Schweden nach dem Corona-Peak
Seite 2: Coronakommission soll die schwedischen Methoden und Maßnahmen prüfen
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Dass nicht alles gut gelaufen ist, ist auch der schwedischen Regierung klar. Ende Juni wurde eine unabhängige Coronakommission eingesetzt, die den Umgang mit der Pandemie untersuchen soll - sowohl die Arbeit der Regierung als auch die der beteiligten Fachbehörden. Zum Vorsitzenden dieser Kommission wurde der Jurist Mats Melin ernannt. Melin war unter anderem Richter am Obersten Verwaltungsgericht und am Europäischen Gerichtshof, er war Justiz-Ombudsmann und hat bereits bei mehreren staatlichen Untersuchungen mitgewirkt.
Auf Drängen der Opposition soll der Abschlussbericht bis zum 28. Februar 2022 fertig sein - rechtzeitig vor der nächsten Wahl. Ein erster Teilbericht zur Verbreitung der Infektion im Pflegebereich soll aber bereits am 30. November dieses Jahres vorliegen. Das offizielle Ziel dieser Untersuchung lautet, daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen und Schweden für die nächste Pandemie besser zu rüsten. Der Fragenkatalog, den die Kommission als Aufgabenstellung auf den Weg bekommen hat, ist komplex. Unter anderem geht es um die Verteilung der Verantwortung. Im Ausland mag es für Verwunderung gesorgt haben, dass das prägende Gesicht für den Umgang mit der Pandemie der Behördenangestellte Tegnell ist und kein Politiker. Doch die Fachbehörden haben eine sehr starke und unabhängige Stellung in Schweden.
Und trotz aller Kritik haben nach der jüngsten Kantar Sifo-Umfrage immer noch 67 Prozent der Bürger Vertrauen in Folkhälsomyndigheten. Höhere Werte bekam nur die Krankenpflege. Der Regierung vertrauen nur 45, der Opposition sogar nur 27 Prozent. Sehr niedrig ist das Vertrauen in die Altenpflege. Ob als Folge der Untersuchung auch Leute persönlich für Fehlentscheidungen zur Verantwortung gezogen werden sollen, ist aktuell unklar. Tegnell selbst sagte kürzlich im Interview mit UnHerd, in dem er noch einmal die schwedische Strategie verteidigte: "Beurteilt mich in einem Jahr".
Risse im Norden durch die nationalen Coronastrategien
Mehr denn je wurde in der Krise die Solidarität beschworen - auch in den Ländern, die sich als "Norden" verstehen. In der Praxis ging allerdings jedes Land seinen eigenen Weg, und der schwedische sticht dabei besonders heraus. In Schwedens Nachbarländern, besonders in Finnland und Norwegen, ist das Virus inzwischen nur noch sehr gering verbreitet. Das Resultat: Für Schweden bleiben die Grenzen zu, nur in begründeten Ausnahmefällen werden sie in die Länder gelassen. Norwegern drohen bei der Rückkehr zehn Tage Quarantäne, wenn sie sich in Schweden aufgehalten haben, Finnen wird diese nahegelegt. Nachdem man zuvor Jahrzehnte lang versucht hatte, Grenzhindernisse im Norden abzubauen und dafür sogar ein eigenes Gremium eingerichtet hatte, wurden die Grenzregionen nun auf die harte Tour daran erinnert, dass der Strich auf der Landkarte mehr bedeutet als bloß ein Wechsel der Währung.
So sind beispielsweise die Beziehungen zwischen der finnischen und der schwedischen Seite des Torneflusses normalerweise sehr eng. Haparanda und Tornio vermarkten sich seit langem als Zwillingsstadt, in der man über die Landesgrenze Golf spielen kann. Nun zieht sich ein Zaun quer über den Platz, der eigentlich das gemeinsame Zentrum sein sollte. Dank Ausnahmegenehmigungen funktionieren die notwendigsten Dinge trotzdem. Doch die Selbstverständlichkeit, mit der man früher über die Grenze wechselte, ist dahin. Finnen können zwar inzwischen problemlos passieren, auch wenn der Staat es nicht gerne sieht. Für schwedische Staatsbürger ohne guten Grund ist dies nicht möglich. Die finnische Botschaft verzeichnet einen Rekord an Anträgen für die finnische Staatsbürgerschaft von Schweden mit finnischen Wurzeln, die sich so den Zugang ins Land sichern wollen - nicht nur am Tornefluss. In einer Umfrage des Grenzhindernisrates (Border Barriers Council) gab es nicht wenige Bürger, die fürchteten, dass diese Phase Spuren hinterlassen wird, die nicht so einfach wieder abzubauen sind wie mobile Zäune.
