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"Sie sind der erste Journalist seit zehn Jahren, der mir überhaupt solche Fragen stellt."

Mehmet Alparslan Çelebi

Interview mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des "Zentralrats der Muslime" Mehmet Alparslan Çelebi

Wieder steht ein Mitgliedsverband des "Zentralrat der Muslime" in der Kritik: Die "Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa" (ATİB) sei Teil der türkisch-nationalistischen "Grauen Wölfe". Mitglieder des Verbands würden Stimmung gegen Kurden und Juden machen. So steht es im jüngsten Verfassungsschutzbericht über die Organisation, die rund 30 Moscheen in Deutschland vertritt.

Telepolis hat mit dem ATİB-Vorstandsmitglied und stellvertretenden Vorsitzenden des "Zentralrats der Muslime", Mehmet Alparslan Çelebi, gesprochen: über Graue Wölfe, türkische Rassisten und die Schwierigkeiten islamischer Interessenvertretung in Deutschland.

Sind Sie aktiv in einer rechtsextremen Vereinigung?
Mehmet Alparslan Çelebi: Nein, absolut nicht.
Der Jahresbericht des Bundesverfassungsschutzes sieht das anders. Unter der Rubrik "Sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebung von Ausländern" [1] wird ATİB dort den rechtsextremen Grauen Wölfen zugerechnet.
Mehmet Alparslan Çelebi: Zuerst einmal: Wir sind keine Ausländer. ATİB ist ein 1987 in Deutschland gegründeter Verein. Ich und die meisten anderen Mitglieder sind deutsche Staatsbürger. Diese Einordnung hat uns sehr überrascht. Wir arbeiten seit 33 Jahren sehr gut mit lokalen Vereinen, nicht-staatlichen Organisationen und Sicherheitsbehörden zusammen.
ATİB stellt auf Bitten von Baden-Würtemberg eine Person für den Rundfunkrat als muslimische Vertretung. ATİB war und ist bis heute immer ein sehr gewünschter Partner. Es gab nie Beschwerden von irgendeiner Institution. Und nun stehen wir plötzlich im Verfassungsschutzbericht.
Im Bericht heißt es, sie vertreten einen türkischen Nationalismus und richten sich unter anderem gegen Kurden und Juden. Ist da Ihrer Meinung nach auch nichts dran?
Mehmet Alparslan Çelebi: Das stimmt absolut nicht. Zu den Gründungsmitgliedern von ATİB gehören Kurden, die auch heute noch im Vorstand sind. Wir haben Schiiten im Vorstand, wir haben Frauen. Soviel Pluralität wie bei uns findet man in kaum einem anderen Verein. ATİB ist ein großer Verein. Wir leben nicht im Schatten, wir sind transparent, unsere Veranstaltungen und Statements sind alle öffentlich.
In 33 Jahren müsste man doch irgendein juden-, kurden- oder demokratiefeindliches Statement von unseren Funktionären finden. Hat man aber nicht. Gegen diese Behauptungen sind wir auch rechtlich vorgegangen und haben Recht bekommen.
Sie meinen, als Sie vergangenes Jahr erfolglos gegen die Bayerische Staatsregierung klagten, nachdem auch diese Sie als Teil der Grauen Wölfe bezeichnete?
Mehmet Alparslan Çelebi: Nein. Die ganze Sache begann damit, dass das Bundesland Hessen und Nordrhein-Westfalen eine Broschüre über die "Grauen Wölfe" herausgebracht hat. In dieser hieß es, ATİB sei so eine Art islamischer Flügel der Grauen Wölfe. Dagegen sind wir 2016 gerichtlich vorgegangen und haben gewonnen. Die Broschüren wurden daraufhin aus dem Netz genommen.
Das Münchner Verwaltungsgericht sah das allerdings anders. Dieses urteilte letztes Jahr, Ihnen sei es nicht gelungen, sich nachvollziehbar von der "Ülkücü-Bewegung mit ihrem verfassungsschutzrelevanten Gedankengut" zu distanzieren.
Mehmet Alparslan Çelebi: Stimmt, da waren wir nicht erfolgreich. Begonnen hatte das mit einer Landtagsanfrage zu den Grauen Wölfen in Bayern. Da wurde quasi einfach per Copy&Paste dasselbe geschrieben, was schon in der Broschüre aus Hessen und Nordrhein-Westfalen stand. Auch dagegen sind wir vorgegangen und haben gesagt: "Das was ihr als Graue Wölfe definiert, das sind wir nicht."
Ich war zuversichtlich, dass wir gewinnen. Die Argumentation des Gerichts war auch nicht, dass wir zu den Grauen Wölfen zählen oder rechtsextrem sind, sondern dass jemand, der im Internet über uns recherchiert, diesen Eindruck gewinnen könne. Deshalb sei die Feststellung des Verfassungsschutzes nicht zu beanstanden.

