Shenzhen: "Die Offenheit ist auf Technik beschränkt"
Der Drohnen-Entwickler Ivo Drescher über Chinas "Stadt der Zukunft", Vor- und Nachteile des chinesischen Modells sowie die globale Tech-Macht Beijings
Die Klischees der hypermodernen Zukunftsmetropole sind immer dieselben: autonom fahrende Taxis, Drohnen für den Personentransport, merkwürdige Prototypen, die im Alltag getestet werden. Nun kommt eine chinesische Stadt diesen verwegenen Vorstellungen von Zukunft erstaunlich nahe: Shenzhen. Bahnbrechende Technologien und Mobilitätssysteme werden hier mit einem Tempo getestet und eingeführt, das weltweit seinesgleichen sucht.
Namhafte China-Experten wie Frank Sieren zeigen sich von Shenzhens rasantem Fortschritt tief beeindruckt und warnen zugleich vor der Gefahr, dass hier der Westen eine Entwicklung mit womöglich unabsehbaren Folgen verpasst. Ein Hightech-Sektor ist dabei besonders ausgeprägt: Mindestens 70 Prozent aller weltweit verwendeten Drohnen stammen von hier. Ausgerechnet Drohnen, das Symbol schlechthin für Fortschritt und Überwachung.
Der junge Ingenieur Ivo Drescher hat selbst über ein halbes Jahr für ein Drohnen-Startup in Shenzhen gearbeitet. Er zeichnet das faszinierende und zugleich verstörende Bild einer Stadt, die heute exemplarisch für den chinesischen Zeitgeist steht.
Das Durchschnittsalter in Shenzhen beträgt 29 Jahre. Wie alt waren Sie, als Sie in diese Stadt gezogen sind?
Ivo Drescher: Ich war 26, so wie die meisten Menschen in Shenzhen. Meine Zeit dort dauerte von Juli 2019 bis Ende Januar 2020. Wegen Corona musste ich dann nach Hongkong zurückkehren, wo ich zuvor schon gelebt hatte.
Die Metropolen sind unmittelbare Nachbarn, doch Shenzhen gehört zum chinesischen Festland.
Ivo Drescher: Der Unterschied zwischen den beiden Städten ist kaum in Worte zu fassen. Es ist ein wenig, als wollte man London mit Neapel vergleichen. Die 20-Millionen-Metropole Shenzhen ist in nur 40 Jahren aus ein paar Fischerdörfern entstanden, sie ist extrem betriebsam und energiegeladen. Du siehst hier wirklich nur junge Menschen, alles ist supermodern, glasig und steril. Hongkong dagegen ist bunt, divers, voller alter und dunkler Ecken. Im Gegensatz zu Shenzhen hat man in Hongkong das Gefühl, auf dem absteigenden Ast zu sitzen, in einer Stadt zu sein, die ihre besten Zeiten schon hinter sich hat.
Ist jeder sofort im Bilde, wenn Soie Ihren ehemaligen Arbeitsort Shenzhen erwähnen?
Ivo Drescher: Nein, meistens muss ich erklären, dass Shenzhen die chinesische Nachbarstadt Hongkongs ist. Von Hongkong hat jeder eine gewisse Vorstellung, von Shenzhen weniger. Die öffentliche Wahrnehmung hinkt der realen Bedeutung der beiden Städte hinterher. Anders ist es innerhalb der Tech-Szene, da weiß man, dass Shenzhen ein großer Player ist. Man könnte sagen: Was das Silicon Valley für die Software ist, ist Shenzhen für die Hardware.
Das rasante Tempo ist für die Stadt so typisch, dass es einen eigenen Namen hat: Shenzhen-Speed.
Ivo Drescher: Das Tempo, mit dem gearbeitet und gelebt wird, ist tatsächlich überwältigend. Technischer Fortschritt findet hier um ein Vielfaches schneller statt, als wir es im Westen gewohnt sind. Das liegt daran, dass die Kreisläufe extrem eng geschnürt und effizient sind. Während die Entwickler in Silicon Valley erst auf die Herstellung des Prototyps in China und auf die Finanzierung aus New York warten müssen, befinden sich Hersteller, Entwickler, Investoren und Kunden hier in direkter Nachbarschaft.
Überträgt sich das auch auf den Lifestyle?
Ivo Drescher: Die Hektik ist sicher gewöhnungsbedürftig. Meine größte Sorge während der Mittagspause war, nicht genug Zeit zum Essen zu haben. Meine Kollegen haben ihr Essen einfach heruntergeschluckt, um anschließend in ihren umstellbaren Sesseln eine Stunde zu schlafen. Powernap statt Kaffee. Und dann ging es weiter. In den meisten Unternehmen wird von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends gearbeitet.
Was sind das für Menschen, die in dieser Stadt leben?
Ivo Drescher: Es sind vor allem junge, ambitionierte Chinesen aus allen Ecken des Landes, die hier ihr Glück suchen. Die meisten machen hier Karriere, legen sich ein Erspartes zur Seite und kaufen später anderswo, wo die Preise erschwinglicher sind, ein Haus, um sich mit ihrer Familie niederzulassen.
