Schöne neue Arbeitswelt: Verantwortung für die "Gesundheit" der Maschinen
Wie Beschäftigte zu Verantwortungsträgern gemacht werden – und warum das nicht zu weniger Ausbeutung führt. Über den Diskurs und die Techniken. (Teil 2)
Die Erweiterung der Arbeitsaufgaben, die im IBM-Werk in Endicott das Problem der Störungen im Produktionsfluss beseitigen sollte, war im Grunde ein untauglicher Lösungsversuch. Denn solange die Beschäftigten sich trotz vergrößerter Arbeitsbereiche nicht als verantwortlich für Unterbrechungen der Produktion betrachten, taucht das Problem von Maschinenstopps, Ausfallzeiten und nicht ausgelasteten Kapazitäten immer wieder auf.
Stillstände aller Art sind aber in einem kapitalistischen Unternehmen das Worst-Case-Szenario schlechthin: Sie stellen die Betriebsabläufe auf den Kopf und vermindern den Mehrwert. "Folglich", schreiben die Sozialwissenschaftler Luc Boltanski und Eve Chiapello mit Blick auf die Frage, die Unternehmensleitungen und Management zu lösen hatten und bis heute haben, "ist es nunmehr von grundlegender Bedeutung, das Bedienungspersonal so auszubilden, dass es eine behelfsmäßige Wartung gewährleisten, Pannen antizipieren und diagnostizieren und im Bedarfsfall zügig Fachpersonal heranziehen kann.
Die Arbeiter für die "Gesundheit" der Maschinen in die Verantwortung zu nehmen, ist also unerlässlich geworden." (Luc Boltanski, Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, S. 123)
Unternehmerisch denken und handeln
Für die Diskussion der Frage, wie man Beschäftigte dazu bringen könne, Verantwortung zu übernehmen, spielt Peter Drucker, der wohl bekannteste Unternehmensberater der Nachkriegszeit, eine wichtige Rolle. Er forderte in dem 1956 erschienenen Buch "Die Praxis des Managements" eine "unternehmerische Haltung" der Arbeitenden ein.
Drucker, in Österreich aufgewachsen und erst 1939 in die USA emigriert, bezeichnete sich selbst als christlich-konservativen Anarchisten. Er kritisierte die Unternehmen für ihr Unvermögen, die Arbeiter:innen von der Notwendigkeit der Steigerung von Rentabilität und Profit zu überzeugen.
Der daraus resultierende Widerstand sei nur zu überwinden, wenn die Unternehmen den "Glauben an die Würde des Menschen [so stärken], wie er im Begriff von der Verantwortung des Einzelnen für das Ganze ausgedrückt ist." Verantwortung definierte er "als innere Haltung, aus der heraus der Einzelne seinen Beruf richtig wertet, seine Arbeit und das, was er herstellt, nämlich so, wie der Unternehmer es sieht". Im Sinne Druckers liegt also eine verantwortliche Haltung vor, wenn Beschäftigte ihre eigenen Arbeitsinteressen hintanstellen und sich die Perspektive ihres Arbeitgebers aneignen.
Wie aber bringt man die Beschäftigten dazu, einen solchen Wechsel der Perspektive zu akzeptieren? Durch ein "Management by Objectives (MbO)", zu Deutsch: die Vereinbarung von Zielen, lautete die Antwort von Drucker. "Jeder Manager, vom ‚obersten Chef‘ bis herunter zum Vorarbeiter oder Büroleiter", lautete seine Maxime, "braucht klar umrissene Ziele. Diese müssen zeigen, welche Leistung von der Arbeitsgruppe, der der Betreffende vorsteht, erwartet wird."
Damit gab Drucker nicht nur den Anstoß für eine Managementmethode, die heute als "Zielvereinbarung" oder "Führen mit Zielen" bezeichnet wird. Er gab auch dem Verantwortungsbegriff, der bis dahin durch das tayloristische Verständnis vom Management geprägt war, eine andere Note.
War noch (wie in Endicott) Verantwortung eine alleinige Angelegenheit des Managements und gleichbedeutend mit Kontrolle und Aufgabenzuweisungen, so verstand Drucker diesen Begriff als Ausdruck einer inneren Haltung, die sich sowohl Management als auch jeder einzelne Beschäftigte anzueignen habe. Verantwortung betrachtete er als eine sittliche Eigenschaft und als Zeichen menschlicher Würde.
Drucker stellte damit den ethischen Aspekt des Verantwortungsbegriffs in den Vordergrund und deutete diesen im Sinne einer moralischen Handlungskategorie, auf deren Grundlage die Interessenlagen von Beschäftigten und Management zu organisieren seien. Das Ziel ist eindeutig: Durch gemeinsam getragene Verantwortung von Management und Beschäftigten soll eine Zusammenarbeit beider Seiten für das Wohl des Unternehmens hergestellt werden.
Auf diese Weise, so die Hoffnung Druckers, könne diese wie eine Partnerschaft fungieren und dadurch zu einer Entschärfung oder Überwindung des Klassenkonflikts beitragen. Indem Drucker zugleich den Verantwortungsbegriff zu einem Gebot von Ethik und Moral machte, wertete er nicht nur die Übernahme von Verantwortung auf.
