Schweden: Eine Million offiziell registrierte Corona-Fälle
Hinweisschild am Test- und Impfzentrum in Piteå. Foto: Andrea Seliger
Die Inzidenz gehört zu den höchsten in Europa; die Zahlen der täglichen Corona-Toten liegen auch im Verhältnis unter denen von Deutschland. Rückblick auf eine vieldiskutierte Strategie
Eine Million offiziell registrierte Corona-Fälle gibt es nun in Schweden. Rein rechnerisch hat sich damit bald jeder Zehnte infiziert in dem 10,3-Millionen-Einwohner-Land, und die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Die Inzidenz ist aktuell eine der höchsten Europas. Doch die Zahl der täglichen Corona-Toten liegt schon länger unter denen von Deutschland, auch im Verhältnis zur Bevölkerungszahl.
Als Schweden Anfang Januar sein Pandemie-Gesetz verabschiedete, rechneten viele damit, dass es nun auch in Schweden einen "Lockdown" geben würde. Doch es passierte - nicht viel. Als das Gesetz beschlossen war, sanken die Zahlen schon wieder.
Auflagen
Die Geschäfte erhielten genaue Auflagen, wie viele Personen sich darin maximal aufhalten dürfen (zehn Quadratmeter pro Kunde). Vorher gab es nur Empfehlungen, jetzt können Verstöße bestraft werden. Der normale Kunde bemerkt die Unterschiede kaum. Es ist immer noch möglich, ohne Maske einzukaufen, Bus zu fahren und ins Restaurant zu gehen, und zwar ohne Test und ohne dort seine Kontaktdaten zu hinterlassen. Und selbstverständlich gibt es keine Ausgangssperre.
Sicherheitshalber sei hier auf das Kleingedruckte hingewiesen: Jegliche Art von Gastronomie schließt um 20.30 Uhr. Gesellschaft im Restaurant maximal vier. Wer eine Gaststätte in einem Einkaufszentrum aufsucht, kann dies tun, muss aber allein essen, denn man soll auch nur allein einkaufen gehen. Sicherheitshalber sei auch darauf hingewiesen, dass das öffentliche Leben in Schweden ähnlich brach liegt wie in Deutschland: Veranstaltungen gibt es praktisch keine, denn die Obergrenze dafür liegt bei acht Personen.
Viele öffentliche Einrichtungen haben seit Monaten geschlossen oder sind nur eingeschränkt nutzbar. Das Pandemie-Gesetz wurde in einigen Orten auch genutzt, um am 30. April (Valborg) und 1. Mai Parks und Plätze abzusperren, damit sich dort keine Menschen versammeln, wie es sonst üblich ist.
Und inzwischen gibt es auch in Schweden eine Bewegung, die gegen die Beschränkungen aufbegehrt. Zu einer Demonstration in Stockholm am 1. Mai kamen mehrere Hundert Menschen. Die Polizei löste die Demonstration mit Verweis auf das Pandemie-Gesetz auf. Die Polizisten trugen dabei übrigens Masken.
Zurzeit schwimmt Schweden noch ziemlich weit oben in der dritten Welle mit einer Wocheninzidenz von rund 350 pro 100 000 Einwohner, einer der höchsten in Europa. Die Fallzahlen sind zwar ein bisschen gesunken, die Entwicklung ist aber regional sehr unterschiedlich.
Eine "Anomalie"
Auffällig im Vergleich mit anderen europäischen Ländern ist allerdings, dass der Dreiklang "je höher die Inzidenz, desto voller die Krankenhäuser, desto mehr Tote" für Schweden nicht mehr automatisch zu gelten scheint.
So liegt Schweden bei einem Vergleich der Intensivpatienten im Verhältnis zur Einwohnerzahl unter Deutschland und eher im Mittelfeld. Solche Vergleiche sind natürlich schwierig, solange man nicht genau weiß, welche Behandlungen dort durchgeführt werden. Auch Vergleiche der Zahlen der Verstorbenen mögen schwierig sein.
