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Russland: Zwischen Westen und Osten

Nikita Vasilenko

Schwierige Zeiten fĂŒr die Beziehungen zwischen Europa und Russland. Die Haltung der Russen hat sich geĂ€ndert. Wird Russland die europĂ€ische Familie verlassen?

Die Beziehungen zwischen Russland und Europa durchlaufen derzeit schwierige Zeiten. Der Krieg in der Ukraine hat die politischen und wirtschaftlichen Bindungen gekappt. Zar Peter der Große machte Russland zu einem europĂ€ischen Land. Im Volksmund heißt es, er habe "den Russen ein Fenster nach Europa geöffnet". Heute scherzen viele, dass Wladimir Putin "dieses Fenster geschlossen hat". FĂŒr immer?

In den vergangenen Jahrhunderten hat sich das zaristische bzw. sowjetische Russland bei seinen internen Reformen stets von den europÀischen Erfahrungen leiten lassen. Ziel dieser Reformen war die Angleichung an den europÀischen Lebensstandard anhand verschiedener Indikatoren.

Um Erfahrungen auszutauschen, gingen die Kinder der russischen Aristokratie zum Studium nach Europa. Am Hof des russischen Zaren gab es immer hochrangige europĂ€ische Berater und Beamte, meistens Deutsche. Die russische FĂŒhrung begrĂŒĂŸte selbst zu Sowjetzeiten die Investitionen aus dem Westen. Das Gleiche konnten wir vor dem Krieg in der Ukraine im modernen Russland beobachten.

Wladimir Putin betrachtete Russland zu Beginn seiner Regierungszeit ebenfalls als Teil des politischen und wirtschaftlichen Raums Europas, wie er in seiner Rede im Bundestag am 1. Oktober 2001 [1] öffentlich in deutscher Sprache erklÀrte:

Was die europĂ€ische Integration betrifft, so unterstĂŒtzen wir nicht einfach nur diese Prozesse, sondern sehen sie mit Hoffnung. Wir tun das als ein Volk, das gute Lehren aus dem Kalten Krieg und aus der verderblichen Okkupationsideologie gezogen hat.

DarĂŒber hinaus hat Wladimir Putin erklĂ€rt [2], dass Russland ein vollwertiges Mitglied der Nato werden könnte.

Die USA werden fĂŒr alles verantwortlich gemacht

Im Februar 2007 erfuhr die ganze Welt, dass sich die PlĂ€ne der russischen FĂŒhrung geĂ€ndert hatten. Auf einer Sicherheitskonferenz in MĂŒnchen erklĂ€rte Putin [3], Russland betrachte die Nato-Osterweiterung als Bedrohung fĂŒr seine Sicherheit und akzeptiere die Durchsetzung eines unipolaren Weltmodells unter FĂŒhrung der USA nicht.

Handelte es sich um eine politische Manipulation von Fakten, um fĂŒr Russland einen besseren und respektierteren Platz auf der internationalen BĂŒhne zu erreichen? Oder glaubte Putin wirklich, dass die USA versuchen, Russland ihre eigenen Spielregeln aufzuzwingen? Wir wissen es nicht.

Aber am 21. Februar 2022, einige Tage vor dem Krieg, erklĂ€rte er erneut [4], dass alle Versuche, freundschaftliche nachbarschaftliche Beziehungen zu Europa und den USA aufzubauen, vom Letzteren blockiert wurden, weil "sie ein so großes unabhĂ€ngiges Land wie Russland nicht brauchen."

Der Fokus in der modernen russischen Politik auf eine US-amerikanische Einmischung in die Angelegenheiten anderer LĂ€nder ist ein Erbe aus der Sowjetzeit. Die Misserfolge der Wirtschaftspolitik konnten immer auf die Machenschaften des Feindes geschoben werden, den die sowjetische Propaganda in den USA sah.