"Die 'Grauen Wölfe' sind ein Kampfbegriff."

Sie haben eben gesagt, dass Sie nach der Definition des Gerichts nicht zu den Grauen Wölfen zählen. Eine ähnliche Formulierung ist mir auch in Ihrer PM zum aktuellen Verfassungsschutzbericht [2] aufgefallen. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass es eine Definition von "Graue Wölfe" gibt, der Sie sich zugehörig fühlen?
Mehmet Alparslan Çelebi: Nein. Im Türkischen gibt es keine Bewegung der "Grauen Wölfe". Das ist ein rein deutsches Phänomen. Ich kenne niemanden, der sich so bezeichnet. Die "Grauen Wölfe" sind ein Hirngespinst, ein Kampfbegriff. Erstmals wurde dieser vom Journalisten Jürgen Roth eingeführt. Der hat Anfang der 1980er eine Dokumentation gemacht "Die grauen Wölfe kommen". Damit wurde der Begriff etabliert. Wir sind keine grauen Wölfe, keine schlauen Wölfe, wir sind überhaupt keine Wölfe.
Den Wolf als Symbol und Gruß einer bestimmten politischen Bewegung kennen Sie aber schon, oder?
Mehmet Alparslan Çelebi: Der Wolf ist das Symbol der gesamten Turkstaaten. Den finden Sie nicht nur in der Türkei, sondern auch Kasachstan, Aserbaidschan, Kirgisien, den Turkmenen oder im Balkan. Der ist wie der Bundesadler oder der kanadische Bär. Der Wolfsgruß findet sich schon bei einem bestimmten Teil der Ülkücü-Bewegung, bei uns aber nicht.
Wir haben ihn 1987 abgeschafft. Wenn Mitglieder ihn machen, werden die aufgeklärt und er wird unterbunden. Grund ist auch hier, dass der Gruß mit einer extremen Struktur assoziiert wird. In türkischsprachigen Ländern würden sie allerdings auch den Wolfsgruß sehen oder eine politische Ideologie dahinter.
Dann lassen Sie uns nicht von Wölfen, sondern der Ülkücü-Bewegung reden, die hierzulande in der Regel synonym mit den "Grauen Wölfen" verwendet wird. Ist ATİB Teil der Ülkücü-Bewegung?
Mehmet Alparslan Çelebi: ATİB ist auf jeden Fall eine Ülkücü-Organisation. Ülkücü heißt einfach Idealisten. Für uns ist jeder, der ein Ülkü, also ein Ideal, hat, ein Ülkücü. Deshalb weiß ich nicht, warum ich mich anders bezeichnen soll. Ülkücü ist auch ein enorm heterogener Begriff. Wir haben in der Türkei Ülkücü in der CHP, in der MHP, in der AKP, in der BBP oder in der Iyi Partei. Selbst in der Türkischen Arbeiterpartei gibt es Ülkücü.

