SPD im Schlingerkurs

Warum Deutschlands Parteien nicht zukunftsfähig sind

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Deutschlands älteste Partei, 1875 aus dem "Allgemeinen deutschen Arbeiterverein" des Ferdinand Lassalle von 1863 und der "Sozialdemokratischen Arbeiterpartei" von August Bebel und Wilhelm Liebknecht von 1869 hervorgegangen – eine solche Partei, die alle Stürme und Erschütterungen während anderthalb Jahrhunderten überstanden hat, eine solche Partei sollte durch die bloße Tatsache ihrer Existenz zukunftsfähig sein. Oder?

Eine Partei, die bei der Bundestagswahl von 1998 mehr als 20 Millionen Stimmen erhielt und mit deutlichem Abstand stärkste Partei wurde, bei der Bundestagswahl von 2009 dann weniger als 10 Millionen Stimmen für sich verbuchen konnte, was zuletzt 1957 der Fall gewesen war – eine solche Partei, die binnen elf Jahren mehr als die Hälfte ihrer Wähler einbüßt, kann sich nur im freien Fall nach unten befinden und ihre Zukunft bereits hinter sich haben. Oder?

Eine ganz besondere Partei ist sie, die SPD. Dereinst klassische Arbeiterpartei, straff organisiert, mit hauptamtlichen Funktionären und effektiver Struktur. Dann folgte die Wandlung zur linken Volkspartei, die sich mit dem Godesberger Programm von 1959 den neuen Gegebenheiten der jungen Bundesrepublik zu stellen suchte. 1972 leitete Willy Brandt unter der Formel "Neue Mitte" ein, was sodann als Öffnung für die neuen Mittelschichten betrieben wurde. Es könnte sich ausnehmen wie eine stetige Weiterentwicklung, absichtsvoll und folgerichtig vorangetrieben – ist jedoch eher ein um das Sozialstaatskonzept rankender Schlingerkurs, der mal mehr, mal weniger erfolgreich ausfällt.

Für die Arbeiterpartei SPD war klar, welche Anliegen und Forderungen sie zu vertreten hatte; die linke Volkspartei tat sich schon etwas schwerer, vermochte sich aber bei den Bundestagswahlen 1969, 1972, 1976 und 1980 mit ihren höchsten Stimmenanteilen (42,7, 45,8, 42,6 und 42,9 Prozent) als Reformkraft der erstarrten Gesellschaft zu behaupten. Entsprechend konnte sie neue Mitglieder aus aufstiegsorientierten wie intellektuellen Kreisen gewinnen: Angestellte und Beamte, Akademiker und auch jüngere Selbstständige. 1976 erreichte sie mit knapp über einer Million Mitgliedern ihre Höchstmarke. Eine aus der Gesellschaft der Bundesrepublik nicht wegzudenkende Volkspartei. Dass bald der Abstieg des Modells "Volkspartei" einsetzte, ist noch die geringere Erklärung für das, was die SPD erlebte.

Vieles geriet ins Trudeln, gnadenlos ablesbar an der Folge der Parteivorsitzenden. Von 1946 bis 1991, also über 45 Jahre, zählte die SPD ganze vier Parteivorsitzende, von 1991 bis heute dagegen derer neun (plus zwei kommissarische) – Verweildauer meist um die zwei Jahre.

Nur in einer einzigen Hinsicht kann dieses Phänomen tatsächlich als personelle Frage behandelt werden – kaum einer der Parteivorsitzenden, häufig vom Typ Schönwetter-Sachwalter aus dem eigenen Neue-Mitte-Stall, wies genügend Format und Substanz auf. Zuvörderst jedoch sind diese Wirren Ausdruck der Fundamentalfrage, was die SPD in einer sich stetig modernisierenden, nur noch im globalen Kontext denkbaren Gesellschaft ist oder zu sein gedenkt.

