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Schlafschafe und Schwurbler, redet miteinander!

Unangemeldete Proteste gegen Corona-Maßnahmen in Saarbrücken. Bild: Kai Schwerdt, CC BY-NC 2.0

Themen des Tages: Energiekosten bremsen die Verkehrswende. Bei der Nato-Erweiterung knirscht es. Und die Spaltung der Gesellschaft nimmt von Brasilia bis Berlin zu.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. E-Autos sind zuletzt weniger attraktiv.

2. Die Schweden sind von Ankara genervt.

3. Und auf Seite zwei lesen Sie, was der Sturm auf Regierungsgebäude in Brasilien und den USA für uns bedeutet.

Doch der Reihe nach.

Schneekanonen für Putin

Der Klimawandel hat inzwischen auch die Alpen erreicht, schreibt Telepolis-Autor Wolfgang Pomrehn heute in seiner Kolumne [1] Energie und Klima – kompakt.

Die in weiten Teilen Europas für die Jahreszeit anhaltend viel zu hohen Temperaturen ließen dort bisher viele Ski-Gebiete vergeblich auf eine ausreichende und verlässliche Schneedecke warten. Zu Beginn der Woche habe es vielerorts erst oberhalb von 1.200, im westlichen Österreich teils gar erst ab 1.600 Meter gefroren

Doch man weiß, sich zu helfen. Schneekanonen machen vielerorts die nicht gerade für rücksichtsvollen Umgang mit Menschen und Umwelt bekannte Tourismusindustrie vom Schneefall unabhängig. Der Preis ist allerdings der Einsatz einer gewaltigen Menge an Energie – während man den weniger Begüterten rät, für den Kampf gegen Putin zu frieren – und Wasser.

Wolfgang Pomrehn

Stromkosten gegen E-Auto-Trend

Nicht nur die Verkehrswende, auch die Antriebswende für den motorisierten Individualverkehr stockt in Deutschland, stellt Telepolis-Autorin Claudia Wangerin fest [2]. Laut Ergebnissen einer Verbraucherumfrage werde der Umstieg auf Elektroautos von steigenden Stromkosten und fehlender Infrastruktur gebremst.

Nur 16 Prozent der Befragten in Deutschland würden beim nächsten Autokauf einen reinen "Stromer" nehmen, teilte die Unternehmensberatung Deloitte am Dienstag mit. Ende 2021 hatte der Anteil bei 15 Prozent gelegen. 51 Prozent würden sich für den klassischen "Verbrenner" entscheiden, 27 Prozent der Hybrid- oder Plug-In-Hybridfahrzeuge und sieben Prozent für andere Antriebsformen, zum Beispiel mit Wasserstoff.

Claudia Wangerin

Schweden gegen Türkei

Mit den Konflikten um den anvisierten Nato-Beitritt Schwedens befasst sich heute Telepolis-Autorin Andrea Seliger [3]. Eine Zeit lang habe es den Anschein gehabt, dass die türkische Rechnung aufgeht: Schweden habe wieder Waffen an die Türkei verkauft, und es seien politische Flüchtlinge an die Türkei ausgeliefert worden.

Als der schwedische Außenminister aber vor türkischen Journalisten in Aussicht stellte, Schweden könne auf seinen eigenen Straßen verbieten, Flaggen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu zeigen, war das Maß voll: Man könne nicht die Türkei über die schwedische Innenpolitik bestimmen lassen, so der Ton der Kommentare in mehreren Medien, für die es jetzt reicht mit Zugeständnissen.

Andrea Seliger

Brasilien, USA – und Deutschland: Warum wir um ein neues Miteinander kämpfen müssen

Brasilia im Januar 2023, Washington im Januar 2021– wie sich die Bilder gleichen! Ein Zufall ist das nicht: Die Anhänger des rechtsextremen brasilianischen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro haben in dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump stets ein politisches Vorbild gesehen. Kein Wunder also auch, dass Bolsonaro den Angriff auf die demokratisch gewählte Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva [4] von den USA aus verfolgte – und dort damit für innenpolitische Konflikte sorgt.

Der Sturm auf demokratische Institutionen – der auch in Berlin im August 2020 und im Dezember 2021 versucht wurde – zeugt in den USA wie in Brasilien von einem grundlegenden politischen und – mehr noch – gesellschaftlichen, fast zivilisatorischen Dissens: Die Akteure der großen Lager fühlen sich nicht mehr dem gleichen Land angehörig, der gleichen Gemeinschaft; man begegnet sich nicht mehr auf Augenhöhe, entmenschlicht den politischen Gegner.

Das merken wir auch in Deutschland: Hier drückt sich der disruptive Trend auch darin aus, dass man das Gegenüber mit wenig schmeichelhaften Bezeichnungen herabsetzt: "Schlafschafe" und "Mietmäuler" einerseits, "Schwurbler" und "Querdenker" andererseits. Die durch Pandemie und Ukraine-Krieg geschürten Ängste haben diese Lagerbildung begünstigt.

