"September 5": Darf und soll man Terroristen die mediale Bühne bieten?

Rüdiger Suchsland

Copyright Constantin Film

Medien im Dilemma der Live-Übertragung des Mordens: Tim Fehlbaums Film über das Attentat von Palästinensern an der israelischen Mannschaft, Olympische Spiele, 1972.

Die Deutschen machen einen Fehler nach dem anderen und versuchen doch den Eindruck zu erwecken, dass sie alles unter Kontrolle hätten.

Leonie Benesch, (fiktive) deutsche Figur, zu den US-Kollegen in "September Five"

Das Thema scheint nach einem umfassenden Ansatz zu verlangen, aber es ist gerade der Clou des Regisseurs Tim Fehlbaum, dass er das Ganze aus dem Nukleus eines Kontrollraums der Medien heraus erzählt, eines Kontrollraums, in dem keineswegs alles kontrolliert wird. Das heißt, vom Einzelnen kommt er aufs Allgemeine, nicht umgekehrt.

"September 5" ist nicht der erste Film, der sich mit dem Massaker von München 1972 befasst: Der Dokumentarfilm "One Day in September" gewann 1999 einen Oscar, und Steven Spielberg beschäftigte sich sechs Jahre später in "München" mit den israelischen Straf- und Vergeltungsmaßnahmen gegen die Täter.

Das Olympiaattentat war auch nicht die "Stunde Null" des Terrorismus, schon vorher hatte es furchtbare Anschläge gegeben. Insofern gibt es keinen Grund, von einer "Vertreibung aus dem Paradies" zu sprechen.

Aber er war eine medienhistorische Zäsur, auch in der "globalen Gemeinschaftserfahrung des live übertragenen, sich langsam entspinnenden Unheils.

Das Bild des Terroristen, der mit Strumpfmaske auf dem Balkon des israelischen Quartiers steht, wurde in seiner Zeit ein ikonisches Schreckensbild wie der Einsturz der Türme des World Trade Center" (Roman Deininger).

Wir erleben ein Team an der Arbeit. Durch die unerwartete Herausforderung sind die Sportjournalisten zunächst überfordert. Aber sie wachsen an ihr. Sie diskutieren – sehr modern – über die "angemessenen Worte" ("Terroristen"? Oder "Guerilla"?) und über "das Zeigbare" (Liveübertragung von Morden?).

Darf und soll man Terroristen die mediale Bühne bieten, die sie ja genau suchen, wie zuletzt die Massaker der Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 belegten.

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Insofern repräsentieren diese Journalisten uns alle: Die begrenzten Informationen, die wir haben, die Notwendigkeit, jetzt und hier Entscheidungen zu treffen und schließlich im Wissen, dass für andere gerade viel mehr auf dem Spiel steht.

Mittlerweile weiß man, dass die israelischen Sportler ein paar Häuserblocks weiter gefesselt und mit vorgehaltener Waffe gefoltert wurden, dass sie diesen Tag nicht überleben würden. Es ist schwer, sich "September 5" anzusehen, ohne diese Ambivalenz zu empfinden – aber es ist eine der Stärken des Films, diese Ambivalenz als notwendige zu zeigen.

Arabische Schuld als Tabu

Die Behandlung dieses Films in Deutschland zeigt den engen Horizont und die Grenzen der deutschen Filmkritik besonders deutlich auf – genauso wie die Schere im Kopf, die vermutlich oft unbewussten Tabus der deutschen Medien. So etwa traut sich kaum ein Autor, die Schuldigen klar zu benennen.

Im Evangelischen Pressedienst, epd.film, ist zwar von der "israelischen Mannschaft" die Rede, aber keineswegs von israelischen "Opfern" und auch nie von arabischen oder palästinensischen Tätern.

Das fällt umso mehr auf, als im gleichen Text sonst immer die identifizierenden Adjektive vorkommen: "israelische Sportler ... amerikanische Journalisten ... bayerische Polizei". Im (katholischen) Filmdienst wird erwähnt, dass Mark Spitz ein jüdischer Schwimmer sei – aber nicht, dass er ein US-Amerikaner ist.

Mehr als leichtfertig, sondern verfälschend wird es, wenn der Autor dann davon schreibt, "dass die Deutschen die Olympischen Spiele auch dazu nutzen wollten, um ihr vom Zweiten Weltkrieg ramponiertes Image aufzubessern" und "letztlich ein weiteres Mal darin versagten, jüdische Leben zu schützen".

Wann haben die Deutschen denn vorher versucht, jüdisches Leben zu schützen? Im Zweiten Weltkrieg? Und hat der tatsächlich nur "das Image der Deutschen" ein wenig "ramponiert"? Oder war da vielleicht doch ein wenig mehr?

In nur ganz wenigen Texten – nicht bei epd, nicht in der FAZ, nicht in der taz, schon gar nicht im Tagesspiegel – wo nur von "bewaffneten Terroristen" die Rede ist, die offenbar wie die Nazis 40 Jahre vorher einfach vom Mond fielen – findet sich auch nur ein kleiner Hinweis auf die Personen der Täter.

