Sachbücher des Monats: Januar 2021

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung

Jeden Monat neu präsentiert von der Neuen Zürcher Zeitung, der Literarischen Welt, dem ORF-Radio Österreich 1 und Telepolis.

Axel Schildt
Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik

Wie Intellektuelle das Gesicht der Bundesrepublik formten und dafür die Medien nutzten. Welche geistigen Strömungen prägten die Bundesrepublik in ihren formativen Jahren zwischen Kriegsende und den späten 1960er Jahren? Axel Schildt entfaltet ein Tableau der um Einfluss und um die kulturelle und politische Gestalt der Bundesrepublik kämpfenden Intellektuellen. Sie saßen in Redaktionen, gründeten neue Zeitschriften, bestimmten maßgeblich die Abendprogramme der Radioanstalten und die aktuellen Buchreihen der Verlage. Auch Illustrierte und Fernsehstudios nutzten sie, um meinungsbildend zu wirken. Axel Schildt hat etwa hundert Nachlässe sowie Archive von Redaktionen und Akademien ausgewertet und zeichnet so auf einer völlig neuen Materialgrundlage die Debatten, Verbindungen, medialen Praktiken sowie die Resonanz der westdeutschen Intellektuellen zwischen 1945 und 1968 nach. Kontinuitäten und Umbrüche, hegemoniale Strömungen und vielfältige Differenzen und Widersprüche werden deutlich.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried.
Wallstein Verlag, 896 Seiten, € 46,00
buchkomplizen

Michael Maar
Die Schlange im Wolfspelz
Das Geheimnis großer Literatur

Was ist das Geheimnis des guten Stils, wie wird aus Sprache Literatur? Dieser Frage geht Michael Maar in seinem Haupt- und Lebenswerk nach, für das er vierzig Jahre lang gelesen hat. Was ist Manier, was ist Jargon, und in welche Fehlerfallen tappen fast alle? Wie müssen die Elementarteilchen zusammenspielen für den perfekten Prosasatz? Maar zeigt, wer Dialoge kann und wer nicht, warum Hölderlin über- und Rahel Varnhagen unterschätzt wird, warum ohne die österreichischen Juden ein Kontinent des Stils wegbräche, warum Kafka ein Alien ist und warum nur Heimito von Doderer an Thomas Mann heranreicht. In fünfzig Porträts, von Goethe bis Gernhardt, von Kleist bis Kronauer, entfaltet er en passant eine Geschichte der deutschen Literatur.
Rowohlt Verlag, 656 Seiten, € 34,00
buchkomplizen

Christopher Clark
Gefangene der Zeit
Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump

Was hat der Brexit mit Bismarck zu tun? Was verbindet die antike Alexanderschlacht bei Issus mit der Schlacht gegen Napoleon bei Jena 1806? Was lehren uns Psychogramme aus dem Dritten Reich über Gehorsam und Courage? Und wie lässt sich Weltgeschichte schreiben, ohne dabei dem Eurozentrismus verhaftet zu bleiben? In dreizehn Essays zeigt Christopher Clark, wie sehr historische Ereignisse und Taten, Vorstellungen von Macht und Herrschaft über die Zeiten hinweg fortwirken - bis heute.
Übersetzt von Norbert Juraschitz.
Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), 336 Seiten, € 26,00
buchkomplizen

Josef H. Reichholf
Der Hund und sein Mensch
Wie der Wolf sich und uns domestizierte

Einst lebte er frei wie der Wolf. Und er war Wolf. Irgendwann jedoch näherte er sich den Menschen. Zehntausend Generationen später war er Hund - und ein besonderes Lebewesen, das uns zum Spiegel wurde. Josef Reichholf widmet sich einer der ältesten Beziehungen der Menschheitsgeschichte, die immerhin fast zehn Millionen Haushalte in Deutschland kennen. Dafür verbindet er persönliche Geschichten mit aktueller Forschung zur Biologie und zur Evolution des Hundes.
Carl Hanser Verlag, 224 Seiten, € 22,00
buchkomplizen

Wilhelm Heitmeyer/Manuela Freiheit/Peter Sitzer
Rechte Bedrohungsallianzen
Signaturen der Bedrohung II