Damit rückt, was zunächst weit weg und auf skurrile Weise fremd scheint, in erschreckend greifbare Nähe. Sicher, die Demonstranten am Reichstagsgebäude in Berlin hatten im August 2021 kaum eine Chance, in das Parlament zu gelangen. Und die Reichsbürger um einen abgehalfterten hessischen Adeligen im vergangenen Dezember flogen früh auf. Dennoch treten die Parallelen deutlicher hervor: Auch hierzulande entsteht eine Kluft derartiger Tiefe, dass eine rechtzeitige Überwindung, eine Begegnung und ein Dialog immer weniger möglich scheinen.

Radikalisierung und Entfremdung wird durch innere Faktoren, etwa die Debattenkultur, begünstigt. Aber auch durch internationale Kontakte. "Die Sicherheitsbehörden beobachten die (…) Szene sehr genau, und zwar mit sämtlichen Implikationen, also auch mit Blick auf internationale Verbindungen", sagte eine Sprecherin des Innenministeriums dazu unlängst bei der Bundespressekonferenz [5].

Präsident da Silva hat die Geschehnisse in Brasilia richtig eingeordnet: Es gehe nun politisch und juristisch darum, die Organisatoren des Sturms auf Regierungsgebäude ausfindig zu machen und zur Verantwortung zu ziehen. Zugleich aber ist es notwendig, die Mitläufer und die warum auch immer Verblendeten wieder in ein gemeinsames gesellschaftliches Projekt einzubinden. Das gilt nun vor allem für das zerrissene Brasilien, aber auch für die USA.

Und Deutschland? Auch hierzulande werden die Gräben tiefer und die Akteure mehr, die von politischer Seite ebenso wie von "etablierten" und "alternativen" Redaktionen aus tagtäglich bemüht sind, Andersdenkende zu diffamieren und auszugrenzen. Die Folgen sind noch nicht so gravierend, wie in Brasilien oder den USA, wo Religion wie ein Katalysator wirkt. Es ist gut, dass die gesellschaftliche Krise hierzulande noch nicht so weit gediehen ist. Denn es eröffnet die Chance, den Differenzen entgegenzuwirken, bevor sie unüberbrückbar werden.

Wer aber auf sozialen Netzwerken, in Medien – mitunter vom Staat bezahlt – gegen Andersdenkende vorgeht [6], sie zu isolieren und ihnen zu schaden versucht, statt eine – wenn auch noch so kleine – gemeinsame Basis zu suchen, muss diesen Weg konsequent zu Ende denken.

Denn entweder sucht man so gut wie möglich den Dialog, wenn auch über Konfrontation und Streit, oder man wird sich irgendwann gewaltsam der Machtfrage stellen müssen. Auch die Beispiele gibt es ja: Die épuration sauvage in Frankreich nach 1945 [7], die mitnichten nur Kollaborateure traf. Die damaligen Vertreibungen in ganz Europa. Die Massenflucht von einer viertel Million Menschen aus dem kleinen Kuba sind nach 1959. Die Balkan-Kriege.

Anstrebenswert sind solche Brüche und Exzesse nie. Dennoch steuert der kollektive Westen wieder auf den großen Knall zu. Weil es in Politik und Medien zu viele Akteure gibt, die für Aufmerksamkeit oder Geld an aggressiver Abgrenzung Gefallen finden, an Diffamierung und Shitstorms. Und zu wenige, die Risse zu kitten versuchen.

Artikel zum Thema:

Wolfram Janzen: "Querdenken" als Ausdruck der Polarisierung? [8]
Joachim Schappert: Give Peace a Chance [9]
Harald Neuber, Sabine Schiffer: "Gegneranalyse" und Zentrum Liberale Moderne: Die Presse als Feind? [10]


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7454997

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.telepolis.de/features/Schneekanonen-und-Gletscherschwund-7454175.html
[2] https://www.telepolis.de/features/E-Autos-Warum-die-Antriebswende-floppt-7453644.html
[3] https://www.telepolis.de/features/In-der-Zwickmuehle-Schweden-die-Tuerkei-und-die-Nato-7454899.html
[4] https://www.telepolis.de/features/Putschversuch-von-Bolsonaro-Fans-Kapitol-Sturm-auf-Brasilianisch-7452647.html
[5] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/regierungspressekonferenz/2572622
[6] https://www.telepolis.de/features/Millionen-Steuergeld-fuer-Meinungsmache-Ist-das-legitim-7440534.html
[7] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/204280/kriegsende-in-frankreich/
[8] https://www.telepolis.de/features/Querdenken-als-Ausdruck-der-Polarisierung-6033683.html
[9] https://www.telepolis.de/features/Give-Peace-a-Chance-7311353.html
[10] https://www.telepolis.de/features/Gegneranalyse-und-Zentrum-Liberale-Moderne-Die-Presse-als-Feind-7155940.html