"Sie nahmen Kunst sehr ernst"

Jenny Perelli

Aus: "Nostalghia", sowjetisch-italienischer Film, 1983. Mit Drehorten in der Toskana und in Latium.

"Das ist nicht nur eine Kommunikation zwischen Russen" - Andrej Tarkowski, Sohn des Regisseurs von "Solaris" im Interview

"Meine Entdeckung von Tarkowski war wie ein Wunder. Plötzlich fand ich mich vor der Tür zu einem Raum stehen, dessen Schlüssel mir bis dahin nie gegeben worden waren. Es war der Raum, den ich immer betreten wollte und wo er sich frei und voller Leichtigkeit bewegte."

Ingmar Bergman

"Für mich ist Tarkowski Gott."

Lars von Trier

Welche Bedeutung hatten Italien und die Toskana im Leben des Regisseurs von Solaris, Stalker und Nostalghia - um nur die bekanntesten zu nennen - und wie verstand er Poetik? Ein Gespräch mit Andrej Andreevič Tarkowski, Leiter des Andrey Tarkowsky International Institute und Sohn des berühmten Filmemachers Andrej Arsenjewitsch Tarkowski.

Wie viel von Ihrem Vater steckt in Ihnen, wie viel von Ihrer Mutter? Wessen Weltanschauung lebt in Ihnen weiter?

Tarkowski: Ich kann mich selbst nicht so weit analysieren. Was das Temperament und die Weltanschauung angeht, so stimmt sie, denke ich, sehr mit der meines Vaters überein. Ich habe seine Art des Sehens weitgehend geerbt. Der Film, den ich über ihn gedreht habe, hat dies wahrscheinlich bestätigt. Ich habe nach vielen Jahren versucht, mich mit seiner Denkweise auseinanderzusetzen und konnte feststellen, dass sich unser künstlerischer Geschmack sehr ähnelt.

Auch meine Mutter war eine besondere und sehr intuitive Künstlerin. Neben einem außergewöhnlichen Mann steht immer eine außergewöhnliche Frau. Sie war sehr stark. Dann ist da natürlich ein Teil in mir, der sich nicht von meinen Eltern ableiten lässt.

Wie geht die Arbeit im Andrey Tarkowsky International Institute (mit Sitz in Florenz, Paris und Moskau) voran? An welchen Projekten arbeiten Sie gerade? Welche Ambitionen oder Zweifel haben Sie?

Andrei Andreevič Tarkowski. Bild: Screenshot Youtube

Tarkowski: Es gibt viele Ambitionen. Auch viele Projekte, gerade im Hinblick auf das nächste Jahr, zum 90. Geburtstag meines Vaters. Wir möchten eine Reihe von Projekten in Italien, Russland und auch in anderen Ländern umsetzen, weshalb ich gerade etwas gestresst bin. In einigen Tagen fahre ich nach Russland, wo gerade unser Landhaus in Myasnoe - das man oft in den Filmen sieht - restauriert und zu einem kulturellen Museumszentrum, einem Tarkowski-Zentrum, umgewandelt wird.

Dieses Haus lag meinem Vater sehr am Herzen - war es doch das einzige Haus, das er je besessen hat. Er liebte es und wann immer er konnte, fuhr er dorthin. Darüber hinaus sind Veröffentlichungen von Nachdrucken und neuen Buchbändern in Russland geplant; Erzählungen aus seiner Jugend sowie die Neuauflage von Drehbuchsammlungen sollen hier in Italien erscheinen. Parallel dazu läuft gerade ein Restaurierungsprojekt der Vollversion des Andrei Rubljow, das bereits vor einigen Monaten begonnen hat und ebenfalls nächsten Jahr zum Jubiläum präsentiert werden soll.

Das Thema der Spiritualität, der russischen Seele

Neben einem ersten Dokumentarfilm über Ihren Vater hatten Sie vor, einen Spielfilm zu drehen. Welches Sujet hat der Film?