Die taz sorgt sich sogar um die "fehlende palästinensische Perspektive". Wo es doch im Film klarerweise darum geht zu zeigen, wie und warum im Sendezentrum damals agiert wurde. Andere Sichtweisen sind dafür unerheblich.

Arabische Schuld ist offenbar bis heute das große Tabu in den deutschen Medien? Das fällt umso mehr auf, als dass dagegen in der Schweizer NZZ schon im ersten Absatz der aktuelle Bezug zu den Hamas-Mördern, der den Filmemachern ganz offensichtlich wichtig und der für den Film zentral ist, benannt wird.

Im Land der Persil-Blumen

"Are those gunshots? Waren das Schüsse?" – eigentlich ist dies schon keine Frage mehr, sondern bereits im ersten Moment ein ungläubiges Staunen; eigentlich weiß da der Fragesteller, ein Franzose im Dienst des US-Nachrichtensenders ABC, schon, wie die Antwort lautet.

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Aber es kann doch nicht sein – Schüsse im Olympischen Dorf, ausgerechnet in München, ausgerechnet während der "heiteren Spiele", die bislang ein so perfektes Bild eines neuen Deutschland, eines fröhlichen, persilblumenfarbenen demokratischen Landes gemalt haben.

Sportberichterstatter als Terror-Reporter

Es geht um die Olympiade 1972, die diese Stadt, vor allem ihre besten Seiten, bis heute geprägt hat.

Es waren die Sportjournalisten von ABC, die sehr früh, früher als andere erfahren haben, dass da etwas Ungewöhnliches im Olympischen Dorf vorging. Sie hörten Schüsse und sie versuchten, diesen Schüssen auf den Grund zu gehen.

Der deutsche Film "September 5" – ausgesprochen "September Five" – ist die Geschichte dieses Sportberichterstatter-Teams, das plötzlich in eine ganz andere Lage und mitten in eine internationale Krise ersten Ranges versetzt wurde und mit der größten, bis dahin geschehenen Live-Übertragung Mediengeschichte schrieb.

Man möchte es kaum glauben, aber es ist tatsächlich ein deutscher Film, ein ausgezeichneter Film. Er kommt aus Deutschland und sieht doch gar nicht so aus, als täte er das. Das ist unbedingt als Kompliment gemeint.

Vielleicht liegt es doch daran, dass Regisseur Tim Fehlbaum einen Schweizer Pass hat; er hat zwar in München an der HFF studiert, aber einen anderen, filmisch viel weiteren, kosmopolitischen Horizont und hat dies in seinen zwei vorherigen Filmen, den dystopischen "Hell" und dem ebenfalls postapokalyptischen "Tides" bewiesen.

Jetzt hat Fehlbaum de facto einen amerikanischen Film gedreht. Fehlbaum macht es genauso, wie man es machen muss.

Die Fähigkeit und Bereitschaft zum Schuldig-werden

Fehlbaum erzählt eine Geschichte, der er auf den ersten Blick schon im Ansatz auszuweichen scheint: Kann man und darf man die Geschichte dieser dramatischen Geiselnahme, die – nach unglaublichem mehrfachem Versagen der polizeilichen Einsatzkräfte und ihrer politischen Befehlsgeber – in einem Massaker und der Ermordung aller israelischen Geiseln endete, aus der Binnensicht einer einzigen Nachrichtenredaktion erzählen? Also sowohl perspektivisch verengt, wie auch doppelt verschränkt als Beobachtung der Beobachter?

Der Film zeigt uns, was die Welt sah. Denn sie sah nur die ABC-Bilder. Das ABC-Studio lag relativ nah neben dem olympischen Dorf und relativ nahe zur Connollystraße 31.

Der Regisseur greift dabei die moralischen Fragen auf, die sich Medien immer stellen. Darf man berichten? Wann? Und wann nicht (mehr)?

Journalisten brauchen die Fähigkeit zum Abwägen der Gründe, um im Zweifel zu berichten. Dies ist auch die Fähigkeit und Bereitschaft zum Schuldig-werden des Menschen, die ein Teil des menschlichen Lebens ist.

Es gibt hier viele kleine sprechende Details und immer wieder das Einbrechen des Alltags in den Ausnahmezustand: Ist es in Ordnung, Wörter wie "Terrorismus" und "Guerilla" zu verwenden? Was tun, wenn die Live-Kameras Bilder von erschossenen Menschen einfangen?

Und geben die ABC-Leute ihr Filmmaterial an die Konkurrenz von CBS weiter, um zu verhindern, dass der Sender seinen Platz auf dem einzigen (!) Satelliten beansprucht? Sie tun es, aber nur, weil ein Techniker den Trick findet, wie er ABC fest in das Sendebild einblenden kann.

