zurück zum Artikel

Schröder, Effenberg und Hartz IV

Matthias Kaufmann über die Medien-Debatte um Hartz IV

Die Einführung der Hartz-Reformen [1] war von einer emotionalisierten Berichterstattung begleitet, die Langzeitarbeitslose als Faulpelze und Schnorrer darstellte. Der Diskursforscher Matthias Kaufmann [2] hat in seinem Buch Kein Recht auf Faulheit [3] die Debatte noch einmal Revue passieren lassen.

Herr Kaufmann, Sie sprechen in Bezug auf Deutschland mitunter von einer "Mediendemokratie". Bedeutet das, dass gewisse politische Diskurse von speziellen Medien inszeniert und gelenkt werden, die dann die regierenden Parteien als reale Sachverhalte aufgreifen müssen, um so, wie bei den Hartz-IV-Reformen, eine repressive Politik zu legitimieren?
Matthias Kaufmann: Politische Diskurse finden nicht ohne Vermittlung der Medien statt, das findet sich im Begriff der Mediendemokratie wieder. Ihre Frage zielt auf Manipulationen der öffentlichen Debatte durch die Medien. Ganz so eindimensional ist die Sache nicht: Ja, die Agenda der Medien beeinflusst die der Parteien und politischen Gremien, aber umgekehrt ist es auch so. Wenn der Kanzler eine Pressekonferenz gibt, kommen die meisten Medien nach ihrer eigenen Arbeitslogik gar nicht umhin, darüber zu berichten, egal wie sinnvoll, banal oder hirnverbrannt es sein mag, was der Kanzler da sagt. Die Vorstellung, die armen, naiven Parteien hingen an den Marionettenfäden der Medien, ist da ein bisschen weltfremd.
Schröder selbst hat ja gesagt, er brauche nur "BILD, BamS und Glotze", um Deutschland zu regieren. Was ist also so falsch am Umkehrschluss, dass BILD, BamS und Glotze nur einen Bundeskanzler benötigen, um ihre Interessen durchzusetzen?
Matthias Kaufmann: Problematisch ist die Lage eher, weil sich Politiker und Medienvertreter so ähnlich sind. Sie ähneln einander in der sozialen Zusammensetzung, in ihrer Bildung und oft auch im Erfahrungshorizont: Die meisten von ihnen sind Akademiker, beziehen ein regelmäßiges Einkommen und haben sehr ähnliche Vorstellungen von einem funktionierenden Staatswesen. In Berlin kommt hinzu, dass sie auch noch sehr viel Zeit miteinander verbringen. Das führt dazu, dass die Interessen von Gruppen unterrepräsentiert sind, die von diesem Muster stark abweichen. Dazu bedarf es keiner bösen Absicht.
Was nicht debattiert wird, kann am Ende nicht politisch umgesetzt werden. Deswegen spielt die Repräsentation von Interessen eine große Rolle. Es gibt wichtige Auslassungen in den Debatten, oft von Aspekten, die man eigentlich bei sachkundiger Betrachtung erwarten könnte. Das war Anfang der 2000er-Jahre noch mit dem Mindestlohn so: In den Sozialwissenschaften wurde darüber teils eifrig debattiert, in der deutschen Arbeitsmarktdebatte kam er praktisch nicht vor.
Welche Debatten waren in den Medien der Agenda 2010 vorausgegangen? Waren die darin geschilderten Sachverhalte repräsentativ für die Arbeitslosenproblematik oder sollten sie nur Ressentiments schüren?
Matthias Kaufmann: Der Agenda 2010 war eine teils sehr emotionale Debatte vorausgegangen: Massenarbeitslosigkeit wurde als gesellschaftliches Schlüsselproblem thematisiert, für das in erster Linie die Erwerbslosen selbst verantwortlich sein sollten. Das Schlüsselargument war, dass man mit Arbeitslosenhilfe so gut leben könnte, das besonders faule oder berechnende Arbeitslose gar keinen Grund hätten, selbst zu arbeiten - also müsste man nur dafür sorgen, dass Arbeitslosigkeit weniger Spaß macht, damit die Zahl der Betroffenen sinkt. Für Emotionen sorgte vor allem die moralisierende Darstellung von Erwerbslosen als faulen Abgreifern von Sozialleistungen.
Von Fakten gestützt war der Vorwurf nicht. Natürlich gibt es vereinzelt faule Menschen, gleich ob mit oder ohne Festanstellung, aber das hat ja mit dem Ausmaß der Arbeitslosigkeit nichts zu tun. Es gibt keine seriöse Untersuchung, die diesen Zusammenhang belegt. Laut einer DIW-Studie aus jener Zeit suchten zehn Prozent der Erwerbslosen keine Stelle, die meisten davon aber aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie kurz vor der Rente standen. Diese zehn Prozent kann man nicht für die Gesamtzahl der Arbeitslosen verantwortlich machen, damals rund 4 Millionen.