Tarkowski: Ich arbeite immer noch am Drehbuch, das das Thema der Spiritualität, der russischen Seele, des Zugangs zur Natur und zum eigenen Land aufgreift. Es basiert auf klassischen Schriftstellern wie Turgenew und seinen Aufzeichnungen eines Jägers. Interessant finde daran die Perspektive des Kindes. Im Moment musste ich das Projekt allerdings auf Eis legen, weil die Arbeit im Institut meine ganze Zeit in Anspruch nimmt.

Ich erkenne darin die Sichtweise Ihres Vaters in seinem ersten Film Iwans Kindheit.

Tarkowski: Auch des zweiten, denn auch in Die Straßenwalze und die Geige geht es um ein kleines Kind. Mein Vater sagte immer, dass Kinder eine unvermittelte Beziehung zum Absoluten und eine direkte Verbindung zum Unterbewusstsein besitzen, die im Erwachsenenalter unterbrochen wird, weil wir dann zu viel wissen, zu viel lernen und zu autark sind. In den Aufzeichnungen eines Jägers erzählen die Kinder von ihrer Beziehung zur Realität, zur Magie, zum Glauben, zum Übernatürlichen… Das ist in gewisser Weise ein sehr russisches Thema.

Was bedeutet es, in einer Familie von Poeten geboren und aufgewachsen zu sein?

Tarkowski: Ich gebe zu: es ist sehr schön. Für mich war es eine wunderbare Erfahrung, auch wenn sie sehr früh unterbrochen wurde. Mit einem Poeten zu leben, lässt dich die Welt mit anderen Augen sehen. Es öffnet dir die Augen. Dieses Beisammensein gewährt unglaubliche Einblicke auf die Realität. Das ist etwas, das ich mit meinem Vater sehr genossen habe und das ich vielleicht am meisten vermisse, seit er von uns gegangen ist und eine große Leere hinterlassen hat.

Seine Art, eine ganz besondere Atmosphäre um sich herum zu schaffen, fast wie die in seinen Filmen, fehlt mir sehr. Mein Vater war nicht nur ein Regisseur, er war vor allem ein Poet. Ein Poet lebt ständig in seinen Werken und wenn man in seiner Nähe ist, erlebt man in gewisser Weise auch sein Werk mit. Leider habe ich nicht viel Zeit mit meinem Großvater verbracht, der ebenfalls ein außergewöhnlicher Mensch und Dichter war. Mein Vater hat seine Poetik geerbt. Er hat sie nicht erlernt, sondern hat sie vielmehr mit der Muttermilch aufgesaugt. Arsenis Poesie und die meines Vaters ähneln sich sehr, auch wenn letztere in Bildern projiziert wird.

Was hat Italien für Ihren Vater bedeutet? Schließlich hat er seine erste Auszeichnung in Venedig erhalten.

Tarkowski: Ja, richtig. Den Goldenen Löwen, im Jahr 1962. Es war eine seiner ersten Auslandsreisen. Italien hat ihm sehr gut gefallen. Nicht nur wegen der Schönheit des Landes, sondern auch wegen der italienischen Filmkunst, die er studierte und liebte. Italien war für ihn daher ein Land, in dem er sich sehr wohlfühlte. Für sein Exil wählte er gerade Italien, weil es das einzige Land war, in dem er ohne sein Russland überleben konnte. Dies milderte den für ihn tödlichen Schlag der Trennung von der Heimat.

Nostalghia

War ihm nicht die ganze Welt, einschließlich Italien, zuwider, nachdem er erkannt hatte, nicht mehr nach Russland zurückkehren zu können?

Tarkowski: In gewisser Weise ist ein Künstler immer im Exil, sogar bei sich daheim. Nostalghia widmet sich eben diesem Thema. Ein wahrer Künstler ist immer auch ein Visionär, der in die Zukunft sieht. Das erschreckt seine Mitmenschen. Aus diesem Grund wird er meist sehr viel später verstanden. Ein Intellektueller, ein Poet ist daher immer isoliert und distanziert, auch wenn er im eigenen Land lebt. Mein Vater wurde aus politischen Gründen von Russland getrennt.

