Schizophren, paradox und ambivalent

Thesen vom Ende der Vorherrschaft Amerikas kommen jetzt auch aus dem konservativen US-Lager in den Mainstream

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Nachdem Aufsätze wie The End of the West die hiesige Debatte über die transatlantische Beziehung seit etwas mehr als einem Jahr in Insider-Kreisen beeinflusst haben, ist Charles A. Kupchans "The End of the American Era: U.S. Foreign Policy After the Cold War" (New York: Alfred Knopf, 2002) nun auf deutsch erschienen: "Die europäische Herausforderung. Vom Ende der Vorherrschaft Amerikas". Die von Henry Kissinger hochgelobte Schrift wurde nach dem Irak-Krieg noch einmal aktualisiert, ob sie jetzt die Diskussion um Old vs. New Europe beleben wird, bleibt allerdings fraglich (Das neue Byzanz).

Kupchans zentrale Diagnose lässt sich wie folgt zusammenfassen: Gefahren wie Terrorismus und Überbevölkerung werden zweitrangig im Angesicht von bevorstehenden Konflikten zwischen rivalisierenden Machtzentren. Seiner Meinung nach werden Europa und später China die Bühne der Weltpolitik betreten. Die USA wiederum seien nicht in der Lage, diese Entwicklungen zu antizipieren. Die gegenwärtig im einsamen Ikarus-Modus amtierende Großmacht erliege dem Glauben, dass ihre Vorherrschaft von Dauer ist und dass die eher traditionellen geopolitischen Herausforderungen nicht mehr existieren. Auch dieser Annahme stellt der Kupchan, Professor für internationale Politik an der Georgetown University, eine gegenteilige Sicht entgegen. Geopolitik sei wieder von zentraler Bedeutung für die im Prozess der Globalisierung begriffene Welt. Ein analytischer Filter auf die Geschicke des Planeten also, der - sofern er intelligent genutzt wird - das abwirft, womit Außenpolitik auf Dauer zurechnungsfähig bleibt: Große Strategien.

Nichts weniger unternimmt Kupchan in seinem Buch. Er artikuliert eine große Strategie für die Welt, in dem er das transatlantische Verhältnis analysiert und daraus Leitlinien für Europas und Nord-Amerikas Außenpolitik destilliert. Erst neulich erläuterte Kupchan in Berlin den Grund für seinen für viele Beobachter doch sehr eingeengt wirkenden Fokus. Als er am 26. September 2003 von Gary Smith in der American Academy in Berlin nach dem worst case scenario der Zukunft gefragt wurde, antwortete Kupchan überraschend, dass dies der Verlust der Früchte sei, die in den letzten 50 Jahren in der Beziehung zwischen den USA und Europa gereift sind. Er begreife die transatlantische Beziehung deshalb für so überaus wichtig, weil er in ihr das foundational principle, also das Grundprinzip aller die Welt plagenden Probleme erkennt. Ein solcher Schlüssel zieht natürlich viel Aufmerksamkeit auf sich. Seine Attraktivität wird durch Kupchans Präsentationsansatz nur gesteigert.

Die Untiefen im Szenario des großen Knalls

Das Buch funktioniert wie eine Zeitmaschine und ein Panoptikum zugleich. Im Zeitraffer durchschreitet man Episoden, in denen der Aufstieg und der Fall des römischen Reiches aufbereitet wird. Zwischendurch gibt es immer wieder Abschnitte aus der Gründungszeit Amerikas, Deutschlands, etc. zu besichtigen. Plastisch beschreibt Kupchan die Großmächte der Menschheitsgeschichte und ihre Politik. Daraufhin bringt er diese Beschreibungen auf Formeln, die ihm wiederum erlauben, leuchtstarke Analogien an die Wand zu malen.

Als Leitmotiv dient die Teilung des römischen Reiches in Ost und West, die er mit der Spaltung des heutigen Westens vergleicht: also mit der bevorstehenden Trennung von Amerika und Europa. Dabei kann diese metaphorische Analogisierung durchaus irreführend sein, wie die Rede vom "Neuen Rom" zeigt - einerseits kann damit Washington gemeint sein, also das Zentrum des gegenwärtigen Imperiums; andererseits kann damit Europa gemeint sein, also der neue Machtpol, der sich damals nach der Spaltung des römischen Reiches ergab (Byzanz, Hauptstadt des Ost-Reiches, wurde als "Neues Rom" bezeichnet).