Doch anders als vor einem Jahr liegt Schweden sowohl bei ECDC als auch bei our world in data nur noch im unteren Mittelfeld, was die aktuellen Todesfälle angeht. Staatsepidemiologe Anders Tegnell führt dies auf einen Erfolg der Impfkampagne zurück, bei der konsequent die mit dem höchsten Risiko als erste geimpft wurden.
Insgesamt sind aber bisher ähnlich viele in Schweden geimpft wie in Deutschland. Ob es noch andere Faktoren gibt, die zu dieser Anomalie beitragen, ist schwer nachzuweisen. Es gibt keine Statistik darüber, wie viele zum zweiten Mal infiziert sind und ob sie das möglicherweise geschützt hat.
Hoher Druck auf die Krankenhäuser
Es sei darauf hingewiesen, dass der Druck auf schwedische Krankenhäuser trotzdem enorm hoch ist. Mehrere Regionen haben das Krisensituation-Abkommen aktiviert, das das Personal zu mehr Arbeitsstunden verpflichtet, ihnen aber auch einen deutlich höheren Lohn zahlt. Patienten werden von hart belasteten Krankenhäusern in solche verlegt, die noch Kapazität haben. Um die Situation zu bewältigen, wird verschoben, was verschiebbar ist.
Immer mehr zeigt sich auch, wie viele Menschen unter Langzeitschäden leiden und nicht nur schwere Fälle diese bekommen.
Unterricht wird größtenteils in den Schulen durchgeführt, aber in der dritten Welle scheint es dort mehr Probleme mit Ansteckungen zu geben als früher. Die Behörde für Arbeitsschutz (Arbetsmiljöverket) bekam rund 10.000 Meldungen dazu und hat bei den ersten Untersuchungen nicht ausreichende Schutzmaßnahmen festgestellt. Insgesamt sind nun mehr als 14.000 Menschen in Schweden an oder mit Corona gestorben.
Im Vergleich mit Belgien ist das noch gut, aber ein Vielfaches im Vergleich zu den Nachbarländern Norwegen und Finnland.
Exkurs: Masken
Masken sind zum Symbol der Pandemie geworden. Dass es in Schweden keine Maskenpflicht gibt, gehört zu den auffälligsten Merkmalen des schwedischen Weges. Auf dem Höhepunkt der zweiten Welle im Dezember 2020 dachte man, es sei nun soweit: Johan Carlson, Direktor der zuständigen Behörde für öffentliche Gesundheit (Folkhälsomyndigheten), kündigte eine Empfehlung zur Maske in Stoßzeiten in den öffentlichen Verkehrsmitteln an.
Seitdem gibt es zwar einen Hinweis darauf auf der Internetseite der Behörde und ein paar Schilder, aber das war es auch schon. Bei der regelmäßig stattfindenden Corona-Pressekonferenz der Behörden beten Anders Tegnell und seine Kollegen jedes Mal die Liste der Handlungsanweisungen herunter, an die sich alle halten mögen, damit es nicht zu einer weiteren Virusverbreitung kommt. Die Maske kommt dabei nicht vor.
Die Infektionsschutzärzte der einzelnen Regionen sehen das teilweise durchaus anders. Sie haben die Möglichkeiten, weitergehende Empfehlungen abzugeben, wenn die Situation dies erfordert. Mehrere Regionen, darunter Stockholm und Västra Götaland, empfehlen nun die Maske im öffentlichen Nahverkehr und überall dort, wo man keinen Abstand halten kann.
Man sieht tatsächlich mehr Leute mit Masken im Bus oder im Laden als vor Weihnachten - die Mehrheit folgt dieser Aufforderung allerdings nicht. Und Gesundheitsministerin Lena Hallengren, die vor zwei Monaten eine Brustkrebsoperation hatte, ließ sich ohne Maske impfen.