"Zeigen Sie mir einen rassistischen Satz, den ich jemals gesagt habe, und ich trete sofort von allen meinen Ämtern zurück"

Nun ist Ülkücü nicht nur das türkische Wort für Idealisten, sondern bezeichnet auch eine politische Bewegung, die eng mit der rechtsextremen MHP verbunden ist, deren Anhänger von einem Großreich der Turkvölker träumen und auf deren Konto Hunderte Tote in der Türkei gehen.
Mehmet Alparslan Çelebi: Historisch gesehen würde ich unterschreiben, dass der Ursprung der Ülkücü Bewegung ein gemeinsamer ist. Ende der 1960er entstand diese als Studentenbewegung gegen den erstarkenden Kommunismus in der Türkei. Unter dem Gründervater Alparslan Türkeş war es zunächst eher eine intellektuelle Bewegung. Den Gründern war Rassendenken fremd. 11 der 30 Gründer der Ülkücü-Bewegung sind Kurden. Es gibt keinen rassistischen Spruch von einem der Gründer aus den 1960er-Jahren. Leider haben Ülkücü-Gruppen Ende der 1970er auch Anschläge begangen, durchaus als Reaktion auch auf linksextreme Angriffe.
Die Situation in der Türkei spitzte sich allgemein zu bis hin zum Militärputsch 1980. Es war eine dunkle Zeit für die Türkei. In den 1980ern entstanden auch Gruppen, die sich am Rassendenken orientiert haben. Viele andere haben sich in in Parteien organisiert wie der MHP oder BBP, aber auch später in der CHP. Bei denen würde ich sagen, dass die ideologisch heute teilweise inhaltslos sind und kaum noch Ideale vertreten. Wahrscheinlich ist das allgemein das Schicksal von Parteien. Die Ülkücü-Bewegung ist eben eine sehr heterogene Bewegung.
Wie stehen Sie zur Geschichte Ihrer Bewegung?
Mehmet Alparslan Çelebi: Ich verurteilte jegliche Gewalttat. Jede rassistische Aktion ist für mich unislamisch. Für Gott zählen nur die Taten eines Menschen, nicht seine Rasse. Jede Organisation, Gruppe oder Bewegung, die sich auf Ethnie als Nenner einigt, ist verwerflich und zum Scheitern verurteilt. Ich bin 38 Jahre alt. Zeigen Sie mir einen rassistischen Satz, den ich jemals gesagt oder geschrieben habe, oder etwas, was in diese Richtung geht, und ich trete sofort von allen meinen Ämtern zurück.
Ich bin in erster Linie Muslim. Meine Mutter hat arabischen Ursprung und der zieht sich bis nach Medina, mein Vater ist Türke. Ich könnte nicht einmal sagen, welche Rasse ich habe. Jeder, der in Rassen denkt, kann für mich kein Muslim sein. Wenn wir uns heute als Türkisch bezeichnen, ist das aufgrund der für uns geltenden Definition: Menschen, die eine gemeinsame Geschichte und Kultur haben und vor allem die gemeinsame Werte haben. Der Begriff "Türke" ist deshalb auch für uns kein ethnischer Begriff, sondern eine Bezeichnung für eine Wertegemeinschaft.

"Unser Zuhause ist nicht die Türkei, unser Zuhause ist Deutschland"