Ich glaube, Italien, Florenz, die Renaissance, die Malerei und die Kunst waren ihm auch aus humanistischer Sicht wichtig. Einige Journalisten fragten ihn, ob sich seine Art zu filmen ändern würde, weil er in Italien lebe. Er verneinte das und betonte, er sei ein russischer Künstler. Er werde seine Filme in Italien machen, materiell werde er mit den Mitteln arbeiten, die ihm zur Verfügung stünden, doch seine Vision und seine Poetik würden sich sicherlich nicht ändern.

War seine Suche nach den wunderschönen Drehorten in der Toskana und Mittelitalien (Bagno Vignoni, San Galgano, die versunkene Kirche etc..) nicht auch ein Abschied? Können wir es im Nachhinein als ein unbewusstes, romantisches, verträumtes Lebewohl deuten? Als er Nostalghia drehte, war er bereits Exil und somit in der letzten Phase seines Lebens.

Tarkowski: Während der Dreharbeiten zu Nostalghia konnte er noch nicht vorausahnen, dass er nie wieder nach Russland zurückkehren würde. Letztendlich führt ein Kunstwerk ein Eigenleben. Der Autor bringt nicht nur das ein, was er will, sondern auch seine Stimmung, sein Unterbewusstsein, seinen momentanen Zustand.

Als er den fertigen Film Nostalghia sah, war er selbst über die düstere und traurige Atmosphäre überrascht. Er wunderte sich später, wie prophetisch das für ihn gewesen war, denn, wie die Hauptfigur Gortschakow, kehrt er nicht mehr nach Russland zurück, sondern stirbt im Exil. Auch Opfer ist letztendlich autobiografisch. In der ersten Fassung des Drehbuchs ist der Held krebskrank und steht kurz vor dem Tod.

Es gab keinen Atomkrieg, sondern eine persönliche Katastrophe. Ja, Opfer können wir in diesem Sinne als sein spirituelles und künstlerisches Testament interpretieren. Es ist auch sein letzter Film. Während der Dreharbeiten erkrankte er. Er war bereits erschöpft und konnte die Trennung von mir und den Rest der Familie nicht länger ertragen. Ich wurde damals noch als Geisel in Russland festgehalten. All dies forderte seinen Tribut. Die Postproduktion erfolgte dann im Krankenhaus in Paris.

"Seine Filme zu analysieren, ist grundlegend falsch"

Bagno Vignoni ist wirklich ein magischer Ort. Ich glaube, Ihr Vater hat die Magie dieses Ortes zur Gänze erfasst. Ich gehe oft dorthin.

Tarkowski: Ich bin auch oft dort. Es ist noch unberührt - vor allem im Winter, wenn niemand da ist.

Ihr Vater muss intuitiv erfasst werden, denke ich. In der kreativen oder vorkreativen Phase lässt er sich sehr fallen. Das hat er selbst immer gesagt, dass Intuition und Instinkt etwas sehr Menschliches sind.

Tarkowski: Ja, er nährte sich von diesem sehr ausgeprägten, fast weiblichen Instinkt. Um sich seinen Filmen auf die richtige Weise zu nähern, bedarf es Einfühlungsvermögen. Man braucht sie nicht zu analysieren. Der Betrachter spürt sie, sie dringen in ihn ein.

Wie jedes Kunstwerk von jedem verstanden werden sollte. Es darf kein Rätsel sein, keine Scharade, die man erst studieren muss, um sie zu verstehen, wie uns die zeitgenössische Kunst leider weismachen will. Ein Kunstwerk muss auch von Kindern verstanden werden.

Für mich sind seine Filme eine emotionale und spirituelle Reise. Dahinter steckt natürlich auch eine Philosophie, die allerdings ihrerseits immer auf diesem emotionalen, zwischenmenschlichen Kontakt basiert und auch einen religiösen Aspekt birgt. Seine Filme zu analysieren, ist grundlegend falsch, denn daraus entsteht nichts Interessantes. Das Geheimnis der Kunst besteht doch gerade darin, auf mysteriöse und unerklärliche Weise etwas zu vermitteln.