Nach Ereignissen wie dem Mord an Walter Lübcke, dem Anschlag in Halle oder den rassistischen Morden in Hanau im Februar 2020 wird regelmäßig darüber diskutiert, inwiefern es sich um isolierte Einzeltäter handelt oder ob ein Zusammenhang zu bestimmten Parteien und Ideologien besteht. Wilhelm Heitmeyer hat dazu bereits 2012 das Modell eines konzentrischen Eskalationskontinuums präsentiert: ganz außen stehen menschenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung, im Zentrum terroristische Zellen, dazwischen organisierte Akteure, "Vordenker", systemfeindliche Milieus und Unterstützernetzwerke. Die Gewaltbereitschaft nimmt von außen nach innen zu, die jeweils äußere Schicht liefert ihrer inneren Nachbarin Legitimation.
Suhrkamp Verlag (es), 325 Seiten, € 18,00
buchkomplizen

Marcia Bjornerud
Zeitbewusstheit
Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten

Den Zeitraum von neun Tagen, den ein Tropfen Wasser durchschnittlich in der Atmosphäre verbleibt, können wir leicht nachvollziehen. Aber die Hunderte von Jahren, die sich ein Molekül Kohlendioxid, das den Klimawandel antreibt, darin erhält, überschreiten die Grenzen unserer Vorstellung. Doch gerade die Prozesse, die weit vor uns lagen, prägen unsere Gegenwart, und unser heutiges Verhalten wird noch über Generationen hinweg gravierende Folgen für den Zustand der Erde haben. In "Zeitbewusstheit" zeigt Marcia Bjornerud, wie die Geologie als Biografin unseres Heimatplaneten anhand der Messungen von Erosion und Gebirgsbildung, aber auch von Ozean- und Atmosphärenveränderungen ein Verständnis für die Tiefenzeit und den Rhythmus der Erde bereithält, das wir in unserer Epoche der Beschleunigung dringend brauchen, wenn wir Lösungen für die drohende Umweltkatastrophe finden wollen. Die Lebensdauer der Erde mag im Vergleich zu der eines Menschen ewig erscheinen, doch zur Sicherung des Überlebens beider bleibt uns in Wirklichkeit nur wenig Zeit.
Übersetzt von Dirk Höfer.
Verlag Matthes & Seitz, 245 Seiten, € 28,00
buchkomplizen

Eva von Redecker
Revolution für das Leben
Philosophie der neuen Protestformen

In Zeiten der Krise entzündet sich politisches Engagement. Protestbewegungen wie Black Lives Matter, Fridays for Future und NiUnaMenos kämpfen derzeit weltweit gegen Rassismus, Klimakatastrophe und Gewalt gegen Frauen. So unterschiedlich sie scheinen mögen, verfolgen diese Widerstandskräfte doch ein gemeinsames Ziel: die Rettung von Leben. Im Kern richtet sich ihr Kampf gegen den Kapitalismus, der unsere Lebensgrundlagen zerstört, indem er im Namen von Profit und Eigentum lebendige Natur in toten Stoff verwandelt: Der Kapitalismus verwertet uns und unseren Planeten rücksichtslos. In autoritären Tendenzen und rassistischen Ausschreitungen, in massiven Klimaveränderungen und einer globalen Pandemie zeigt er seine verheerendsten Seiten.
S. Fischer Verlag, 316 Seiten, € 23,00
buchkomplizen

Christoph Möllers
Freiheitsgrade
Elemente einer liberalen politischen Mechanik

Freiheitsgrade kennt man aus der Mechanik. Der Begriff bezeichnet dort die Zahl der Richtungen, in die ein Körper sich an einem Gelenk bewegen kann. Bei seinem Versuch, den Liberalismus auf die Höhe der Zeit zu bringen, geht Christoph Möllers weder von der politischen Großwetterlage aus noch vom Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft. Vielmehr versucht er, Formen einer Ordnung herauszupräparieren, die Bewegungsfreiheit und soziale Varianz ermöglicht. So gerüstet, verspricht er keine Antworten, aber neue Perspektiven auf diverse Phänomene: auf den Begriff der politischen Repräsentation, aber auch die Funktion territorialer Grenzen. Freiheit, so Möllers, ist eine Praxis der Ergebnisoffenheit, die Prozesse ermöglicht, von denen unklar sein muss, wohin sie führen.
Suhrkamp Verlag (es), 343 Seiten, € 18,00
buchkomplizen