Mit der Figur des verantwortungsvollen Beschäftigten legte er auch – in Anlehnung an einen Begriff des Soziologen Stefan Lessenich - den Grundstein für eine subtile Moralisierung des eigenen Arbeitshandelns. Verantwortlich für das Unternehmen zu sein und sich als solche zu erweisen, soll den Beschäftigten das gute Gefühl geben das Richtige zu tun.
Die dezentralisierte Verantwortung
Die von Drucker angestoßene Diskussion über den Verantwortungsbegriffs fand zu einer Zeit statt, in der die großen Unternehmen sich vor die Aufgabe der Modernisierung ihrer Führungsstrukturen gestellt sahen. Die 1950/60er-Jahre waren die goldene Zeit des US-Kapitalismus. Hohe Wachstumsraten und steigende Gewinne führten zur Ausdehnung der Unternehmen und zur Bildung großer Konzerne.
Das bis dahin übliche vertikale System von Verantwortungswegen und Entscheidungen, in denen einige wenige Firmenvorstände oder Eigentümer als oberste Instanz alleinige Entscheidungsbefugnis ausübten, konnte mit diesem Personalwachstum nicht mehr Schritt halten In der zeitgenössischen Soziologie fand diese Problematik als "Die Krise der Hierarchie" Eingang.
Als Reaktion auf diese Krise betrieben Unternehmen eine Strategie der Verlagerung von Kompetenzen. Unter und neben dem vertikalen System entstand ein horizontales Geflecht von Leitungsfunktionen, in denen den mittleren Führungskräften eigenständige Arbeitsbereiche und Entscheidungskompetenzen zugewiesen wurden.
Durch diese Dezentralisierung von Leitung wurden auch Verantwortung für das Unternehmen auf die mittlere und untere Führungsebene verteilt und damit auf eine breitere Grundlage gestellt. Der Erfolg war enorm, denn die Strategie der Dezentralisierung trug dazu bei, die Hierarchiekrise einzudämmen. "Dank dieses ausgeklügelten Organisationssystems", erklären Boltanski/Chiapello in "Der neue Geist des Kapitalismus" (Konstanz, 2003, S. 100 ff), "zieht immer noch die Unternehmensführung die Fäden und nimmt doch gleichzeitig die als notwendig erachteten Reformen in Angriff."
Die Firmenvorstände registrierten als positiven Effekt dieser Dezentralisierung eine größere Zufriedenheit in den mittleren Ebenen der Unternehmen. Aber noch wichtiger war eine andere Erkenntnis: Verantwortung lässt sich verlagern, ohne dass die Führung eines Unternehmens einen Machtverlust erleidet!
Die Verantwortlichmachung
Eine weitere Methode, die zur selben Zeit wie die Dezentralisierung entstand, wird heute in den Sozialwissenschaften als Responsibilisierung bezeichnet. Zu verstehen ist darunter ein Vorgang, durch den Akteure individuell für eine Aufgabe verantwortlich gemacht werden, die zuvor die Verpflichtung eines anderen Akteurs war oder überhaupt nicht als Verantwortung anerkannt wurde.
Dies geschieht in der Regel in Form eines Appells, der Einzelne und besonders deren Bedürfnis nach Eigeninitiative und Selbständigkeit anspricht. Durch den Appell sollen sie zu erhöhtem Engagement veranlasst und ihre Verantwortung in die Richtung gelenkt werden, die der Appellierende anstrebt.
Gregoire Chamayou, ein Politikwissenschaftler aus Lyon, zählt die Responsibilisierung zu einer wichtigen Methode neoliberaler Mikropolitik, "die inzwischen in vielen Bereichen zu einer der wesentlichen Taktiken des "ethischen" Neoliberalismus geworden ist." Wie er in seiner Studie "Die unregierbare Gesellschaft" (Berlin 2019, S.259) schreibt, zielt sie darauf, "Wirkungen auf Bewusstsein und Handeln zu entfalten, Denkfähigkeiten und Handlungsweisen radikal zu verändern." Chamayou bezeichnet diese Steuerung als "Kunst, andere zu regieren, indem man in ihnen eine reflektierte Fähigkeit zur Selbststeuerung aktiviert – eine Autonomie in der Heteronomie."
Wie dieses Verantwortlichmachen funktioniert, verdeutlicht das Beispiel der Getränkeindustrie in den USA. Diese startete in den 1950er-Jahren eine groß angelegte Werbekampagne Sie zielte auf das bis dahin üblichen Pfand- und Rücknahmesystem von Getränkeflaschen, ein System, das sich jahrzehntelang in den USA bewährt hatte: Der Kunde zahlte zusätzlich ein paar Cent, wenn er eine Flasche kaufte und bekam diese erstattet, wenn er die Flache zurückbrachte. Die Flaschen wurden dann gereinigt, befüllt und erneut in den Handel gebracht.