Schockstarre angesichts der Zumutungen

Im umfassenden Wandel von Wirtschaft und Arbeitswelt, in Modernisierung und Globalisierung vermochte die SPD ihr Konzept sozialer Demokratie nicht wirklich zu erneuern. Obgleich der "Reformstau" während der Ära Kohl als auch der Anstieg der Arbeitslosigkeit bis 1997 der SPD die erwähnten 20 Millionen Stimmen bescherten, fand sie keinen Weg, den von ihr propagierten Sozialstaat zu behaupten. Letztlich blieb ihr keine Wahl, als aus der Bedrängnis heraus 2003 das auf den Weg zu bringen, was "Agenda 2010" genannt wurde. So berechtigt über einzelne Bestandteile der Agenda gestritten werden kann, dass ein Paket von Änderungen kommen musste, war unausweichlich.

Indes hat das Einhergehen von Zumutungen gerade für weite Teile der eigenen Anhängerschaft, symbolisiert durch "Hartz IV", und umfassenden Deregulierungen, wie sie von den Wirtschaftseliten erzwungen wurden, die SPD derart unter Druck gebracht, dass sie aus den Abwehrkämpfen kaum herausgelangt. Fast erscheint die heutige SPD in Schockstarre, denn auch während der Großen Koalition und der Zeit danach vermochte sie sich nicht aus der Defensive zu befreien. Angela Merkels Taktik einer ´vorsorglichen Sozialdemokratisierung´ der CDU an allen für die SPD relevanten Themen grub und gräbt ihr förmlich das Wasser ab.

Wer die Zukunftsfähigkeit der SPD untersucht, muss um diesen Hintergrund nicht nur wissen, sondern ihn angemessen einbeziehen. Auch wenn Umfragen der SPD derzeit vorgaukeln, sie würde wieder auf Augenhöhe mit der CDU/CSU rangieren – dies ist höchst instabil, zudem nur zum geringsten Teil eigenes Verdienst. Denn inhaltlich, bei den politischen Grundaussagen offenbart die SPD kaum mehr als einen Abklatsch vormaliger Zeiten.

Politik abhängig vom Wirtschaftswachstum

Was der Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier zur vergangenen Bundestagswahl als Deutschland-Plan vorgelegt hatte, erweiterte zwar die enge Parteisicht deutlich, wirkte gleichwohl wie ein nostalgisch inspirierter Wunschzettel: Schaffung von vier Millionen neuen Arbeitsplätzen, damit Vollbeschäftigung und ausgeglichene Staatshaushalte bis 2020; Steuersenkungen für Geringverdiener und gleichzeitig steigende öffentliche Investitionen; Förderung "grüner" Industrien und "Neustart der Sozialen Marktwirtschaft". Hier scheint ein Grundmerkmal auf: Alles Denken und Entwerfen der SPD baut unauflöslich darauf auf, dass die Wirtschaft floriert. Damit macht sie sich abhängig: Wenn die Wirtschaft nicht floriert, muss sie zur Rettung ihrer Politik vor allem gegenüber ihren Anhängern den Eindruck erwecken, das Florieren herbeiführen und somit Arbeitsplätze erzeugen zu können – eine Illusion.

In unserer Gesellschaft, jedenfalls wie sie derzeit funktioniert, schafft Politik keine Arbeitsplätze, sondern allein Rahmenbedingungen, unter denen die Wirtschaft Arbeitsplätze schafft ... oder auch nicht. An dieser Einsicht ist die SPD noch nicht angelangt, deshalb treffen noch so wohltönende Sozialstaatsversprechen auf große Skepsis beim Wahlvolk. Ob dieser Konstellation verspürt die Parteiführung natürlich Unbehagen. Zur Abhilfe initiierte der Vorstand "sechs Zukunftswerkstätten, die inhaltlich-programmatische Klärungen und methodische Neuerungen voranbringen sollen".

In der politischen Presse hat dies bisher keinerlei Beachtung gefunden, dabei könnten diese nicht auf Funktionärskreise beschränkten Politlabore der Partei verhelfen, sich neu zu positionieren, vielleicht sogar neu zu aufzustellen. Denn im üblichen Muster zu verbleiben und aufkommende Themen "zu besetzen", ist kein Nachweis von Zukunftsfähigkeit.