"Trittbrettfahrer", "Schmarotzer" und "Parasiten"

Können Sie abschätzen, inwiefern der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die Hartz-IV-Debatte selbst angestoßen hat?
Matthias Kaufmann: Es gibt für diese Debatte natürlich Vorläufer, die Argumente waren schon länger in der Welt. Aber die Qualität der Debatte änderte sich nach dem 6. April 2001. Da gab Bundeskanzler Gerhard Schröder der Bild-Zeitung ein Interview. Eine Frage lautete: "Es gibt knapp 4 Millionen Arbeitslose und fast 600.000 offene Stellen – was stimmt da auf dem Arbeitsmarkt nicht?" Darauf hätte er zum Beispiel antworten können, dass nicht jeder Job zu jedem Bewerber passt, dass es auch volkswirtschaftlich sinnvoll ist, wenn nicht jeder Suchende blindlings jede Stelle annimmt, die nichts mit seiner Qualifikation zu tun hat.
Aber er sagte stattdessen: "Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft! Das bedeutet konkret: Wer arbeitsfähig ist, aber einen zumutbaren Job ablehnt, dem kann die Unterstützung gekürzt werden. Das ist richtig so. Ich glaube allerdings, dass die Arbeitsämter die entsprechenden Möglichkeiten noch konsequenter nutzen können."
Das war perfide, denn er sagte nicht: Arbeitslose sind allesamt faul. Aber er setzte Faulheit mit den genannten Zahlen in einen Zusammenhang. Niemand hatte nach Solidarität für Leute gefragt, die nicht arbeiten wollen, und er tat so, als ginge es genau darum. Tatsächlich ging es um Solidarität mit Leuten, die ihren Beitrag zum Solidarsystem bereits geleistet haben, denn darum geht es ja bei Sozialversicherungen. Andere verschärften dann den Ton. Der Tiefpunkt der Entwicklung war 2005 eine Broschüre, die Arbeitsminister Wolfgang Clement in Auftrag gegeben hatte. Erwerbslose wurden dort als "Trittbrettfahrer", "Schmarotzer" und "Parasiten" bezeichnet.

"Wirtschaft, Politik und Medien sind in einer guten Position"

Können Sie bei der Hartz-IV-Debatte ein bewusstes Zusammenspiel von Wirtschaft, Politik und Medien erkennen?
Matthias Kaufmann: Es gibt viel Gleichklang und wir sind versucht, daraus ein bewusstes Zusammenspiel abzuleiten - mit dem Nachweis hapert es aber meist. Selbst wenn ein Politiker nach Dienstende von Firmen angeheuert wird, die von seiner Politik profitiert haben, ist ja nicht gesagt, dass ihm das vorher versprochen wurde, auch wenn das für Außenstehende naheliegend erscheint.
Der Gleichklang in den Argumenten sagt viel über das, was man Zeitgeist nennt, und darüber, dass in allen drei Sphären das Wertegerüst oft ähnlich ist. Entscheidend ist, wie erfolgreich Themen gesetzt werden - am besten so stark, dass die andere Seite sie nicht aussitzen und am Ende ignorieren kann. Wirtschaft, Politik und Medien sind da in einer guten Position.
Erwerbslose haben dagegen denkbar schlechte Bedingungen, ihre Interessen institutionalisiert in die Öffentlichkeit zu tragen, das war vor zehn Jahren noch stärker so als heute. In den Zeitungstexten, die ich untersucht habe, kommen kaum Erwerbslose zu Wort. Da erkenne ich ein Versäumnis der Medien: Zumindest sie hätten doch auch die Position der Betroffenen erfragen müssen.
Ein Jahr später hat sich der Fußballspieler Stefan Effenberg über Arbeitslose ähnlich abschätzig geäußert wie seinerzeit rot-grüne Bundespolitiker, ihm brandete aber eine Welle der Empörung entgegen. Was war der Unterschied?
Matthias Kaufmann: Effenberg wurde vorgehalten, dass er sich als Fußballmillionär gar kein Urteil anmaßen dürfte. Da griffen ganz andere Personalisierungsmechanismen als beim Kanzler, wohl auch, weil sich Effenberg mit Sport und Society in einem völlig anderen Genre bewegt. So entstand eine Art Stellvertreterdebatte. Hier konnten alle, die sich über die pauschale Verurteilung von Erwerbslosen ärgern, mal ihrem Frust Luft machen - das aber folgenlos. Am Ende dieser Debatte wurde die Anreizlogik, mit der doch auch der Kanzler argumentiert hatte, nicht in Frage gestellt, insofern vielleicht sogar verstärkt.
Die öffentliche Debatte um die "faulen Arbeitslosen" hat ja in der Bevölkerung durchaus Verständnis für die Hartz-IV-Reformen bewirkt. Sind die Deutschen ein Volk von Sadisten und Sado-Masochisten?
Matthias Kaufmann: Es mag die Akzeptanz gefördert haben, dass man sich in Deutschland gerne über die Arbeit definiert, und dass der Verdacht, jemand könne uns Steuerzahlern frech in die Taschen greifen, so zuverlässig Abwehrreflexe erzeugt. Es ist auf jeden Fall so, dass die Anreizargumentation leicht mit verbreiteten Marktmechanismen erklärt werden kann. Die haben den Vorteil, dass sie sehr schlicht sind. Und den Nachteil, dass sie für vieles eigentlich nicht anwendbar sind: Arbeitskraft ist kein Marktgut, das wie jedes andere verkauft werden könnte, schon weil es nicht vom Arbeitenden und seinen Lebensbedingungen getrennt werden kann.
Wie haben die Hartz-IV-Reformen den Arbeitsmarkt in Deutschland verändert?
Matthias Kaufmann: Mittelfristig hat es einen Beschäftigtenzuwachs gegeben, allerdings zum Preis real sinkender Löhne und der Zunahme prekärer Beschäftigung. Die volkswirtschaftliche Arbeitsmenge hat dabei nur wenig zugenommen, viele der neuen Beschäftigten hatten also keine Vollzeitstellen. Die langfristigen Folgen sind noch gar nicht zu überblicken: Für die vielen Leiharbeiter und befristet Beschäftigten, die inzwischen hinzugekommen sind, sieht es bei der Rente ziemlich düster aus - was sich in ein paar Jahren im privaten Konsum und damit auch wieder am Arbeitsmarkt bemerkbar machen wird. Die Konzessionsbereitschaft von Jobbewerbern hat zugenommen, weil Arbeitslose jede Stelle annehmen müssen, auch wenn der Lohn deutlich niedriger liegt als früher - was bei erneuter Arbeitslosigkeit auch weniger staatliche Hilfe bedeutet.
Die Angst vor dem Jobverlust ist gewachsen, wer einmal in Hartz IV ist, kommt nur sehr schwer wieder raus. Und auch wenn man schwerlich einen direkten Kausalzusammenhang nachweisen kann: Dass die Zahl der Stresserkrankungen und Klagen über beruflichen Druck zugenommen hat, dürfte auch Teil des Phänomens sein.