Deshalb werden seine Filme von allen auf universelle und gleiche Weise verstanden. Das ist nicht nur eine Kommunikation zwischen Russen. Wir mögen aus verschiedenen Nationen stammen, aber in unserem Menschsein, in unserer Struktur, in unserer Seele sind wir gleich. In gleicher Weise geschaffen, nach dem gleichen Ebenbild.

"Diese Kunstform ist extrem gewalttätig"

Poesie ist Instinkt und vor allem Sprache. Hat Ihr Vater die russische Sprache geliebt? Er spricht von der Unübersetzbarkeit der Sprachen und damit vielleicht auch von der Unmöglichkeit ein Kunstwerk zu reproduzieren. Welchen Wert hatte die russische Sprache für ihn?

Tarkowski: Er spricht vor allem von Sprache, Semiotik und der traditionellen schriftlich festgehaltenen Poesie, die auf Sprache basiert. Es ist unmöglich, ein Gedicht in einer Sprache, die nicht unsere ist, perfekt zu verstehen. Wie kann ein Russe Dantes Gedichte in der Originalsprache verstehen? Wie kann jemand, dessen Muttersprache nicht Russisch ist, Puschkin verstehen? Das ist unmöglich. Man kann das Gedicht erahnen und lieben, dennoch wird man es nicht verstehen.

Mit dem Film verläuft das anders, denn im Film wird mit der Wirklichkeit gearbeitet. Deshalb sind die Werke meines Vaters universell verständlich, denn darin ist ein Baum ein Baum und kein Gemälde. Es handelt sich nicht um eine Sprache, die gedeutet werden muss.

Während die Dialoge eher zweitrangig sind, sind die Atmosphäre und die visuellen Eindrücke enorm wichtig. Es bedarf keiner Vermittlung durch irgendeine Art von Übersetzung. Wir gehen ins Kino, sehen uns 1,5 Stunden an, was uns gegeben wird, ja, werden mit dem, was der Regisseur uns mitteilen will, regelrecht bombardiert.

Diese Kunstform ist extrem gewalttätig - und doch gibt sie uns die Möglichkeit, die Unübersetzbarkeit der Poesie zu umgehen.

Erfasst ein Russe die Filme Ihres Vaters dennoch besser?

Tarkowski: Ein Russe würde sofort "ja" sagen. Ich treffe viele Menschen, auch durch meine Arbeit im Institut, für das ich seit fast 30 Jahren tätig bin, und ich konnte feststellen, dass die Filme meines Vaters überall die gleichen Eindrücke hinterlassen.

Unter uns Russen herrscht natürlich ein "idem sentire", eine kulturelle Homogenität, die uns stark verbindet. Aber es wird oft mit zu viel Eifer behauptet, ein Tarkowski könne nur von seinen eigenen Leuten verstanden werden. Das ist einfach nicht wahr. Ich, als sein Sohn, kann darin Dinge sehen, die andere nicht erkennen können: persönliche Erfahrungen, Träume, Familiengeschichten, Erinnerungen usw…

Die Begegnung mit seinen Filmen ist jedoch immer sehr persönlich, wie bei jedem großen Kunstwerk. Es scheint uns zu gehören, es scheint allein für uns gemacht, für uns geschrieben. Dies ist meine Art, Kunstwerke zu sehen und auszuwählen.

Ich glaube, diesen Zugang zur Kunst habe ich von ihm geerbt. Und dieses Einverständnis mit dem Autor stellt immer einen menschlichen Kontakt dar - und durch das Menschliche kommen wir dem Absoluten ein wenig näher. Deshalb sind Kunstwerke so schön: Sie geben uns das Gefühl, nicht allein zu sein.

"Kunst ist zur kontinuierlichen, inhaltslosen Selbstverherrlichung des Künstlers geworden"

Strecken Sie Ihre Hand nach dem Göttlichen und Transzendenten, wie es Ihr Vater tat?