Jedoch wird der Aufbruch sogleich gezügelt. Zwar bekräftigt die SPD als Gefahren den "enthemmten Finanzkapitalismus" und die "globale Bedrohung durch den Klimawandel" sowie ihr Ringen um eine "schlüssige Antwort im Sinne eines neuen Wirtschaftsmodells einer sozialen und nachhaltigen Marktwirtschaft. Es darf kein 'Weiter so' geben." Für ihre Politik wird jedoch exakt das "Weiter so" verordnet: "Das SPD-Wirtschaftsmodell soll die soziale Marktwirtschaft so ausrichten, dass ein höheres und nachhaltiges Wachstum erreicht wird."

Noch unter dem Eindruck der Krise hält die SPD ihre Politik abhängig vom Wirtschaftswachstum. Wer sich selbst derartige Fesseln anlegt, wird die Frage, ob nicht doch Pfeiler des Gesamtsystems verändert werden müssen, erst aufwerfen können, wenn es zu spät ist. Das Allheilmittel höherer Wachstumsraten als Hauptziel eigener Politik auszurufen – damit wird kein überzeugender Kern originärer SPD-Positionen geschaffen. Statt dessen ein Wiedergänger, der die Partei auf der Stelle treten lässt und mitnichten in die Offensive bringt.

Wie steht es um andere Themenbereiche, in denen die SPD einmal als wegweisend und überzeugend galt? In der Bildungspolitik ist sie sich ähnlich unsicher wie die anderen Parteien, wie ihre Leitfrage offenbart: "Was ist gute Bildung für Deutschland?" Einzig die Propagierung "kommunaler Bildungsprojekte", die in Nordrhein-Westfalen die sinnvolle Form lokaler Gemeinschaftsschulen annehmen, weist über den Tag hinaus. Werden sie passgenau für die jeweiligen Orte konzipiert und gestaltet, könnten diese integrierten Schulen Heimstätten für all das werden, was an Reformen der Bildung ansteht: Erneuertes und gemeinsames Lernen aller, individuelle Förderung, Vorbeugung gegenüber jeder Ausgrenzung, Verknüpfung schulischen Lernens mit der "Außenwelt".

Beim weiteren Thema "Integration" zeigt sich die SPD höchst nachdenklich. Die Partei selbst sei "nicht bunt, nicht vielfältig genug ... erst recht nicht auf Führungsebene". Zwar setzte sie sich bereits 2007 als Leitbild eine "Kultur der Anerkennung, die der Ausgrenzung von Minderheiten und ebenso der Bildung von Parallelgesellschaften entgegenwirkt". Es harrt indes der politischen Ausfüllung. Früher war die betriebliche Solidarität von Gewerkschaften und SPD vor allem für die Türken ein wichtiger Antrieb für die Eingliederung, dann folgten die SPD-Projekte "kommunales Ausländerwahlrecht" und "doppelte Staatsbürgerschaft". Doch damit ist es nicht mehr getan. Aus ihrem Leitbild hat die SPD jedoch noch keine zukunftsorientierten Projekte herleiten können, wie ihr die Sarrazin-Debatte schmerzhaft vor Augen geführt hat.

Die alternden Wähler der SPD

Zudem kann sich die SPD ihrer Zielgruppen nicht mehr sicher sein. Jüngere Bundestagsabgeordnete, die sich zur "Denkfabrik" zusammengetan haben, drücken es so aus:

Die SPD ist 1998 angetreten, Deutschland sozial, wirtschaftlich, ökologisch und gesellschaftlich nachhaltig zu modernisieren. Explizit wendete sie sich dabei an eine leistungsorientierte sowie individuell und gesellschaftlich ehrgeizige Mittelschicht, die soziale Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität im Einklang mit der Umwelt verbunden wissen wollte ... Nach elf Regierungsjahren lässt sich allerdings feststellen, dass eine in den Anfangsjahrzehnten der Bundesrepublik (vorhandene) homogene Mittelschicht kaum noch existiert.

