Selbstmord, Medikamente, Drogen und Alkohol
In den USA steigt seit 15 Jahren überraschend die Mortalität der Weißen im mittleren Alter, Ursachen könnten finanzieller Stress, schlechtere Gesundheit und Rekordkonsum von Opioiden sein
Nach zwei Wissenschaftlern der Princeton University ist seit Ende der 1990er Jahre in den USA eine Trendwende zu beobachten. Bei weißen Amerikanern im mittleren Alter steigt seitdem die Mortalitätsrate im Vergleich zu früheren Trends und anderen demografischen Gruppen. Eigentlich sollte die Lebenserwartung weiter steigen, wie das auch in anderen westlichen Ländern der Fall ist. Nach Selbstberichten steigt der Anteil der Menschen, die an Schmerzen leiden: "Die Schmerzepidemie, die Opioide behandeln sollen, ist ein Fakt", schreiben die Autoren, wobei aber unklar bleibt, ob mehr Opioide wegen der Schmerzen eingenommen werden oder ob die Schmerzsensibilität wegen der ansteigenden Einnehme von Schmerzmitteln steigt.
In den USA hat die Mortalitätsrate in den 1970er Jahren wie in anderen reichen Ländern kontinuierlich abgenommen, eben auch bei den 45-54-Jährigen. So hat die Mortalität zwischen 1970 und 2013 bei diesen um 44 Prozent abgenommen. Seit 1999 aber ist irgendetwas geschehen, das die Mortalität nur bei den Weißen im Mittleren Alter, die ab 1965 geboren wurden, wieder ansteigen ließ, während die Mortalität bei den Latinos und geringer ausgeprägt auch bei den Schwarzen in den USA ebenso wie die der Menschen in Deutschland, Schweden, Australien, Frankreich und Großbritannien weiter kontinuierlich um etwa 2 Prozent pro Jahr fiel.
Bis 2013 würden statistisch 96.000 Weiße im mittleren Alter noch leben, wenn die Lebenserwartung auf dem Level von 1998 geblieben wäre. Und wenn die Lebenserwartung wie eigentlich erwartbar weiter kontinuierlich gestiegen wäre, wären statistisch fast eine halbe Million Menschen nicht gestorben. Die Mortalitätsrate der Schwarzen im mittleren Alter ist weiter höher als bei den Weißen, aber die Kluft schließt sich,
Die in PNAS erschienene Studie stammt von zwei Ökonomen, von Angus Deaton, der gerade den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften gewonnen hat, und Anne Case. Sie haben Daten der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und aus anderen Quellen ausgewertet, um einen Zusammenhang zwischen der Sterblichkeit und der Gesundheit in der Altersgruppe herzustellen.
Offenbar gab es keinen Anstieg der verbreiteten Todesursachen wie Herzerkrankungen oder Diabetes, sondern eine Veränderung des Lebensstils, die sich in zahlreicheren Suiziden, zunehmenden psychischen Problemen und in Folgen von Drogen- und Medikamentenmissbrauch manifestiert: Lebererkrankungen, Heroin- bzw. Alkoholüberdosis, Anstieg der Einnahme der verschreibungspflichtigen Opioide. Die Generation der nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen scheint irgendwie aus dem Gleis geraten zu sein und neben psychischen Problemen auch mehr Schwierigkeiten zu haben, weiter zu arbeiten und den alltäglichen Aktivitäten nachzugehen.
Die Entwicklungen scheinen ineinanderzugreifen. So steigt die Mortalität parallel zu vermehrten Berichten über Schmerzen, schlechte Gesundheit und Stress, was eben zu mehr Selbstmorden und der Einnahme von Schmerzmitteln führen kann. Möglicherweise erhalten oder verlangen mehr Weiße Opioide als andere Bevölkerungsgruppen.
Vielleicht spielt auch insgesamt die vermehrte Einnahme von Medikamenten eine Rolle. Nach einer Studie im Journal of the American Medical Association ist die Einnahme von verschreibungspflichtigen Medikamenten auf Rekordhöhe gestiegen. Untersucht wurde praktisch derselbe Zeitraum von 1999-2000 sowie 2011-2012, in dem der Anteil der Menschen über 20 Jahre, die verschreibungspflichtige Medikamente einnehmen, von 51 auf 59 Prozent angestiegen ist. Dabei hat sich der Anteil derjenigen, die 5 und mehr von verschreibungspflichtigen Medikamenten nehmen, von 8 auf 15 Prozent fast verdoppelt.
Auffällig ist, dass ein Anstieg vor allem bei Medikamenten wie Antidepressiva, lipidsenkende Mittel, Protonpumpenhemmer und Muskelrelaxantien zu beobachten ist. 8 von 10 der am meisten verschriebenen Medikamentengruppen dienen zur Behandlung von kardiometabolischen Erkrankungen. Die Autoren vermuten, dass dies mit dem Anstieg des Übergewichts oder Fettleibigkeit zusammenhängen dürfte. Interessant ist, dass Weiße deutlich mehr verschreibungspflichtige Medikamente als Latinos einnehmen.
Der Anstieg der Morbidität und damit auch die Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes sowie der Zunahme von psychischen Störungen könnten nicht nur zu einer wachsenden Belastung des Gesundheitssystems (Medicare) führen, sondern auch darauf hinweisen, dass etwas grundsätzlich falsch mit dem Lebensstil, womöglich mit dem Amerikanischen Traum läuft, auch wenn bislang, sollten die Ergebnisse zutreffen, die Abweichung noch ziemlich gering ist, obgleich die Autoren schon von einer Epidemie sprechen. So hat sich in dem beobachteten Zeitraum auch der Anteil der Arbeitnehmer im mittleren Alter, die arbeitsunfähig sind, verdoppelt.
Das Problem dürfte auch an der weiter aufgehenden Kluft zwischen Arm und Reich, der die ärmeren Amerikaner ohne ausreichende sozialen Sicherungssysteme, also ohne Wohlfahrtsstaat und mit wachsendem finanziellem Stress, immer kränker werden lässt, sie altern früher, ihre Mortalität passt sich derjenigen an, die man in armen Entwicklungsländern findet. "Die stärksten Morbiditätsfolgen", so die Autoren, "lassen sich bei den Menschen mit der niedrigsten Ausbildung beobachten." Eine Rolle spielt dabei auch, dass die Alterssicherung immer weniger funktioniert und die Menschen deswegen in größerer Unsicherheit auch im höheren Alter leben.