Caroline Fourest
Generation Beleidigt
Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei

Die feministische Publizistin Caroline Fourest setzt sich anhand konkreter Vorkommnisse und Debatten mit einer gefährlich irrationalistischen Strömung der Identitätspolitik auseinander, die inzwischen auch an europäischen Unis die Hegemonie zu erlangen versucht.
Übersetzt von Alexander Carstiuc.
Mark Feldon und Christoph Hesse, edition TIAMAT, 200 Seiten, € 18,00
buchkomplizen

Hamed Abdel-Samad
Aus Liebe zu Deutschland
Ein Warnruf

Deutschland hat eine Tradition der Aufklärung - und eine der Inhumanität. Demokratie, Meinungsfreiheit, Pluralität haben uns die Alliierten gebracht. Es ist an der Zeit, sich dieser Werte bewusst zu werden und dafür einzustehen. Kaum jemand weiß besser als der in Ägypten aufgewachsene Hamed Abdel-Samad, welches hohe Gut die in Deutschland gelebte Liberalität ist. Er beobachtet aber seit Jahren eine toxische Tendenz des öffentlichen Klimas, die freie, streitbare Diskursethik, Grundlage jeder demokratischen Auseinandersetzung, gegen eine engstirnige und antiaufklärerische Gesinnungsethik einzutauschen.
Deutscher Taschenbuch-Verlag (dtv), 224 Seiten, € 20,00
buchkomplizen

Besondere Empfehlung im Januar: Ursula Münch (Prof. für Politikwissenschaft Universität der Bundeswehr München und Direktorin der Akademie für Politische Bildung):

Torben Lütjen
Amerika im Kalten Bürgerkrieg
Wie ein Land seine Mitte verliert

Einst galten die USA als Musterbeispiel eines stabilen demokratischen Staates. Mit den Republikanern und den Demokraten gab es zwei unideologische Parteien mit moderaten Politikern. Heute gibt es Donald Trump. Warum wurde Trump gewählt? Was sind die Gründe für die tiefe Spaltung des Landes, das früher einmal als Heimat des Pragmatismus galt, und das sich, anders als Europa, stets von gefährlichen Utopien ferngehalten hat?

Das Buch passend zum Amtswechsel in den USA: Warum hat sich ausgerechnet das Land, das "gefeit schien vor ideologischem Überschuss" politisch gespalten? Lütjen analysiert u.a. die Veränderungen in der Medienlandschaft und weist nach, dass der Populismus tief in der US-amerikanischen politischen Kultur wurzelt. Und er scheut auch nicht vor dem überraschenden Vergleich zwischen Donald Trump und Wilhelm II. zurück. Auch wenn sich seine Befürchtung eines möglichen Bürgerkriegs wohl nicht bewahrheitet: Dieser Band erklärt, warum es Joe Biden und Pamala Harris kaum gelingen kann, die USA zu versöhnen.
Ursula Münch


Verlag wbgTheiss, 208 Seiten, € 20,00

buchkomplizen

Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Kirstin Breitenfellner, Falter, Wien; Dr. Eike Gebhardt, Berlin; Daniel Haufler, Berlin; Prof. Jochen Hö-risch, Universität Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer, Sassari, Italien; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter Kogel. Bremen; Dr. Wilhelm Krull, The New Institute, Hamburg; Marianna Lieder, Freie Kritikerin, Berlin; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, TELEPOLIS; Dr. Frank Schubert, Spektrum der Wissenschaft; Norbert Seitz, Berlin; Mag. Anne-Catherine Simon, Die Presse, Wien; Prof. Dr. Philipp Theisohn, Uni Zürich; Dr. Andreas Wang, Berlin; Michael Wiederstein, getAbstract, Luzern; Prof. Dr. Harro Zimmermann, Bremen; Stefan Zweifel, Schweiz

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.