Scholz in Moskau: "Ein Vermittler braucht eine eigene Agenda"
Fjodor Lukjanow (rechts) diskutiert im Waldai-Klub als dessen Forschungsdirektor unter anderem mit dem russischen Präsidenten. Foto: kremlin.ru / CC BY 4.0
Ein Gespräch mit dem Moskauer Politologen Fjodor Lukjanow über die Reise des Bundeskanzlers, über mutmaßliche russische Invasionspläne sowie deutsche Russland-Politik und transatlantische Paraden
Der Politologe Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der russischen Fachzeitschrift Russia in Global Affairs [1] und gilt als einer der renommiertesten Kenner der Außenpolitik Russlands. Daneben leitet er in Moskau den Thinktank "Rat für Außen- und Verteidigungspolitik" und ist Forschungsdirektor des Waldai-Klubs [2]. Telepolis hat ihn anlässlich der heutigen Moskau-Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gesprochen.
Herr Lukjanow, Sie haben in der Tageszeitung Kommersant selbst geschrieben, nach den Berichten vieler Medien stehen wir an der Schwelle zu einem Krieg. Am Wochenende hieß es in deutschen Medien, die CIA prognostiziere für Mittwoch einen Einmarsch Russlands in die Ukraine. Was halten Sie von solchen Geheimdienstinformationen?
Fjodor Lukjanow: Zu solchen Informationen habe ich eigentlich gar nichts zu sagen, weil ich sehe, dass alle westlichen Medien hier auf einer Linie sind und nur Aussagen wiederholen.
In Deutschland wurden sie eben sehr ernst genommen und es wurde eine Reisewarnung ausgesprochen.
Fjodor Lukjanow: Die Regierung hat diese Warnung auf Grundlage der Daten der Geheimdienste ausgesprochen. Hier ist einfach die Frage: Glauben wir, dass anonyme Informationen, die staatliche Stellen an die Öffentlichkeit weitergeben, der Wahrheit entsprechen oder nicht - oder sogar absichtlich in die Irre führen? Ich kann diese Frage nicht beantworten, die Einwohner des Westens müssen wissen, ob sie ihren Behörden vertrauen oder nicht.
"In Russland gibt es überhaupt kein Vorkriegsgefühl"
Ich kann nur sagen, es gibt einen erstaunlichen Kontrast zur Stimmung in Russland, wo es überhaupt kein "Vorkriegsgefühl" gibt - weder in der Gesellschaft, bei den Bürgern noch bei den Entscheidungsträgern. Wenn sie sich auf etwas vorbereiten, dann unglaublich professionell, es ist unmöglich zu erahnen, dass sie überhaupt etwas vorhaben.
Das Ausmaß an Alarmismus, den US-Beamte verbreiten, ist dagegen erstaunlich. Vor allem erinnere ich mich nicht an so etwas, dass von höchster Ebene bis zum Präsidenten das Datum des Kriegsbeginns durch ein anderes Land gegenüber einem Drittstaat genannt wurde.
Nehmen wir an, Russland verschweigt etwas, aber warum sagt dann die Ukraine, dass sie nichts dergleichen erwartet? All das ist erstaunlich. Ich habe über die Interpretation verschiedene Hypothesen. Vielleicht ist es aber nicht meine Sache, das zu verstehen oder zu kommentieren. Wir haben es mit einer völlig neuen internationalen Realität zu tun, in der eine fiktive Bedrohung zu einem realen Faktor in der Politik wird.
Ist es Ihrer Meinung nach nicht gefährlich, wenn die russische Seite angesichts dieses Klimas des Misstrauens die Lage mit Großmanövern nahe der Grenze eskaliert? Auch wenn diese Manöver, wie betont wird, auf eigenem Gebiet stattfinden?
Fjodor Lukjanow: Das ist generell eine interessante Frage. Nach meiner Meinung hat sich die Nato mit ihrer Arroganz selbst eine Falle gestellt. Seit den frühen 1990er-Jahren erweitert sie sich Schritt für Schritt, wie in einem Automatismus, nach Osten und nach Süden auf den Balkan. Man ging dabei davon aus, das wäre eine Art europäische Transformation, die gar nichts mit Sicherheitsinteressen zu tun hat.
Alle militärischen Verpflichtungen, die laut der Nato-Charta bestehen und die Nato bei Anforderung eines Mitglieds erfüllen muss, wurden vernachlässigt, weil man dachte, das tritt nie ein. Ende der 1990er oder Anfang der Nuller-Jahre hatte niemand vor, für Estland oder die Slowakei wirklich zu kämpfen. Dann stellte sich heraus, dass sich das Rad der Zeit zurück drehte und erst einmal genau die Funktion der Nato gefragt war, die militärische Garantien aussprach.