Die derzeitige FĂŒhrungsspitze Russlands war in der Kommunistischen Partei oder diente beim KGB. Um eine politische Karriere zu machen, haben sie sich natĂŒrlich öffentlich zu den Werten des Kommunismus bekannt und den Aussagen der sowjetischen Propaganda zugestimmt, weil sie von der Partei und den Geheimdiensten geformt wurden. Dies konnte ihre Weltanschauung nicht unberĂŒhrt lassen.

WĂ€hrend der Perestroika gelang es Michail Gorbatschow, das Vertrauen der sowjetischen BĂŒrger in Europa und vor allem in die USA zurĂŒckzugewinnen. Doch der Zusammenbruch der UdSSR und die anschließende schwierige wirtschaftliche Lage in Russland ließen KrĂ€fte entstehen, die eine Revanche fĂŒr die Niederlage im Kalten Krieg forderten.

Es ist wichtig zu erwĂ€hnen, dass die Russen trotz ihrer antiamerikanischen Einstellung nicht Ressentiments gegen Europa empfinden. Denis Volkov, Direktor des unabhĂ€ngigen soziologischen Dienstes Levada, fĂŒhrt das im GesprĂ€ch mit dem Autor auf die Tatsache zurĂŒck, dass die Russen die Politik der europĂ€ischen LĂ€nder gegenĂŒber Russland nicht als unabhĂ€ngig betrachten:

FĂŒr die Mehrheit der BĂŒrger scheint Europa abhĂ€ngig und nicht unabhĂ€ngig zu sein. Es ist abhĂ€ngig von den USA. Auf die Frage "Nennen Sie das wichtigste Nato-Land" nannten die Befragten die USA. Auf die Frage "Welches ist das wichtigste Land, das die Politik der EuropĂ€ischen Union bestimmt?" lautete die hĂ€ufigste Antwort gleichwohl die USA, dann Deutschland und Frankreich.

Soziologie des Krieges

Nach Angaben des Levada-Zentrums hatten vor der Maidan-Revolution in der Ukraine im Jahr 2014 56 Prozent der Russen von den EU-LĂ€ndern eine positive Meinung. Nur 41 Prozent der Befragten waren dies im Hinblick auf die USA.

Die Haltung der Russen gegenĂŒber den europĂ€ischen LĂ€ndern hat sich aufgrund der Sanktionen nach der Annexion der Krim geĂ€ndert. Nach den Beobachtungen des Soziologen Denis Volkow kehrt die Einstellung der Russen gegenĂŒber Europa bis 2022 jedoch fast auf das Niveau vor der Krim zurĂŒck.

Heute, nach eineinhalb Jahren Krieg, haben 72 Prozent der befragten Russen eine negative Haltung zu den EU-LĂ€ndern. Gleichzeitig sind 57 Prozent der Befragten der Meinung, dass die Beziehungen zu den westlichen LĂ€ndern (EU und USA) verbessert werden sollten.

Die wahren Freunde Russlands sind nach Ansicht der befragten Russen Weißrussland, China und Indien. Bedeutet dies, dass Russland Europa in Richtung Asien verlĂ€sst? Denis Volkov ist der Ansicht, dass diese Weltsicht in vielerlei Hinsicht darauf zurĂŒckzufĂŒhren ist, dass die Russen Informationen aus dem Fernsehen erhalten, in dem die Agenda der aktuellen Regierung dominiert:

Etwa die HÀlfte sagt auch jetzt noch, dass Russland ein Teil von Europa ist. Auf die Frage, ob Russland politisch gesehen ein europÀisches Land ist, antwortete vor dem Konflikt etwa ein Drittel so, heute etwa ein Viertel.

"Ein besonderer Weg"

Vor dem Hintergrund der Krise in den Beziehungen zu den europĂ€ischen LĂ€ndern und dem Versuch, VerbĂŒndete in Asien zu finden, gewinnt das Konzept eines "Sonderwegs" in Russland wieder an PopularitĂ€t, wonach Russland ein Land mit einem eigenen kulturellen Code und einer besonderen Mission in der Welt ist.