Tarkowski: Ich bin kein religiöser Mensch im klassischen Sinne. Meine Lebenserfahrung sagt mir allerdings, dass es etwas gibt, das über unser Verständnis hinausgeht. Für mich ist das etwas Immanentes und sehr Reales. Man muss es nur zu spüren wissen. Im Alltag tun wir es nicht; wir neigen dazu, unser Leben oberflächlich zu leben. Aber hin und wieder sollten wir daran denken, dass wir Teil von etwas Größerem sind.

Auch etwa durch ein Kunstwerk kann ich das spüren, das in mir die Idee weckt, nicht mehr dem Menschen oder seinem Schöpfer zu gehören, sondern darüber hinauszugehen. Deshalb sind Kunstwerke ewig. Leider gibt es heute nur noch sehr wenige davon, weil niemand mehr an irgendetwas glaubt. Kunst ist nicht einmal mehr dieselbe.

Kunst ist fast zum Beruf und zur kontinuierlichen, inhaltslosen Selbstverherrlichung des Künstlers geworden. Ich komme aus den 1970-er Jahren in Russland, wo es Künstler gab, die ihr ganzes Leben auf ihre Kunst setzten. Sie nahmen das sehr ernst.

Ich habe den Eindruck, dass jetzt niemand mehr etwas riskieren will. Vielleicht liege ich falsch, aber ich denke, dass in vielen Bereichen (Film, Malerei, Literatur…) eine totale Verarmung im Gange ist. Ich dachte, das sei eine Einstellung, die mit dem Alter kommt, aber das stimmt nicht.

Wir erleben tatsächlich eine dunkle Phase unserer Geschichte. Doch alles verläuft zyklisch, weshalb ich denke und hoffe, dass auch diese Phase vergehen wird. Vielleicht wird es eine neue Renaissance geben. Ich werde sie nicht zwar nicht miterleben, aber ich hoffe, es wird sie geben.

Corona-Lockdown: "In den Filmen in gewisser Weise vorausgesehen"

Was hätte Ihr Vater zu dieser bedauernswerten pandemischen Situation gesagt, die wir gerade erleben?

Tarkowski: In gewisser Weise hatte er das in seinen Filmen bereits vorausgesehen. Er lebte und arbeitete in den schrecklichsten Situationen, in denen es keinerlei kreative Freiheit gab und er sich jedes Werk erkämpfen musste. Damals war es also nicht unbedingt einfacher als jetzt. In 20 Jahren hat er fünf Filme unter enormen Schwierigkeiten gedreht. Nur sein Charakter, sein Glaube an sich selbst und an seine Arbeit haben es ihm ermöglicht, diese Filme fertigzustellen.

Aber er sagte immer, dass besonders der Künstler, wenn er glaubt, ein solcher zu sein und Talent zu haben, ungeachtet der Bedingungen weitermachen müsse. Er war in diesen Dingen sehr, vielleicht zu kategorisch. Man sollte jeder Situation etwas Positives abgewinnen, auch diesem Lockdown, der es uns erlaubt hat, ein wenig allein zu sein und ein wenig in uns hineinzuhorchen. Das hat die tägliche Routine unterbrochen. Die vielen Todesfälle waren natürlich eine Katastrophe. Mein Vater war sehr energisch und voller Lebenskraft.

Es war nicht negativ eingestellt, sondern war, im Gegenteil offen, neugierig. Er stand nie still, er loderte. Er war immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten. Er hat sich nur bis zu einem gewissen Grad beschwert. Immer blickte er nach vorne.

Vielleicht ist dies eine Eigenschaft von Genies, die das Talent haben, sich auf ihre Arbeit, auf einen Punkt, auf ein Thema zu konzentrieren, ohne sich durch irgendetwas ablenken zu lassen. Im Leben gibt es so viele Ablenkungen; doch er hatte die Fähigkeit, mit großer Bescheidenheit fokussiert zu bleiben.

