Schuldspruch nach Berliner Tiergartenmord: Justiz und Geopolitik

Der Tiergarten-Prozess fand unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt. Bild: Jörg Tauss

Der Prozess gegen den Russen Krasikow ist wie erwartet ausgegangen. Die Aufarbeitung des Morddeliktes war von Beginn an stark politisiert, auch vor Gericht

Das Urteil im Namen des Volkes lautet: lebenslängliche Haft. Der Angeklagte Vadim Krasikow ist ein Mörder. Heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen habe er, so entschied heute der Staatsschutzsenat am Berliner Landgericht, den arglosen Tornike K. alias Zelimkhan Changoshwili im kleinen Berliner Tiergarten ums Leben gebracht. Die Bundesanwaltschaft sprach anfangs einer Hinrichtung im Auftrag staatlicher Stellen "der russischen Zentralregierung".

Die Verteidigung ging demgegenüber von Totschlag aus und bestritt damit die "Arglosigkeit" des Toten. Begründet wurde dies mit dessen Vergangenheit und auch mit einem dubiosen anstehenden Treffen mit der Frau des früheren georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili.

Sie hätte dem Opfer in dessen deutschem Asylverfahren am Tag der Tat helfen wollen. Um einen einfachen grundsoliden Asylsuchenden mit etwas Honighandel dürfte es sich bei so viel Aufmerksamkeit also kaum gehandelt haben.

Arglos dürfte das Opfer, auf das schon früher in Georgien ein Anschlag verübt worden war, tatsächlich kaum gewesen sein. Das Opfer hatte unübersehbar weiter Kontakt zu tschetschenischen Kreisen, denen man, so Frau Saakaschwili, "doch helfen müsse".

Zwischen Bluttat und Slapstick

Zwei Jahre zog sich der Prozess um die Erschießung im Berliner Tiergarten an einem warmen Augusttag des Jahres 2019 hin. Nach den starken Worten zum Auftakt war zuletzt beim Plädoyer der Karlsruher Behörde nur noch von "Regierungsstellen" statt der "Zentralregierung" die Rede.

Dies dürfte auch mit den diplomatischen Folgen der Behauptung und deren Unbeweisbarkeit im Prozess zu tun haben. Vergleichbar starke Worte, bis hin zum "Staatsterrorismus", blieben dann noch medialen Berichten, etwa der ARD-Tagesschau vorbehalten.

Während des Prozesses fiel dieser Begriff nicht. Vermutlich sollte mit seiner Verwendung vor allem der mediale Druck auf die Bundesregierung erhöht werden, auch wegen dieses Vorgangs einmal mehr Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Staatsterrorismus ist ein Begriff, der eine der letzten Stufen vor einem Krieg bezeichnet.

Kommen dem die Vorgänge im Kleinen Tiergarten zu Berlin nahe? Wohl kaum. Prozessbeobachter erlebten im altehrwürdigen Berliner "Kriminalgericht" vor der Staatsschutzkammer die eigentümliche Mischung des Dramas einer blutigen Untat und eine aufgepäppelte Agentenstory mit gelegentlichen Slapstick-Einlagen.

Fast belustigt präsentierte eine Richterin der Kammer die geschmacklos zusammengestellten Kleidungstücke des Angeklagten Krasikov alias Sokolov, die er vor und nach der Begehung der Tat getragen haben soll.

Dem stets sachlich und souverän verhandelnden Vorsitzenden Olaf Arnoldi rang dieser Auftritt die Bemerkung ab, "was man als Richter doch so alles können müsse".

Gerade solche Szenen trüben das Bild des Angeklagten vom Profikiller, auch wenn die Tat als solche wohl hinreichend und mit kriminalistischer Akribie aufgeklärt worden ist. Die Verteidigung des Angeklagten konnte nicht belegen, dass trotz eines entsprechenden Passes ein Mensch des Namens Sokolov, geboren in Irkutsk, in Russland real existiert.

Viel Mühe, das Gegenteil zu untermauern, machte sich dagegen die investigative Organisation Bellingcat, deren geheimnisvoll als "Zeuge G. auftretender Vertreter Christo Grozew allein drei Tage in Berlin befragt wurde.

G. ist stets bestens informiert zur Stelle, wenn es gegen Russland und sonstige Bösewichte geht. So schon im Fall Skripal in Großbritannien, beim syrischen Giftgas oder dem Fall Nawalny.

Er schilderte beredt, wie er mit weiteren Akteuren wie The Insider und auch mit Bestechung von Beamten die Person Krasikov durchleuchtet haben will.

Lückenlos kennt er sich in Funkzellen aus, in denen sich der jetzt Verurteilte bevorzugt vor Gebäuden des Geheimdienstes FSB tummelte. Einblick hätte er in staatliche Steuer- und Rentenakten, bei Passregistern, Führerscheinstellen und Flugdaten quer durch Europa.

Einleuchtender erscheinen hingegen banale Ermittlungen des Berliner Landeskriminalamts, die aus DNA-Spuren, Fingerabdrücken und simplen Tattoo-Vergleichen anhand beschlagnahmter Familienfotos dem Beschuldigten Krasikov nachwiesen, ebendieser und wohl nicht irgendein Sokolov zu sein.