Die Grundrechte?
Das schwedische Pandemie-Gesetz, das noch bis Ende September gilt, würde zwar noch weitreichendere Maßnahmen erlauben als die, die bisher gelten. Eine Ausgangssperre gehört allerdings nicht dazu. In den Nachbarländern Norwegen und Finnland war darüber diskutiert worden.
Norwegens Regierung verfolgte dies nicht weiter, nachdem sie extrem negative Reaktionen darauf erhielt, unter anderem von der eigenen Gesundheitsbehörde. In Finnland scheiterte der Gesetzesentwurf am Grundrechteausschuss, daraufhin verzichtete auch die finnische Regierung. In diesem Punkt sind sich die nordischen Länder einig.
Mit der Begrenzung einer öffentlichen Versammlung auf acht Personen ist allerdings das Demonstrationsrecht in Schweden zurzeit deutlich eingeschränkt. Das traf am 1. Mai nicht nur die Demonstration zur Aufhebung der Corona-Maßnahmen, sondern auch Bensinupproret, eine Bewegung gegen die aktuelle Verkehrspolitik. Hier erhielt der Veranstalter eine Strafe, obwohl die Teilnehmer der Demonstration alle vereinzelt in ihren Autos saßen und damit nicht zu einer Virusverbreitung beitrugen.
Eine Lockerung der geltenden Einschränkungen wurde zuletzt angesichts der hohen Virusverbreitung verschoben, die nächste Überprüfung der Situation ist Mitte Mai. Die Regierung will außerdem die Geltungsfrist des Pandemie-Gesetzes um drei Monate verlängern. In Arbeit ist nun ein Konzept, wie zukünftig die Virusverbreitung überwacht wird und mit welchen Regeln sichergestellt wird, dass es nicht erneut zu einem großen Ausbruch kommt.
Ministerin Hallengren sagte dazu, es gehe nicht um die Einschränkung von Rechten und Freiheiten, sondern um Bereitschaft. "Wir müssen zumindest darauf vorbereitet sein, erneut Maßnahmen zu ergreifen", betonte auch Behördenchef Carlson. Es sei daran erinnert, dass in Schweden seit Ende März 2020 eine Obergrenze von 50 Personen für Versammlungen galt, die auch im Sommer nie gelockert wurde. Seit November liegt sie bei acht Personen.
Ausblick
Schweden hat mit seinem Kurs die Fallzahlen nie so weit senken können wie seine Nachbarländer Norwegen und Finnland. Sie sind allerdings auch nie so eskaliert wie beispielsweise in Belgien und Tschechien. Lockdowns haben ebenso Nebenwirkungen wie eine hohe Virusverbreitung.
Inwieweit sich Schwedens Kurs für das Land und seine Bürger auszahlt, muss die Zukunft zeigen. Aufschluss dazu werden möglicherweise die Ermittlungen der von der Regierung selbst eingesetzten Coronakommission geben. Diese soll das Handeln von Regierung und Behörden untersuchen. Im ersten Teilbericht hat die Kommission festgestellt, dass es nicht gelungen ist, die Älteren zu schützen, und war dabei wenig gnädig mit dem Auftraggeber. Der zweite Teilbericht wird im Herbst 2021 fällig, der Abschluss 2022.
Pandemie-Forscher kommender Generationen können sich jedenfalls darüber freuen, dass ein Land einen etwas anderen Kurs gefahren hat. Ob die Bürger auch damit zufrieden sind, werden sie erst bei der Wahl im Herbst 2022 äußern können.
Noch stärker als das vergangene Jahr wird dafür vermutlich ausschlaggebend sein, was nun kommt: Wann werden die Einschränkungen gelockert und gelingt es, neue Ausbrüche kleinzuhalten? Bisher war der Umgang mit der Pandemie keine große politische Streitfrage - aber das könnte jetzt kommen.