Erklären Sie mir bitte, was das "Ülkü" von Ihnen und ATİB ist.
Mehmet Alparslan Çelebi: Gern. Unser Ideal ist, dass Menschen, die in Deutschland leben, die türkische oder kurdische Wurzeln haben, hier einerseits fest verwurzelt sind, aber auch einen starken Bezug zu dem Ort haben, wo sie hergekommen sind.
Wir glauben, dass es einen Mehrwert hat, wenn Menschen mehrere Kulturen in sich vereinen, mehrere Sprachen sprechen und den Zugang zu einem reichen kulturellen Schatz haben. Die Leute sollen sich in Deutschland wohl fühlen. Dazu brauchen wir gut ausgebildete, belesene und weltmännische Menschen, die auch einmal die eigene Komfortzone verlassen.
Unser Zuhause ist nicht die Türkei, unser Zuhause ist Deutschland. Punkt. Wir sind ein Teil von Deutschland. Meine Kinder werden hier leben, ich werde in diesem Land irgendwann begraben werden. Wir wollen eine Zukunft für Muslime in Deutschland schaffen - mit Visionen und Fantasien. Nicht neben der Mehrheitsgesellschaft, sondern mit der Gesellschaft.
Ich will nicht in einem Land leben, in dem sich die Menschen nicht gegenseitig in die Augen schauen können. Die Türkei wird dabei immer einen sehr wichtigen Platz für uns haben. Denn sie gehört zu unserer Vergangenheit, unserer Geschichte, welche uns formt und uns Halt gibt. Ohne diese Vergangenheit, werden wir es nicht schaffen, eine gesunde Zukunft in Deutschland aufzubauen.
Wenn das die Ideale sind, die ihre Organisation vertritt, wäre es dann nicht zielführend, sich von einem Label zu trennen, dass historisch vorbelastet ist und auch für ganz gegensätzliche Ziele steht?
Mehmet Alparslan Çelebi: Wie gesagt, der Begriff Ülkücü-Bewegung ist sehr heterogen. Sicherlich gibt es auch ein Verständnis, das diametral gegen unsere Weltanschauung ist. Daher ja, natürlich können wir uns von einem vorbelasteten Label trennen. Aber wie soll ich das denn machen? Wie soll ich jedes einzelne Mitglied davon überzeugen, sich nicht mehr Ülkücü zu nennen? Ich sehe diesen Prozess hundertprozentig. Wenn man sich heute einmal anschaut, wie viele ATİB-Leute sich überhaupt noch Ülkücü nennen, dann werden das immer weniger. Ich laufe auch nicht herum und sage ich bin Ülkücü und unsere Jugend tut das auch nicht.
Sie haben mir doch erst vor ein paar Minuten gesagt, dass Sie sich als Teil von Ülkücü sehen.
Mehmet Alparslan Çelebi: Nein, nein. Als ATİB sind wir per Definition und Geschichte Teil der Ülkücü-Bewegung. Es wäre doch lachhaft, wenn ich das Gegenteil behaupten würde. Was Sie mich gefragt haben, ist, ob es nicht sinnvoll wäre das Label zu wechseln. Ich glaube, Label allgemein sind unser größtes Problem. Da gebe ich Ihnen vollkommen Recht.
Aber ich sage ihnen auch: Es kann doch nicht nur um das Label gehen. Nur weil wir historisch aus der Ülkücü-Bewegung hervorgegangen sind, heißt das doch nicht, dass man uns nach 33 Jahren ohne irgendeinen Beweis beliebig Sachen anlasten kann. Unsere Taten sprechen für sich. Da kann man nicht einfach sagen: "Aber ihr heißt nun mal Ülkücü, deshalb seid ihr auch rassistisch." Ist das wirklich das Level, auf dem wir uns bewegen?
Lassen Sie uns trotzdem noch einmal über Ihre Geschichte reden. ATİB ist hervorgegangen aus der Türkischen Föderation ADÜTDF, die schon eine sehr türkisch-nationalistische Ausrichtung hatte und hat. Wie kam es zur Abspaltung?
Mehmet Alparslan Çelebi: 1978 wurde in Deutschland die Türkische Föderation gegründet, eine Organisation, die an die Ülkücü-Bewegung und die MHP gebunden war. Die gesamte Ülkücü-Bewegung in Deutschland hatte bis 1987 eine sehr starke Türkei-Orientiertung, was historisch gesehen zu Anfangszeiten auch verständlich war.
Mein Vater Musa Serdar Çelebi und seine Freunde haben sich nach dem Militärputsch in der Türkei immer mehr nach Europa orientiert und eingesehen, dass unsere Zukunft hier ist. Unter anderem deshalb und aufgrund von elementaren Meinungsunterschieden haben sich mein Vater und seine Freunde von der MHP und der Türkischen Föderation abgewendet. Mit ihm zusammen sind über 120 Mitgliedervereine ausgetreten.
Auf Drängen dieser Vereine hat mein Vater 1987 ATİB gegründet - gegen den Druck der Türkei. Das Ideal meines Vaters war es, dass wir unsere Zukunft in Europa gestalten. Er wollte einen Verband, der keine Befehle bekommt, der sich selbst wählt und der sich den Problemen hier in Deutschland zuwendet. So arbeitet ATİB bis heute.
Stimmt es eigentlich, dass Sie ihr Vater nach dem Gründer der rechtsextremen MHP Alparslan Türkeş benannt hat?
Mehmet Alparslan Çelebi: Das ist völliger Bullshit. Alparslan ist ein Standard-Männername in der Türkei. Da gibt es Tausende bessere Alparslans in der Geschichte. Ich frage mich auch, wer so etwas in die Welt setzt. Weder ich noch mein Vater haben das jemals behauptet. Da kann ich nur sagen: Na gut, wenn Sie meinen, dann waren Sie wahrscheinlich bei meiner Geburt dabei.
Klingt, als würden Sie häufiger mit solchen Dingen konfrontiert.
Mehmet Alparslan Çelebi: Das ist noch eine der harmloseren Unterstellungen. Es gibt ja schon auch seriöse Kritik an uns. Aber es gibt auch Leute, die auf jede mögliche Art gegen uns schießen. Ali Ertan Toprak hat zum Beispiel bei Maybritt Illner einmal behauptet, mein Vater hätte von Erdoğan zwei Millionen Euro erhalten, um in Deutschland Leute an die Wahlurne zu bringen. Da haben wir gegen ihn geklagt und gewonnen. Er ist in Berufung gegangen und wir haben wieder gewonnen. Es war frei erfunden. Einfach so.
Ein andermal hat er behauptet, mein Vater wäre in viele politische Morde in der Türkei verwickelt gewesen. Wieder komplett erfunden ohne jeglichen Beweis. Seyran Ateş hat einmal in der Zeitschrift Emma behauptet, ich hätte ihr einige beleidigende E-Mails geschickt. Wie kommt die bitte auf so etwas?
Ich habe doch keinen IQ von 10, dass ich irgendjemandem beleidigende E-Mails schreibe. Ich habe mit der Frau überhaupt nichts zu tun. Ich habe sie und die Emma dann verklagt und eine Unterlassung erwirkt.