Fahrrad statt Drohnen

Nach Feststellung des Gerichts hat also Vadim Krasikov die Tat verübt. Immer mehr wurde der Täter im Laufe des Prozesses aber in den Rang eines Topagenten gehoben, gar eines Obersten des Inlandsgeheimdienstes FSB, der eben politische Gegner im schmutzigen Auftrag seiner Chefs eliminiert.

Schon in Russland wurde er der Tötung eines Geschäftsmanns beschuldigt. Das Verfahren war dort vor Jahren bereits eingestellt worden.

Der Tathergang im Kleinen Tiergarten, unweit eines belebten Restaurants, war schneller geklärt. Krasikov bezog vor der Tat, wie es sich für einen Agenten der Extraklasse gehört, derart dunkel und warm bekleidet am Parkeingang Stellung, dass zahlreiche Passanten bemerkten, wie wenig dies doch zu den sommerlichen Temperaturen an diesem Tag passte. Auffälliger geht es für einen Agenten kaum.

Dann fuhr der Täter per Fahrrad von hinten an sein Opfer heran und gab zwei Schüsse ab. "Amis hätten es wohl mit Drohnen und nicht per Fahrrad gemacht", so der sarkastische Kommentar einer Beobachterin. Der Agent mit der "Lizenz zum Töten", so die Süddeutsche Zeitung, fiel dabei, wie es sich für trainierte Killer gehört, vom Rad und verletzte sich an der Wade. Dies erleichterte später die Auswertung der DNA-Spuren.

Anschließend verpasste er dem Opfer noch einen abschließenden "Fangschuss", der wohl nicht mehr nötig gewesen wäre: Das Opfer war schon tot.

Der Beschuldigte stieg danach wieder auf sein Rad, fuhr zügig an die Spree zur Lessingbrücke, wo er sich zur Verwunderung anwesender jugendlicher Zeugen jetzt endlich wettergerecht im Gebüsch umzog und sein Fahrrad nebst Tatwaffe sowie anderen Utensilien öffentlich in der Spree versenkte.

Allein ein solcher Vorgang bewegte wachsame Berliner, die Polizei zu rufen, welche den Täter festnahm, noch bevor der die Flucht mit einem zur Verfügung stehenden Elektroroller fortsetzen konnte.

Krasikov gab bei ersten Vernehmungen an, er hätte im gut einsehbaren Gebüsch lediglich urinieren wollen. Ein Polizist watete später ins Wasser und barg die "versenkten" Gegenstände im Uferbereich. Lediglich für die Tatwaffe musste ein Taucher bemüht werden.

Das Opfer

Auffällig war das Bemühen von Bundesanwaltschaft, Nebenkläger und einiger Medien, den Erschossenen gegenüber dem Täter als wahres Unschuldslamm darzustellen. Die Journalistin Silvia Stöber, für die ARD häufige Prozessbeobachterin, bemühte sich sogar eigens ins georgische Pankissi-Tal, um eine Schwester zu finden, die erstaunlicherweise nur Gutes über ihren toten Bruder zu berichten wusste.

Unbestritten ist jedoch, dass dieser sich als Kämpfer und Anführer auf tschetschenischer Seite im zweiten Krieg gegen Russland befand. Das Pankissi-Tal ist ein Rückzugsgebiet für solche Gruppen.

Nur aus strategischen Gründen hätte er sich dabei auch mit islamistischen Kräften verbünden müssen, wusste die Nebenklage zu berichten. Mit Islamismus hätte er nichts zu tun.

Russland sieht das naturgemäß anders. Dort galt Changoschwili als "Top-Terrorist", der mit für Anschläge und den Tod "hunderter Menschen" verantwortlich sei. Selbst die USA setzten tschetschenische Rebellengruppen und deren obersten Anführer Bassajew auf die Liste "terroristischer Gruppen".

Die deutsche Bundesregierung übte sich hingegen in Zurückhaltung und weiß von nichts. Einem Auslieferungsverfahren von russischer Seite hätte sie wohl nicht entsprochen.

Tschetschenischer Terrorismus

Schamil Bassajew und der Tote im Tiergarten kannten sich bestens. Bassajew wird persönlich mit vielen Geiselnahmen, Anschlägen, auch auf die Moskauer Metro, Zivilmaschinen, Soldaten und Zivilisten in Verbindung gebracht. Er zeichnet für die Ermordung des tschetschenischen Präsidenten Achmat Kadyrow verantwortlich.

Weit über die Grenzen Russlands hinaus wurde der Anschlag auf eine Schule in Beslan mit 1.200 Geiseln und über 300 Toten, die meisten Kinder, bekannt.

Russland und selbst jede Menge Tschetschenen haben also mehr als einen Grund, das terroristische Umfeld des vor seinem Tod meistgesuchten Mannes im Land nicht zu mögen. Dessen Ziel war ein islamistisches Emirat.

Rechtfertigt dies einen Anschlag auf ausländischem Staatsgebiet "am helllichten Tag", durch wen auch immer? Ein unfreiwillig komischer Zeuge im Berliner Prozess urteilte: "Det jehört sich nicht!". Das bringt es aber vielleicht doch besser auf den Punkt als die Empörung über Staatsterrorismus, die mit der heutigen Urteilsverkündung wieder aufflammen dürfte, Nord-Stream-2-Debatte inklusive.