Hier stellt sich die Frage: Sind die Hauptakteure – die USA und Westeuropa – bereit, solche Garantien zu geben? Sie scheinen bereit zu sein. Aber wenn es dazu wirklich kommt? Sie mögen bereit sein, aber es bestünde das ernste Risiko, dass das in den Gesellschaften dieser Länder keine Unterstützung fände.
Dass sich die Nato in einem Umfang ausgedehnt hat, wo die Erfüllung ihrer Pflichten sehr schwer, vielleicht sogar unmöglich geworden ist, war ein schwerwiegender strategischer Fehler. Was passiert momentan? Momentan führt Russland Aktionen durch, die als alles mögliche angesehen werden können: bedrohlich, beängstigend, provozierend. Aber, wie Sie schon sagten: Auf dem eigenen Territorium und mit jedem Recht dazu.
Das heißt: Die Nato hat sich bis zu einem Punkt ausgeweitet, an dem sie das Gefahrenniveau im unmittelbaren Umfeld nicht mehr kontrollieren kann. Das ist eine schwierige, aber auch unnötige Situation. Der Fokus auf die Ukraine ist dabei ziemlich überraschend, da man bisher dachte, dass sie irgendwie mit geschützt wäre. Jetzt bemerkt man plötzlich, dass sie gar kein Nato-Mitglied ist und man ihr gegenüber gar keine Verpflichtungen hat.
Ausbildungspersonal wird von Washington und London genau in dem Moment evakuiert, in dem es gebraucht würde - zumindest nach dortiger Denkweise. Mir scheint, dass der Prozess der Nato-Erweiterung in eine Sackgasse geraten ist. Es geht nicht mehr um Sicherheit, sondern eine Verringerung der Sicherheit für alle. Das tut mir auch leid, aber man hat sich selbst in diese Situation gebracht ohne Zwang.
Wäre in der aktuellen Situation ein befristetes Aufnahmemoratorium der Nato ein möglicher Kompromiss?
Fjodor Lukjanow: Ich denke, vieles ist möglich. Aber wir sollten sehr ernsthafte Gespräche führen, die wirklich zu einer Paketlösung führen. Es braucht eine ganze Reihe unterschiedlicher politischer und militärischer Maßnahmen, die das Gefühl für Realität zurückbringen. Eines der Probleme, die durch die Ereignisse der letzten 30 Jahre besteht, ist der Verlust dieses Realitätssinns.
Gerade innerhalb der Nato lebten einige in einer Illusion, was in Europa möglich sei und passieren wird. Und in Russland lebte man erst mit einem Gefühl der Irritation und dann tiefen Ablehnung dessen, was geschah. Alle Versuche Russlands, Fragen nach einer Änderung des Konzepts aufzuwerfen, nach dem mehr Nato auch mehr Sicherheit bedeutet, waren erfolglos.
Als Russland Ende der 1990er-Jahre begann, diese Fragen zu stellen, wurde es zunächst ignoriert, auch danach mehrere Male. Niemand wollte diskutieren, denn der Westen hatte das Gefühl, alles sei in Ordnung. Nun nach dem Ende dieser Illusion steht ein tiefes Misstrauen, ein Wunsch nach Rache. Das ist jetzt der Fall.
Mediation müsste "über das Bekannte und Besprochene hinausgehen"
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz besucht an diesem Dienstag Moskau und sagt, er möchte zum Frieden in Europa beitragen. Wird Deutschland in Moskau noch als gesprächsbereiter wahrgenommen als andere westliche Staaten?
Fjodor Lukjanow: Hierzu gibt es in Moskau unterschiedliche Meinungen und Wahrnehmungen. Allgemein wird es so wahr genommen, aber diese Wahrnehmung halte ich nicht für wichtig. Wichtiger ist, dass Deutschland seine Rolle in Europa und der euro-atlantischen Gemeinschaft wahrnimmt. Denn irgendeine Vermittlerrolle - egal ob durch Deutschland, Frankreich, die Türkei, wen auch immer - kann nur entstehen, wenn ein Staat und seine Führung eine eigene Agenda haben. Sie können nicht nur eine gemeinsame Meinung der Nato und EU transportieren.
"Es herrscht kein Mangel an Kommunikation"
Es reicht nicht zu sagen "hier haben wir eine Meinung, die müssen Sie berücksichtigen und Ihr Verhalten irgendwie ändern". Das ist sinnlos. Es wurde schon versucht, es funktioniert nicht. Vor allem, wenn es um eine Position geht, zum Beispiel der USA, die die westliche Gemeinschaft dominiert, das macht keinen Sinn. Mit den USA spricht Russland direkt, es werden keine Vermittler benötigt.
Es herrscht kein Mangel an Kommunikation. Wir sind nicht im Kalten Krieg. Im Kalten Krieg gab es manchmal Fälle, in denen der Kontakt so abbrach, dass jemand helfen musste, ihn wieder herzustellen. Das war sehr nützlich. Oder vor sechs Jahren gab es den Fall, dass türkische Streitkräfte ein russisches Flugzeug abschossen und die Beziehungen zur Türkei vollständig abbrachen. Hier brauchte es die Vermittlung Kasachstans um die Kommunikation wiederherzustellen. Das war sehr nützlich.
