Schöne Menschen gegen Hitler
Roter Widerstand: Ein überfälliger Dokumentarfilm über die "Rote Kapelle"
Sie war die größte Widerstandsbewegung im Dritten Reich. Viel größer als der 20. Juli oder "Die weiße Rose" und in vieler Hinsicht auch viel wirkungsvoller. Zugleich ist sie die unbekannteste.
Das hat Gründe. Denn die "Rote Kapelle", dieser bunt zusammengewürfelte, heterogene Haufen aus Hedonisten und Moralisten, aus deutschen Linken und Rechten, aus Bürgern und Arbeitern passt nicht zur Sehnsucht der Deutschen nach klaren eindeutigen Bildern. "Weiße Rose", das sind die jungen Menschen des reinen Gewissens; der 20. Juli, das sind "Offiziere gegen Hitler", auch wenn die meisten von ihnen jahrelang munter am Vernichtungskrieg mitgewirkt hatten, bevor sich ihr Gewissen meldete; aber dann immerhin.
Attentat auf Goebbels
Dabei gab es die "Rote Kapelle" genau genommen sogar doppelt. Einerseits in Berlin, andererseits in Brüssel und Paris. Etwa 300 Menschen waren daran beteiligt, Nachrichten über Kriegsvorbereitungen zu den Alliierten zu bringen. Außer losen Verbindungen gab es keinen Zusammenhang zwischen beiden Organisationen. Nur in den Augen der Nazis.
Da war einerseits ein loses Widerstandsnetzwerk in Berlin und seinem Umland. Ungeachtet des zunehmenden Gestapo-Terrors verhalf man in den 1930-er Jahren Juden zur Flucht, verteilte regimekritische Flugblätter - und sammelte militärische Informationen. Auch Attentatsversuche gab es. So wollte "Rote Kapelle"-Mitglied Hansheinrich Kummerow den Propagandaminister Joseph Goebbels bei dessen Inselresidenz Schwanenwerder in die Luft sprengen.
Regimekritik und Charisma
Eine der Schlüsselfiguren dieser Organisation war der charismatische Harro Schulze-Boysen. Als Offizier im Luftfahrtministerium gelang es ihm, sich Zugang zu Hitlers Aufmarschplänen für den Angriff auf die Sowjetunion zu verschaffen und schließlich auch für den Vorstoß nach Süden, im Sommer 1942 Richtung Stalingrad. Diese Informationen wollte er unbedingt an die Alliierten weiterleiten, denn ein Fall des Nazi-Regimes von innen heraus schien unmöglich.
Dabei kam er in Kontakt mit einem kommunistischen Spionage-Ring, der in Brüssel und Paris aktiv war. Dessen "Grand Chef" war der deutsche Emigrant Leopold Trepper, der in Paris für die deutsche Besatzung arbeitete. Diese Gruppe funkte militärische Informationen nach Moskau. Zu ihr gehörte auch die in Polen geborene Sophia Poznańska, Codename Zosha, die in Belgien arbeitete, und Codierungsexpertin war.
Die Gruppe habe private Leidenschaften nie von politischem Engagement trennen können oder wollen, "keiner von ihnen", das sei eines "der großen Rätsel des Orchesters" gewesen", resümiert Lital Levin, die Großnichte von Leopold Trepper, dem Kopf der Pariser Gruppe ("It is one of the big conundrums of the orchestra, that none of them were able to serperate private passions from the professional work they were doing. None of them.")
Nur wenige entkamen
"Rote Kapelle" - dies ist, um auch mit diesem Mythos aufzuräumen, keine Selbstbezeichnung wie "weiße Rose", sondern der Name der nationalsozialistischen "Abwehr" für dieses lose Bündnis mutiger Männer und Frauen aus ganz Europa, die während des Zweiten Weltkriegs versuchten, Hitlers Vernichtungskriegsmaschine Einhalt zu gebieten.
1941 gelang es der deutschen Abwehr, Funkmeldungen aus verschiedenen Städten abzufangen. Man subsumierte diese Funkstellen unter dem Namen "Rote Kapelle". Es begann eine gnadenlose Jagd auf Leben und Tod sowohl in Paris wie auch in Brüssel und Berlin. Nur wenige entkamen.
Nach dem Krieg wurden die Schergen der Gestapo von westlichen Geheimdiensten hofiert und im Kalten Krieg instrumentalisiert. Ihre Opfer hingegen wurden ein zweites Mal als Vaterlandsverräter denunziert.
"Kurz nach Kriegsende entsteht in Westdeutschland ein amerikanisch finanzierter Geheimdienst, wo sich vor allem ehemalige Wehrmachtsoffiziere sammeln, aber bald auch ehemalige Gestapo-Mitarbeiter, Leute aus dem SD der SS... Und die beginnen 1949 mit einer Operation gegen die Rote Kapelle", zitiert der Film einen Historiker.
Junge, kluge Idealisten
Der Dokumentarfilm von Carl-Ludwig Rettinger rekonstruiert diese Geschichte und versucht, die Menschen um Harro Schulze-Boysen, Hans Coppi, Leopold Trepper greifbar zu machen. Dabei erzählt er nicht nur von den Hauptakteuren der Kapelle, sondern schafft auch Aufmerksamkeit für die über hundert anderen Mitstreiter, die heute nahezu vergessen sind.
Der Film ist gut geschnitten und präsentiert eine Fülle hochinteressanter Bilder in erstaunlich guter Qualität. Erkennbar ist das Bemühen der Filmemacher, Archivbilder zu verwenden, die noch nicht zu oft gesehen wurden, und nicht bereits in zig Dokumentarfilmen zuvor verwendet.
Besonders schlüssig ist dabei die Entscheidung, das historische Material aus bewegten Archiv-Bildern und Fotografien nicht nur mit den Aussagen der Nachfahren der Widerstandskämpfer zu verknüpften, sondern noch mit einer weiteren Ebene.
Regisseur Rettinger hat sich nämlich die zwei bisherigen fiktionalen Filmerzählungen zur Roten Kapelle vorgenommen - einen ostdeutschen DEFA-Film und eine westdeutsche Fernseh-Serie, beide etwa zur gleichen Zeit Anfang der 1970-er Jahre entstanden. Diese fiktiven mit bekannten Schauspielern gedrehten, actionreichen Filmbilder benutzt Rettinger wie historisches Quellenmaterial, ohne aber deren eigentliche Herkunft zu verschleiern.
Gerade dadurch entstand eine auch stillistisch originelle und überzeugende Form Geschichte zu erzählen. Ideen und Positionen, auch ethische oder politische Überzeugungen stehen dagegen nicht im Zentrum. Hier hätte man sich mehr vorstellen können.
Trotzdem treten den Zuschauern in diesem ausgezeichneten und ungewöhnlichen Dokumentarfilm die Menschen nahe, um die es hier geht: Junge, kluge Idealisten, die ihr Leben gaben für ein besseres Deutschland und für die Niederlage eines Verbrecherstaates.