Doch um welche Art von Mission es sich dabei handelt, kann keiner der Theoretiker dieses Konzepts wirklich erklĂ€ren. Die GrĂŒnde fĂŒr die PopularitĂ€t dieses Konzepts liegen auf der Hand: Viele Russen waren nach dem Zusammenbruch der UdSSR nicht in der Lage, sich vollstĂ€ndig an die neue Situation anzupassen.

Die Sowjetunion bot ein konkretes Projekt, bei dem die Spielregeln klarer und fairer und vor allem stabiler waren als im modernen Russland, wo der Markt Wettbewerb voraussetzt und die Regierung die Spielregeln stÀndig Àndert.

Die Russen wollen eine stabile Zukunft, die ihnen ein solches Projekt bieten kann. Die Hintergrund hierfĂŒr ist, dass viele Russen glauben, auch wenn sie nicht in dieser Zeit geboren wurden, dass das Leben damals besser war. Sie haben in der Geschichte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kein Beispiel fĂŒr eine funktionierende Demokratie gesehen. Deshalb wĂŒnschen sie sich die Sowjetzeit zurĂŒck, vor allem in sozialer Hinsicht, aber das bedeutet nicht, dass sie Recht haben.

Die Geschichte Russlands zeigt jedoch, dass die Suche nach einem "Sonderweg" immer mit einer Krise in der Politik der FĂŒhrung des Landes verbunden ist. Die Regierung ist nicht in der Lage, das Leben ihrer BĂŒrger zu verbessern und rechtfertigt Misserfolge mit dem Vorhandensein Ă€ußerer Hindernisse, die uns daran hindern, unseren "Sonderweg" zu gehen.

Die Forderung nach einem Sonderweg wird verschwinden, sobald die russische FĂŒhrung aufhört, sich mit den Problemen der Legitimierung der eigenen Macht zu beschĂ€ftigen, auch durch einen Krieg mit einem anderen Land.

Eine AnnĂ€herung an Asien ist ebenfalls eine vorĂŒbergehende Maßnahme. Viele Politiker und GeschĂ€ftsleute sehen in dieser Region Möglichkeiten, um die Wirtschaft in Zeiten des Sanktionsdrucks zu retten.

Ein normaler russischer BĂŒrger ist ein typischer europĂ€ischer Verbraucher, auch in kultureller Hinsicht. Er verfolgt die neuesten Kino- und Musiknachrichten, entscheidet sich fĂŒr beliebte europĂ€ische Marken und verfolgt europĂ€ische Nachrichten aus Politik und Showbusiness.

Russland ist in jeder Hinsicht Europa. Die europĂ€ischen Integrationsprozesse sind unumkehrbar. Aber wann werden sie wieder aufgenommen und welchen Preis werden die Russen dafĂŒr zahlen? Diese Fragen bleiben in diesen Tagen unbeantwortet.

Foto [5]: Privat

Nikita Vasilenko ist ein russischer Journalist im Exil. In Russland kann er nicht mehr arbeiten, weil dort seine Sicherheit gefĂ€hrdet ist. Er tritt fĂŒr Meinungsfreiheit ein. Vasilenko hat Politik studiert und war viele Jahre bei Radio Echo tĂ€tig, wo er sich mit Politik, Geschichte und Kultur befasste.

Er arbeitete auch fĂŒr den Youtube-Kanal Zhivoj Gvozd. "Er und mehrere Kollegen mussten das Land verlassen, nachdem sie von der russischen Polizei angesprochen wurden." (Nordisk Journalistcenter [6])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9245658

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/putin/putin_wort-244966
[2] https://www.interfax.ru/russia/823529
[3] https://www.infosperber.ch/wp-content/uploads/2017/02/Putin-Muenchen-Rede-2007.pdf
[4] http://kremlin.ru/events/president/news/67828
[5] https://sverigesradio.se/artikel/journalisten-nikita-vasilenko-om-valet-att-lamna-ryssland
[6] https://njc.dk/maanga-ryska-reportrar-i-exil-nikita-hamnade-paa-sydsvenskan