"Klischee vom wurschtigen Abzocker"

Wie hat sich seit der rot-grünen Äußerung über die "faulen Arbeitslosen" die öffentliche Debatte verändert?
Matthias Kaufmann: In den Jahren vor den Hartz-Beschlüssen wurde der Ton teils sehr aggressiv, von "Schnorrern" war da die Rede, denen man mal den "Fahnder vom Amt" schicken müsste - Fernsehserien wie "Gnadenlos gerecht – Sozialfahnder ermitteln" hielten das Klischee vom wurschtigen Abzocker wach und überhöhten es. Heute ist seltener von Faulheit die Rede, aber ich fürchte, das liegt nicht an allgemeiner Einsicht, sondern eher daran, dass inzwischen auf das Bild vom faulen Arbeitslosen zurückgegriffen werden kann, ohne so starke Worte benutzen zu müssen - Andeutungen reichen.
Ein Beispiel ist die Debatte vom Sommer 2010, wo es darum ging, ob im Regelsatz für Hartz-IV-Bezieher weiter Kosten für Alkohol und Tabak enthalten sein sollten. Niemand würde das Recht erwachsener Menschen in Zweifel ziehen, Alkohol und Tabak zu konsumieren, aber bei Arbeitslosen wird gleich das Bild vom verquarzten Alkoholiker angedeutet.
Und wie hat Hartz-IV die Politik verändert? Der SPD haben diese Reformen offenkundig kein Glück gebracht. Warum hält sie trotzdem an ihnen fest?
Matthias Kaufmann: Der SPD hat das ganze mit der WASG - die dann in der Linken aufgegangen ist -, eine neue Konkurrenzpartei beschert, mit schlechten Wahlergebnissen als dauernde Folge. Dennoch will sie nicht von Hartz lassen. Das versteht man nur, wenn man sich vor Augen hält, wie dramatisch dieser Umschwung wäre, und dass es nach wie vor viele Parteigänger gibt, die das Hartz-Programm für richtig halten. So leicht verlässt eine Partei den einmal eingeschlagenen Pfad nicht. Außerdem sind noch viele in hochrangigen Parteipositionen, die diese Politik mitgetragen haben. Die gestehen sich ihre Fehler nur ungern ein. Wenn sie sie überhaupt erkennen.

URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3362711

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Der-Staat-verzerrt-den-gesamten-Arbeitsmarkt-3503540.html
[2] http://www.spiegel.de/extra/a-758511.html
[3] http://www.springer.com/springer+vs/politikwissenschaft/book/978-3-658-02084-2