Diese Kosten wollte die Industrie gerne loswerden und genau hierauf zielte die Kampagne. In Werbespots und großformatigen Plakaten prangerte eine von ihr engagierte Werbeagentur die Vermüllung der Natur durch Haushaltsabfälle an. "Umweltverschmutzung beginnt bei den Menschen, und Menschen können sie stoppen" lautete der wichtigste Satz der Kampagne. Mit der Aufforderung "Keep America Beautiful" wurde an das Umweltbewusstsein der BürgerInnen appelliert, freiwillige Sammelaktionen für Glasgefäße aller Art organisiert und Sortiercontainer für das Recycling von Glas, Dosen u.a. aufgestellt.
Mit durchschlagendem Erfolg, wie Chamayou festhält: "Am Ende dieser erfolgreichen Gegenoffensive der Industrielobbys stand das Recycling als ausschließliche Lösung anstatt als Ergänzung zu verbindlichen Programmen einer Müllreduzierung an der Quelle." Die Bürger:innen übernahmen nun selbst Verantwortung für die Umwelt. Statt Rücknahmesysteme, die die Unternehmen hätten bezahlen müssen, ist es nun zum moralischen Anliegen der Verbraucher geworden, sich für den Umweltschutz verantwortlich zu fühlen.
Auch der Ölkonzern BP nutzt die responsible Methodik des Verantwortlichmachens für eigene Interessen. Er machte das Konzept des CO2-Fußabdrucks (Englisch: Carbon Footprint) weltweit bekannt. Das Unternehmen brachte 2004 einen CO2-Rechner heraus, mit dem Menschen berechnen können, für wie viel CO2-Emissionen sie verantwortlich sind. BP lenkte mit dieser Werbekampagne geschickt die Aufmerksamkeit vom massiven CO2-Fußabdruck der fossilen Konzerne auf Individuen um.
Dabei sind Einzelpersonen nicht die Hauptverursacher von CO2-Emissionen und können mit ihrem Verhalten nur wenig Einfluss auf weltweite und nationale Treibhausgasemissionen nehmen. Dennoch ist der Fußabdruck in der Öffentlichkeit als wichtigster Wert zur Beurteilung für verantwortungsvolles Umweltverhalten weithin anerkannt.
Bei der Responsibilisierung handelt es sich also um eine Verschiebung von Verantwortung auf Individuen. Im Sinne einer neoliberalen Machttechnik will sie Unternehmensinteressen nicht gegen Menschen durchzusetzen, sondern diese aktivieren und in ihre Strategie der Machtausübung einspannen. Die "Clou" dieser Methodik besteht darin, dass die Aktivierten den auslösenden Anstoß für ihr Aktivierung in sich selbst verorten und davon überzeugt sind, es sei ihrer eigenen Motivation geschuldet, für eine Sache Verantwortung zu übernehmen, die zuvor noch jemand anderes innehatte.
Zudem vermittelt ihnen die Übernahme von Verantwortung das gute Gefühl das moralisch Richtige zu tun, wobei sie, wie Stefan Lessenich schreibt, "die mehr oder weniger (meist weniger) subtile Moralisierung der persönlichen Lebensführung beinahe kaum mehr registrieren." (Stefan Lessenich: Von der Not der Pandemie und dem Elend der Verantwortung, in WSI-Mitteilungen 5/2021, S.419)
Die Bedeutung der Machttechniken
Mit Blick auf die Frage nach den Gründen für das heute bei vielen Beschäftigten verbreitete Verantwortungsbewusstsein lässt sich also feststellen, dass erst durch das Aufkommen bestimmter Machttechniken eine Konstellation entstand, die Unternehmensleitungen und Management dazu nutzen konnten, aus ihren Beschäftigten zuverlässige Verantwortungsträgern zu machen. Denn Techniken wie die Dezentralisierung und Responsibilisierung ändern die Situation entscheidend.
Unternehmensleitungen und Management können nun Verantwortung für das Unternehmen ohne Furcht vor eigenem Machtverlust verlagern und ihre Beschäftigten zu einer (Mit)Verantwortung verpflichten, ohne dass diese über die notwendige Handlungsmacht verfügen. Auch die Tatsache, dass diese heute in Folge einer dezentralisierten Form von Arbeitsorganisation zweifellos über größere Handlungsspielräume und Selbständigkeit verfügen, ändert an ihrer fehlenden Mächtigkeit wenig.
Denn die mit Selbstständigkeit einhergehende Zunahme an Verantwortung ist eben nicht mit einem Machtgewinn verbunden, sofern wir darunter eine reale, die Verhältnisse ändernde Handlungsmacht verstehen. Zudem leisten die Techniken einer sozialpartnerschaftlichen Ideologie im Sinne einer "Wir sitzen in einem Boot"-Rhetorik wertvolle Dienste, können doch die Unternehmen im Zuge der Umsetzung dieser Methoden ihre Beschäftigten als Mitverantwortliche, ja sogar als Mitunternehmer hofieren, ohne sie an den wirklich relevanten Entscheidungen zu beteiligen.
Hermann Bueren ist Autor des Buchs: "Bewegt Euch Schneller! Zur Kritik moderner Managementmethoden. Ein Handbuch", 300 Seiten, Kellner Verlag Bremen