Wir haben aktuell kein solches Problem mit den Vereinigten Staaten. Die Kommunikation ist sehr intensiv auf den Ebenen der Präsidenten, Minister und der Beamten. Mediation ist also sinnvoll, wenn sie etwas hinzufügt, sie etwas bringt, die über das Bekannte und Besprochene hinaus geht.
Und nachdem man sich von einer Seite Unterstützung und Zustimmung geholt hat, wendet man sich an die andere mit dem Vorschlag, das ebenfalls zu berücksichtigen. Wenn Olaf Scholz so eine Idee hat, wird ihm aufmerksam zugehört werden. Wenn wir nur davon sprechen, kollektive Standpunkte zu wiederholen, dann ist das in Ordnung, wird aber nicht funktionieren.
Ist dann aktuell nur eine Vereinbarung zwischen den großen Playern eine Lösung? Halten Sie sie für wahrscheinlich?
Fjodor Lukjanow: Ich sehe da noch keine Perspektive, da es eine große Vereinbarung sein müsste. Ein politisches Abkommen, vergleichbar mit den großen Verträgen , die wir aus der Zeit unmittelbar nach dem Kalten Krieg kennen. Die bisherige Ordnung wurde zuerst 1975 in Helsinki und dann 1990 in Paris gefestigt. Tatsächlich hat sich das Modell, das seit 1990 praktiziert wird, erschöpft.
Es hatte Licht und Schatten, wer recht hatte und wer nicht, das ist jetzt nicht von Belang. Die Möglichkeiten wurden ausgeschöpft, aber nichts wird wieder so sein, wie es damals festgehalten wurde. Dort wurde tatsächlich fixiert, dass die Nato gleichbedeutend mit Sicherheit ist. Deshalb brauchen wir jetzt eine politische Einigung in der gleichen Größenordnung, die bisherige ist nicht bindend.
Russland besteht aktuell auf rechtsverbindlichen Übereinkommen, aber ich sehe keine Möglichkeiten welche abzuschließen. Weder die Akte von Helsinki noch die Charta von Paris waren rechtlich bindend. Es waren große politische Erklärungen. So etwas bräuchte es jetzt.
Natürlich ist das, worüber jetzt die Amerikaner zu reden bereit sind, Rüstungskontrolle, vertrauensbildende Maßnahmen, strategische Stabilität, alles sehr wichtig. Aber die russische Position ist hier sehr bestimmt: Zuerst eine politische Vereinbarung, die festlegt, dass die Nato nicht mehr erweitert wird. Auf die eine oder andere Weise, vielleicht nicht über eine rechtliche Garantie.
Man muss versuchen, das irgendwie zu lösen. Dann erst folgt dieses ganze Thema mit der Kontrolle über die Waffen. Es kann diskutiert, etwas angenommen, erweitert werden. All das ist schwierig, aber lösbar, weil es Erfahrungen mit diesem Thema gibt. Aber zuallererst ist ein politischer Neustart erforderlich und dieser hängt leider weitgehend von der ukrainischen Frage ab. Das größte Problem besteht darin, wie sie gelöst werden kann.
Münchner Sicherheitskonferenz: "Parade der transatlantischen Einheit"
Am kommenden Wochenende findet die Münchner Sicherheitskonferenz statt. Russland hat seine Teilnahme abgesagt. Vergibt man damit nicht auch die Chance auf einen Dialog?
Fjodor Lukjanow: Nein, das denke ich nicht. Ich wurde dieses Jahr gar nicht eingeladen, also werde ich auch nicht gehen. Aber ich war auf dieser Konferenz in München mehrfach. Sie ist recht interessant, ereignisreich, informativ. Die Organisatoren geben sich große Mühe, es herausragend zu gestalten. Aber diese Münchner Konferenz war schon früher und ist heute noch mehr eine Parade der westlichen, transatlantischen Einheit.
Mal aufrichtig, mal weniger, auf unterschiedliche Weise. Russische Teilnehmer treten auf, der beste Auftritt war vor 15 Jahren der von Präsident Putin, Iwanow war einige Male dabei, auch Lawrow in den letzten Jahren. Unsere Vertreter sprachen dort anders, mal sehr erleuchtend, mal weniger, mit unterschiedlichem Ergebnis.
Aber wichtig ist: Es geschah nie etwas anderes als die formale Feststellung, dass inklusive der russischen Standpunkte alle vertreten sind. Aber die Konferenz an sich ist eine der atlantischen Gemeinschaft. Das ist okay. Mit ist da aber nicht klar, warum es dann überhaupt dort Außenstehende braucht, die mit ihren Aussagen nur nerven und sich entschlossen gegen etwas wehren.
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