Am südlichen Ende des Landes spähen alle auf die neuesten Pressemitteilungen der dänischen Regierung, denn Dänemark akzeptiert zumindest Besucher aus wenig betroffenen schwedischen Regionen. Für Skåne oder Halland ist Kopenhagen näher als die eigene Hauptstadt. Die Freude war entsprechend groß, als Dänemark wieder für die Südschweden öffnete. Auch Norwegen öffnet für einzelne schwedische Regionen nach Infektionslage. Bisher hatte dies wenig praktische Auswirkungen, da die Regionen, die davon am meisten profitieren würden, nicht dabei waren. Seit Freitag ist mit Värmland zum ersten Mal eine Region direkt an der norwegischen Grenze "grün".
Wo der Norden einig ist: Maskenskepsis und offene Schulen
In einigen Punkten sind sich die Nord-Länder allerdings ziemlich einig. Bisher gibt es nirgends eine Maskenpflicht außer in sehr begrenzten Situationen. "Abstand halten" und "bei Krankheit zuhause bleiben" gilt nach wie vor als die Hauptstrategie. In der Schulfrage sind die Positionen inzwischen ebenfalls sehr ähnlich. Zu den international am meisten beachteten Zügen der schwedischen Strategie gehörte, dass Kitas und Schulen nicht geschlossen wurden (bis auf die "Gymnasieskolor", vergleichbar mit gymnasialen Oberstufen). Doch auch Island hielt Kitas und die drei untersten Klassen offen. In Finnland waren Kitas und die drei untersten Klassen als Angebot offen für jene, die es benötigten. Dänemark und Norwegen ließen die ersten Klassen schon im April wieder mit dem Präsenzunterricht beginnen.
Mika Salminen, Virologe und Abteilungsleiter am Finnischen Institut für Gesundheit und Wohlfahrt (Terveyden ja hyvinvoinnin laitos, THL), sagte in einem Interview, es gebe inzwischen viele Beweise dafür, dass Schulschließungen bei Covid-19 nicht viel bewirkten. Schulschließungen hätten dagegen sehr negative Folgen für die Kinder. Er gehe jedenfalls davon aus, dass sein Institut dies bei einer zweiten Welle nicht mehr befürworten würde. Auch in Norwegen würden die Schulen mit dem heutigen Wissen vermutlich nicht mehr geschlossen werden. Das norwegische Institut für Gesundheit (Folkhelseinstitutt) hatte die Schulschließung im März von Anfang an nicht empfohlen und zieht auch das Fazit, dass es vermutlich nicht viel gebracht hat. Und bereits Anfang Mai äußerte der norwegische Gesundheitsminister Bent Høie, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass man Schulen und Kitas noch einmal schließen würde, wenn die Infektionszahlen wieder hochgingen.
Eine Zusammenstellung mit Daten aus Schweden (Schulen größtenteils offen) und Finnland (Schulen größtenteils geschlossen) kommt zu dem Schluss, dass die Schulfrage auf die Infektionen bei Kindern praktisch keinen Einfluss hatte. Die Zusammenstellung ist insofern nur begrenzt aussagekräftig, da in Schweden über viele Wochen aus Kapazitätsgründen nur die schweren Fälle getestet wurden und dazu gehörten Kinder selten. "Aufgrund der begrenzten Testkapazitäten in vielen Regionen wurde leider die Gelegenheit verpasst, in den Schulen Infektionsketten nachzuverfolgen, wodurch man wertvolle Erkenntnisse über die Rolle von Kindern bei der Infektionsverbreitung hätte gewinnen können", heißt es über die schwedische Situation in der Publikation.
Finnland hatte dagegen die Infektionsketten intensiv nachverfolgt. Es sei sehr selten vorgekommen, dass Kinder jemanden angesteckt hätten, und nach der Öffnung der Schulen im Mai sei es dort nicht zu Ansteckungen gekommen, obwohl 16 Schulkinder positiv getestet wurden. In Schweden wurde außerdem verglichen, welche Berufsgruppen am häufigsten erkrankt waren. Das höchste Risiko hatten demnach Taxifahrer, Pizzabäcker und Busfahrer - Lehrer erkrankten nicht häufiger als der Durchschnitt.
Der Stand in Schweden am Freitag, 24. Juli: Die Gesamtbilanz listet 78.997 bestätigte Covid-19 Fälle auf. 5.697 Menschen sind daran gestorben. Das Europäische Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten führt Schweden noch mit einer Inzidenz von 43,3 pro 100 000 Einwohner für die vergangenen 14 Tage.
In Karesuando an der finnischen Grenze ist das Virus wieder einmal in ein Seniorenheim eingedrungen - sowohl Personal als auch Bewohner sind infiziert, ein Bewohner ist bereits gestorben. Auf der Insel Gotland befinden sich mit den Urlaubern doppelt so viele Menschen wie im Rest des Jahres. Unter denen, die sich dort in den letzten Wochen infiziert haben, sind 16 Restaurantangestellte. Sars-CoV-2 hat Schweden immer noch fest im Griff.