Hielt er das Wissen nicht für eine gewöhnliche und etwas banale Größe, das Nichtwissen hingegen für eine Dimension mit großem Potenzial?

Tarkowski: Durchaus! Er meinte, man könne Gott nicht kennen - es gebe keinen konkreten mathematischen Beweis. Gerade das Unbekannte mache das Leben interessant und wecke die Neugier. Das Gleiche gilt für das Konzept des Symbols. Er verabscheute Symbole, denn wenn man sie einmal aufgeschlüsselt hat, sind sie nutzlos.

Welche ist Ihre letzte Erinnerung an Ihren Vater?

Tarkowski: Die letzten Monate der Krankheit waren sehr schwierig, aber es gab da einen sehr schönen Moment, an den ich mich gerne erinnere. Zwischendurch gab es Zeiten, in denen es ihm etwas besser ging. Er konnte dann das Haus verlassen und irgendwann gingen wir an einem solchen Tag in ein Café in einem Pariser Boulevard.

Nur wir zwei. Wir saßen so in der Sonne, Vater und Sohn, tranken zusammen ein Bier und beobachteten die Passanten. Das war sehr schön. Ich war 16 und begann, mich für wichtige und tiefgründige Argumente zu interessieren. An diesen zarten und innigen Augenblick kann ich mich sehr gut erinnern.

Berlin: "Ein ruiniertes, zerstörtes Nest"

Ihr Vater fühlte sich sehr zur deutschen Kultur hingezogen. Er liebte Bach und die deutsche Romantik…

Tarkowski: Er liebte Goethe, Thomas Mann, Hesse, Hoffmann... Das waren Autoren, die er auch mir immer zu lesen gab. Hoffmanniana wäre nach Opfer sein nächstes Projekt gewesen. Die Verbindung zur deutschen Kunst war sehr eng. Er hat auch in Berlin gelebt, das ihm allerdings nicht besonders gefallen hat. Das war im Jahr 1986. Er nannte es ein ruiniertes, zerstörtes Nest.

Haben Sie jemals darüber nachgedacht, Hoffmanniana zu vollenden?

Tarkowski: Das ist ein wunderschönes Projekt, aber ich glaube, nur ein Tarkowski kann einen Tarkowski drehen. Er hat das Drehbuch für sich selbst geschrieben. Es könnte ein wunderbarer Film werden, wenn er hinter der Kamera stehen und Regie führen würde.

"Filmkritiker konnte er nicht leiden"

Journalisten konnte er nicht sonderlich gut leiden, nicht wahr?

Tarkowski: Filmkritiker konnte er nicht leiden. Er hatte das Gefühl, sie verstünden seine Filme nicht. Das stimmt auch, denn gerade damals gab es nur wenige Kritiker, die vom klassischen Schema der Filmkritik abwichen. Doch da es schwer ist, seine Werke als reine Filmkunst zu definieren, gab es etliche Missverständnisse. Um einen Tarkowski zu verstehen, sollte man statt Filmgeschichte und Regie besser russische Philosophie und Literatur studieren.

Kritiker sollten besser Florenskij und Berdjaev lesen. Deshalb konnte er bei der x-ten Frage von Kritikern und Journalisten, die seine Filme total fehlinterpretiert hatten, recht ungemütlich werden. Aber er hat viele Interviews gegeben und Vorträge gehalten. Er sprach gerne vor Publikum. Mein Film basierte auf diesen Vorträgen.

Frauen und Science-Fiction

Ich erinnere mich an ein Interview über Nostalghia mit einer Journalistin, die er anscheinend nicht besonders gemocht hat. Wie war seine Einstellung zu Frauen? War er ein Frauenfeind?

Tarkowski: Er verehrte seine Mutter und meine Mutter. Er hatte den größten Respekt vor Frauen. Er war der Meinung, dass Frauen und Männer zwar in geistiger Hinsicht gleich seien, dass Frauen allerdings etwas einbringen, was Männer nicht haben, und umgekehrt - dass Mann und Frau sich ergänzen.