Dass sich die Bevölkerung mehr und mehr in Milieus gliedert, müssen alle Parteien entscheidend berücksichtigen (Die Grünen: Potenziell zukunftsfähig). Eine höchst spannende und keineswegs einfach zu beantwortende Frage, welche Milieus Anhänger oder Wähler der SPD aufweisen könnten: Moderne Performer? Postmaterielle? Bürgerliche Mitte und Etablierte? Konservative und Traditionsverwurzelte? Nirgends zwingend, aber überall möglich. Wie sehr die hergebrachten Konstellationen ins Schwimmen geraten, zeigt sich am Beispiel der Altersverteilung: War die SPD traditionell bei den jüngsten Altersgruppen stärker als bei den älteren, schlug dies bei der vergangenen Bundestagswahl um. Bei den jüngeren Wählern schnitt sie relativ schlecht ab – ihren höchsten Zweitstimmenanteil erzielte sie bei den Männern über 60 Jahren. Überdies wandten sich 2,2 Millionen Wähler von der SPD ab, ohne für eine andere Partei zu stimmen. Womöglich betrachten sie sich als SPD-Wähler im Wartestand, die auf die Wiederkehr von etwas hoffen, was niemals wiederkehren kann.

Es deutet vieles darauf hin, dass die SPD sich mit erneuerter Politik zu erneuerter Anhänger- wie Wählerschaft verhelfen muss. Solches kann jedoch nur gelingen, wenn die bekannte Problematik beim eigenen Personal minimiert oder ausgeschaltet wird. Dem vorherrschenden Typus Leichtfuß würde das Wahlvolk selbst sinnvollste und stimmigste Aussagen nicht abnehmen. Beim Typus seriöser Parteiarbeiter mangelt es an Verve und Fantasie für einen Aufbruch. Und der Typus der sich als "links" gerierenden Kritiker ist einzig in der Lage, gegen die Politik von Parteigranden zu kritteln – aber eigene Gestaltung? Völlige Fehlanzeige, wie die jetzige Generalsekretärin schlagend vorführt. So fragt sich der nachdenkliche Zeitgenosse: Selbst wenn die SPD ihr Sozialstaatskonzept einmal grundlegend erneuern und dadurch zu politisch gewichtigen Zukunftsprojekten gelangen sollte – wer könnte für diese einstehen, wer vermöchte sie durchzusetzen? Wo sind die Kräfte, der die bisher vorherrschende Beliebigkeit bei Themen und Positionen überwinden?

Wie dringlich diese Frage ist, führt der Umgang der SPD mit dem Thema "Rente mit 67" vor. Auf die eingetretenen und absehbaren Wandlungen innerhalb der Bevölkerung und ihrer Alters- sowie Erwerbsstruktur suchte die Große Koalition unter Mitwirkung des damaligen SPD-Personals zu reagieren, immerhin der Ansatz verantwortlicher Politik. Dass eine pauschale Regelung herauskam, die angesichts der vorherrschenden Frühverrentung ohnehin eher gegenstandslos war, ist da fast lässlich. Wie aber die aktuelle SPD-Spitze das Thema behandelt ist nichts als die Preisgabe von Kompetenz um vermeintlicher kurzfristiger Vorteile willen.

Auf dem Papier mag die Argumentation in sich stimmig sein, aber im politischen Raum zählen die Zusammenhänge: Die Knüpfung der "Rente mit 67" an unerreichbare Idealbedingungen offenbart, dass die Partei unter dem Druck heftiger Kritik von eigenen Beschlüssen abrückt, dies aber schamhaft zu verhüllen versucht. Ein Ausweis von Zukunftsfähigkeit wäre gewesen, die Problematik offensiv und für das Publikum einsehbar anzusprechen; zudem mögliche Regelungen bis hin zur völligen Abschaffung von Altersgrenzen für den Renteneintritt in die Diskussion zu bringen und zu erklären, warum die Partei heute dieses oder jenes Modell bevorzugt. Der Brisanz der Problematik obendrein unter Vorwänden auszuweichen, ist die kurzsichtigste aller möglichen Vorgehensweisen.