Doch sind dies semantische Nuancen. Wirkliche Probleme birgt Kupchans Ansatz auf ganz anderer Ebene in sich. Sein hochgegriffener Konfliktmaßstab verzerrt die Relevanz existierender Probleme. Der ganz große Zusammenstoß zwischen Großmächten lässt alles andere nichtig erscheinen. Doch ist unsere Zeit geprägt von vielen kleinen Zusammenstößen, etwa den low intensity wars an den Rändern des US-Imperiums, etc. Es sind viele, unterschiedlich motivierte und unterschiedlich stark ausgeprägte Konflikte, die, wenn man sie addieren würde, sicherlich dem Einfluss des großen Knalls, der Kupchans Denken so entscheidend maßregelt, gleichkommt.

Die multipolare Weltordnung, vor der Clintons ehemaliger außenpolitischer Berater so emphatisch und nachdrücklich warnt, existiert gewissermaßen also längst, nur dass keiner die existierenden Pole für voll nehmen will. Auch Kupchan nicht, der diese "Pole" keinesfalls als die eigentliche Ursache für eine Störung des Pax Americana anerkennt. Dabei müssten gerade dem Geschichtsbeflissenen Entwicklungen wie die besagten low intensity wars oder die Verarmung der Dritten Welt zum Denken geben, zeichnen sie sich doch bereits seit den späten 1970ern ab. Es ist also der Beginn der dritten Globalisierungsphase und der offizielle Schlusspunkt der Kolonialära, der für die gegenwärtige Weltordnung den eigentlichen Wendepunkt darstellt, nicht der Zusammenfall des Ostblocks, also das Abhandenkommen des zweiten großen Machtpols.

Ein weiteres Problem ergibt sich aus Kupchans Sprecherposition. Obwohl er mit seinem Buch den Anspruch erhebt ein Korrektiv für die Debatte in seinem Heimatland zu liefern, wendet er sich genauso an die Europäer, an manchen Stellen auch an den gesamten Rest der Welt. Hinzu kommt, dass das Buch häufig zwischen Polemik und Analyse unentschieden bleibt. Dadurch ergeben sich stellenweise Passagen, in denen höchst ambivalente Bemerkungen dem sonst so aufklärerisch Wirkenden nahezu unbemerkt entgleiten. So behauptet er bereits ganz am Anfang:

Die entfesselte Lokomotive der Globalisierung wird entgleisen, sobald Washington nicht mehr am Steuer sitzt.

Man möchte annehmen, dass er damit vor der multipolaren Zukunft warnt, doch liefert er damit nicht jenen Diskutanten Argumente, die die neo-imperiale Politik Washingtons legitimieren wollen? An etwas fortgeschrittener Stelle heißt es dann wieder:

Die Weltwirtschaft und die Geopolitik werden bald darunter leiden, dass es zu wenig Amerika gibt und nicht zuviel.

Wer Kupchan ganz streng beurteilt, könnte sagen, dass er die heutzutage als unzeitgemäß abgestempelte Domäne der Geopolitik auf eine Weise belebt, wie einst in den 1980ern Maler die figurative Malerei - ihr Gestus war rebellisch, sie schwammen gegen den Strom, doch im Geiste waren sie zutiefst konservativ. Wer die Stärken seiner Arbeit hervorheben möchte, spricht von Kupchans kritischer Darstellung der US-amerikanischen Außenpolitik. Sie wird in ihrer schizophrenen, paradoxen und ambivalenten Natur geschildert. Einblicke werden dadurch ermöglicht in die Wechselwirkung von so gegensätzlich scheinenden Haltungen wie Isolationismus (Amerikas leiser Rückzug von der Bühne der Weltpolitik) und Unilateralismus (Amerikas Hang zu Alleingängen) - ein bereits in den frühen Tagen der Clinton-Regierung Gestalt annehmender Konnex, der Kupchans These vom Ende der Vorherrschaft Amerikas am denkwürdigsten erscheinen lässt. Kurz, Kupchan bleibt im Schlechten und im Guten auf Amerika fixiert. Die Rede von Europas Aufschwung bleibt derweil ein rhetorisches Gespenst.

Charles Kupchan: Die europäische Herausforderung. Vom Ende der Vorherrschaft Amerikas. Rowohlt Berlin 2003. 320 Seiten. € 19,90