Der Film Der Spiegel ist seiner Mutter gewidmet und ist eine regelrechte Hymne an die Mutter, an die Frau. Mehr kann man eine Frau nicht lieben. Auch glaubte er an die Familie. Er war kein Einzelgänger, der nur an seine Karriere dachte. Er war gerne mit uns und seinen Freunden zusammen. Das gemeinsame Mittag- und Abendessen war ein Ritual. Er hatte etwas altmodische Ansichten - allerdings im guten Sinne, finde ich. Traditionen sind wichtig.

Wenn ich mir anschaue, wie er die Madonna der Geburt des Piero della Francesca aufnimmt und in Szene setzt, die ganz rund ist und das ewig Weibliche darstellt, dann lese ich darin eine große Verehrung des Femininen.

Tarkowski: Ja, absolut. Er betonte immer wieder, dass ohne seine Mutter niemals etwas aus ihm geworden wäre. Es ist die Mutter, die sich ganz für ihre Kinder aufgeopfert und sie unter großen Entbehrungen erzogen hat. Sie musste deshalb sogar das Schreiben aufgeben. Sie war für ihn der vielleicht wichtigste Mensch im Leben. Er litt auf dramatische Weise unter ihrem Verlust. Es ist falsch, das Weibliche von seiner Suche nach Vollständigkeit und dem gleichzeitigen Bewusstsein, sie nie erreichen zu können, auszuschließen.

In jedem seiner Filme ist die Figur der Frau vorherrschend. In Iwans Kindheit ist es die nicht existierende, verstorbene Mutter; Iwans Albtraum, eine unüberbrückbare Leere, die dieses Kind praktisch zerstört. Er ist demzufolge kein Mensch oder Kind mehr, sondern ein Geschöpf des Krieges. In Andrej Rubljow haben wir die Durochka. In Stalker ist der Monolog seiner Frau vielleicht der wichtigste im ganzen Film. In Opfer gelingt es dem Protagonisten nur mit Hilfe der Hexe, das Opfer darzubieten. Es ist also immer die Frau, die das Wunder vollbringt.

"Science-Fiction nur ein Vorwand"

Wie war sein Verhältnis zur Science-Fiction?

Tarkowski: Science-Fiction war für ihn nur ein Vorwand, um die bürokratische Maschinerie der sowjetischen Zensur zu überwinden. Er musste Wege finden, wenn auch indirekt, frei über bestimmte Themen sprechen zu können, ohne dafür bestraft zu werden. Dafür eignete sich das Genre Science-Fiction sehr gut. Dann drehte er alles so wie er wollte, dass es am Ende gar keine Science-Fiction mehr war.

Er nahm z. B. einen Roman, veränderte ihn so sehr und passte ihn seinen Vorstellungen an, dass von der ursprünglichen Science-Fiction-Story nichts mehr übrig blieb. Selbst der Autor von Solaris hatte geklagt, das sei nicht mehr die Adaption seines Romans, sondern ein Dostojewskij. Er weigerte sich im Anschluss, am Film mitzuarbeiten. Es war eine Art, die Zensoren zu täuschen.

Sowohl Solaris als auch Stalker sind äußerst religiöse Filme, die auf gut versteckte Weise fast die Geschichte eines Heiligen nachzeichnen. Sein größter Wunsch war es gewesen, seinen Lieblingsautor Dostojewskij zu verfilmen, doch das ist ihm nie erlaubt worden. In Solaris sind noch viele Science-Fiction-Elemente vorhanden, während in Stalker die Science-Fiction eindeutig nur ein Vorwand war.

Möchten Sie unseren deutschsprachigen Lesern noch etwas mitteilen?

Tarkowski: Ja, gerne, denn jetzt ist die neu übersetzte Ausgabe von "Tarkovski" beim Alexander Verlag in Berlin erschienen. Darüber bin ich wirklich sehr glücklich, denn es ist ein sehr schönes und sehr lesenswertes Buch.

Tarkowski, Andrej: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Mit einem Vorwort von Dominik Graf. Neu im Alexander Verlag erschienen.