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Fehlbaum zeigt uns, wie diese Bilder und wie Fernsehen ganz haptisch gemacht wurde. Die Technik ist noch analog: Filme mussten zum Beispiel immer erst noch entwickelt werden. Telefone werden auseinandergenommen und zusammengebaut, damit die Berichte des Reporters Peter Jennings, die über ein Walkie-Talkie aus dem Athletendorf kommen, gesendet werden können.

München 72 war der erste live übertragene Terroranschlag. Bis zu 900 Millionen Menschen haben ihn gesehen.

Deutsche Arroganz, Dummheit und Unsicherheit

Wir werden hier auch Zeugen der deutschen Mitschuld, in dem Sinn, dass die Deutschen ziemlich unbelehrbar waren, es nicht wahrhaben wollten, was es für Gefahren gab und dass sie von dieser Situation komplett überfordert waren.

Eigentlich wollten die Israelis ihre eigenen Leute besonders schützen, aber die arroganten Deutschen haben es – aus Dummheit oder Unsicherheit? – nicht erlaubt, dass israelische Sicherheitskräfte im olympischen Dorf sind. Aber auch als das Schlimmste schon passiert war, gab es noch einmal ein sehr falsches deutsches Verhalten.

Die Polizei hat nämlich ziemlich früh begriffen, dass sie all dem nicht gewachsen war. Aber sie hat keine Konsequenzen daraus gezogen. Die Deutschen haben das Angebot der israelischen Regierung abgelehnt, dass israelische Spezialeinheiten zum Einsatz kommen könnten. Die Einheiten waren bereits am Vormittag vor Ort.

"Kein Wunder, dass sie den Krieg verloren haben"

"Kein Wunder, dass sie den Krieg verloren haben." Diesen sarkastischen Satz sagt einer der ABC-Reporter, als er dem dilettantischen Versuch einiger deutscher Polizisten zusieht, wie sie in bunte Trainingsanzüge gekleidet und mit unpassenden langläufigen Waffen ausgerüstet, das von den Geiselnehmern besetzte Appartement in der Connollystraße 31 stürmen wollen – und diesen Versuch dann schnell abbrechen.

Die von Leonie Benesch gespielte deutsche Übersetzerin des ABC-Teams erklärt den Amerikanern irgendwann in ihrer eigenen Verzweiflung über ihre Landsleute diese folgendermaßen: "Die Deutschen machen einen Fehler nach dem anderen, und versuchen doch den Eindruck zu erwecken, dass sie alles unter Kontrolle hätten."

Das gilt bis heute ungebrochen. Es gilt für die Ampel-Koalitionäre der letzten drei Jahre, wie für alle anderen Parteien, für Wirtschaft, Kultur, Medien.

Schließlich der peinliche Auftritt von Regierungssprecher Conrad Ahlers im Fernsehen. Peinlich, nicht weil er einer Falschmeldung aufsaß, sondern in der Art, wie er sie verkündete: Auch wenn Ahlers ein linker Sozialdemokrat und Willy-Brandt-Parteigänger war, so redet er doch hier wie ein Nazi: im Gesichtsausdruck, in Haltung, in Sprache – und in seiner selbstgefälligen Eitelkeit.

Der deutsche Sündenfall

Dieser Film ist hochaktuell: Er erzählt nicht nur vom Umgang der Deutschen mit dem von ihnen begangenen Völkermord, von Verleugnung der Schuld, ihrem Abstreiten und Relativieren und dann natürlich auch von den Konsequenzen, die daraus gezogen wurden.

Dieser Film hier erzählt davon, dass die Deutschen 1972 versuchten, ein Gegenmodell zu der Olympiade von 1936 zu setzen und zu zeigen, dass sie etwas gelernt haben, dass sie die Schuld hinter sich gelassen haben, dass sie nunmehr andere Deutsche sind – das hat zehn Tage lang gut geklappt.

Am elften Tag der Spiele, dem 5. September, ist diese Illusion auf eine brutale Weise zusammengebrochen. Dieser Film erschüttert im guten Sinn und wirft emotional in diesen Moment des 5. September 1972 zurück.

Fehlbaum zeigt geschickt Bilder vom Besuch der Israelis in Dachau, kurz vor dem Anschlag, 27 Jahre nach dem Krieg.

Dies ist aber auch ein sehr aktueller Film, weil die freie Welt seit dem 7. Oktober 2023 wieder konfrontiert ist mit einem Terrorangriff arabischer Terroristen auf Israelis und dies in weit größerem Ausmaß. 1972 gab es zum ersten Mal diese Art von brutalem, menschenverachtenden und nicht durch die Behauptung eines Befreiungskrieges zu rechtfertigendem Massaker.

Das hätte nie passieren dürfen. München 1972 ist der Sündenfall unserer Generation. Danach war die Bundesrepublik nicht mehr, was sie vorher gewesen war. Dieser ausgezeichnete Film bringt das alles in Erinnerung.