass einige auch als Drohnenpilotinnen an vorderster Front arbeiten, aber in der Regel operieren sie als ScharfschĂŒtzinnen.
Das ist eine schwierige Aufgabe mit harten körperlichen Anforderungen. Und sie werden gar nicht dafĂŒr ausgebildet. Meine Kontakte schicken mir viele Bilder, auf denen Tote zu sehen sind. So kam ich an die von zwei gefallenen Frauen, davon eine nur etwa 20 Jahre alt, die man identifizieren konnte.
Wie viele Frauen wurden rekrutiert?
Olga Romanowa: Es begann schon Dezember letzten Jahres. Es waren Frauen aus der Strafkolonie Sneschnoje, das ist in der Region Lugansk. Es betrag die ganze Kolonie. Ich weiĂ nicht, was aus ihnen geworden ist.
Konkrete Zahlen kenne ich nur von einzelnen Rekrutierungen, etwa im September in einer Frauenkolonie bei Sankt Petersburg. Dort haben sie in der GefĂ€ngnisaula aktiv geworben fĂŒr einen Vertrag mit einer Laufzeit von einem Jahr im Gegenzug fĂŒr die vollstĂ€ndige Rehabilitation.
ZunĂ€chst wurden Frauen mit Hepatitis und HIV aussortiert, die nimmt das MilitĂ€r nicht. Es sollten 300 rekrutiert werden, bei einer KoloniegröĂe von 800. Sie gehen aber wirklich freiwillig â seit Kriegsausbruch ist mir kein Fall von Zwangsrekrutierung untergekommen.
Kann es sein, dass das nur so dargestellt wird?
Olga Romanowa: Nein. Wir hatten mehrere Gelegenheiten, wo wir nah dran waren. Wir haben Leute befragt, wo die Verwandten dem zustimmten. Sie wollen oft nicht verstehen, dass es besser ist, in einer Zelle zu sitzen, als in einem SchĂŒtzengraben. Die Gefangenen denken wie die Mehrheit der russischen Bevölkerung. Sie unterschreiben VertrĂ€ge, ohne das Kleingedruckte zu lesen.
Frau Romanowa, vielen Dank fĂŒr das GesprĂ€ch
Olga Romanowa ist Journalistin und Vorsitzende der russischen Menschenrechtsorganisation "Russland hinter Gittern". 2017 musste sie vor einer drohenden Verhaftung durch die Behörden nach Deutschland fliehen und leitet seitdem die Organisation aus dem Exil.
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