Wie fast überall in China, überwiegt auch in Shenzhen eine sehr kalkulierende Lebenshaltung, die materialistischen Erfolg als hohes Ziel betrachtet. Umso glücklicher war ich, als ich in Shenzhen einen gratis Salsa-Kurs fand, wo ich endlich auch mit Chinesen bekanntwurde, die etwas aus reinem Spaß und Interesse und ohne Aussicht auf Gewinn machen.
Shenzhen wird auch als "Stadt der Zukunft" bezeichnet. Warum?
Ivo Drescher: Der Alltag in Shenzhen ist von QR-Codes, digitalem Zahlungsverkehr und einem superschnellen Verkehrssystem geprägt. Demnächst sollen personentransportierende Drohnen erprobt werden. Auch Nachhaltigkeit spielt bei der Stoßrichtung der technischen Innovationen eine Rolle. Schon jetzt ist etwa ein Großteil der Taxis elektrisch angetrieben.
Hat die chinesische Begeisterung für technologischen Fortschritt auch Schattenseiten?
Ivo Drescher: So offen die Chinesen gegenüber technischen Innovationen sind, so verschlossen sind sie gegenüber gesellschaftlichen Neuerungen. Greise, die problemlos ihr Smartphone bedienen, sind in China keine Seltenheit; junge Menschen, die gegen gesellschaftliche Konventionen rebellieren, dagegen schon.
Wer zum Beispiel mit 28 nicht verheiratet ist, wird schief angesehen, vor allem Frauen – für sie gibt es den Ausdruck "übriggebliebenes Fleisch". Aber auch auf jungen Männern lastet ein enormer Druck, von ihnen wird erwartet, dass sie für alles zahlen. Für die Eltern sind Kinder, vorwiegend die Söhne, noch immer eine Art Lebensversicherung, das Sozialsystem in China ist schwach.
Woher kommt dieser Konservatismus?
Ivo Drescher: Der chinesische Way of Life ist tief geprägt vom Konfuzianismus und seinen strikten Hierarchien. Der Sohn muss dem Vater gehorchen, der Untertan dem Herrscher, die Frau dem Mann, der Jüngere dem Älteren. Im Gegensatz zu anderen konservativen Gesellschaften, etwa in der islamischen Welt, gibt es deshalb in China kaum Rebellion gegen das tradierte Wertesystem. Die Elterngeneration hat automatisch Recht, der Respekt vor ihr ist einer der wichtigsten Werte in der chinesischen Gesellschaft.
Das heißt, auch die Regierenden werden nicht infrage gestellt?
Ivo Drescher: In Shenzhen – und auch das scheint mir typisch chinesisch – wird kaum über Politik gesprochen, weil man ohnehin nichts daran ändern kann. Solange es jedem jedes Jahr ein wenig besser geht, wird das System so hingenommen, wie es ist. Zumindest im kleinen Kreis erlebt man aber auch, dass Menschen in Form von Witzen und Flüchen ihrem Frust über die Lügen und die Kontrolle der Regierung freien Lauf lassen.
Das wäre zu Maos Zeiten noch unmöglich gewesen, damals hätte jeder ein Spitzel sein können. Vor allem gegenüber Ausländern äußert man sich gerne kritisch über die Regierung – vielleicht um klarzustellen, dass man nicht naiv ist und sehr wohl Bescheid weiß, was mit dem System nicht stimmt.
Im 19. Jahrhundert hat China die industrielle Revolution in Europa nicht ernstgenommen. Das ehemalige stolze Kaiserreich blieb zurück und wurde für die europäischen Kolonisatoren eine leichte Beute. Seit Mao befindet sich das Land wieder auf Aufholjagd. Sind wir es, die nun überholt werden?
Ivo Drescher: China fährt im Augenblick auf der Überholspur, das ist eine Tatsache. Die Frage ist aber, ob das auch so bleibt. Es kann noch viel dazwischenkommen: ein politischer Umsturz, ein Kulturwandel, geopolitische Verhältnisse… Ich frage mich auch, ob dieses politische und gesellschaftliche System, das auf absoluter Kontrolle basiert, wirklich effektiver ist.
Was sollte daran problematisch sein?
Ivo Drescher: Ich habe es selbst bei der Arbeit erlebt. Alles geht schneller, höher, weiter als bei uns. Aber mit welchen Mitteln? Die Arbeitszeit der Mitarbeiter wird mit Gesichtserkennung überprüft. Mitarbeiter bleiben reine Angestellte. Eigene Initiativen und ein proaktives Mindset sind unerwünscht.
Schließlich könnten Kritik und Verbesserungsvorschläge als respektlos gedeutet werden. Darunter leidet am Ende die Qualität des Produkts. Mittlerweile lebe und arbeite ich in Zürich und ich glaube nicht, dass Schweizer Hightech den chinesischen Produkten unterlegen sind. Hier mag zwar alles langsamer gehen und teurer sein, aber die Arbeitskultur ist eine andere und die Lösungen, die daraus entstehen, sind oft besser.
Du siehst also keinen Grund zur Sorge?
Ivo Drescher: Zweifellos wird Chinas Einflussnahme auf die Welt immer größer – auch durch Soft Power, was früher eher eine Domäne des Westens war. In Afrika ist China schon jetzt viel mächtiger als wir. Dort, wo China an Einfluss gewinnt, formt es die Welt auf eine Art und Weise, dass sie den chinesischen Vorstellungen entspricht. Wie sich das langfristig auch auf uns und unsere Lebensart auswirkt, ist schwierig zu sagen.