"Wir haben Frauen und Männer, die nun alle um ihren Job bangen müssen"

Bleiben wir kurz bei Seyran Ateş. In den 1980ern wurde sie bei einem Angriff auf einen Berliner Frauentreff schwer verwundet. Ein Tatverdächtiger wurde damals auch mit der Ülkücü-Bewegung in Verbindung gebracht. Können Sie nachvollziehen, wenn Ateş einer Organisation, die unter demselben Label aktiv ist wie ihr möglicher Attentäter, nicht ganz unbefangen gegenübertritt?
Mehmet Alparslan Çelebi: Ja natürlich kann ich das verstehen. Ich habe auch nichts gegen Kritik. Ich kann auch verstehen, wenn man da emotional wird. Aber ich kann nicht verstehen, wenn man deshalb Unwahrheiten verbreitet. Es tut mir leid, dass Seyran Ateş Opfer eines Anschlages geworden ist. Aber ich habe diesen Anschlag nicht begangen.
Meine Organisation hat diesen Anschlag nicht begangen. Und Opfer dieser Unwahrheiten werden auch Frauen, die bei uns aktiv sind. Frauen und Männer, die teils als Beamte oder in öffentlichen Positionen arbeiten und die nun alle um ihren Job bangen müssen, weil sie auf Basis von Unwahrheiten als verfassungsgefährdend eingestuft werden.
Sie haben vorhin gesagt, es wäre zielführend, sich von dem Label Ülkücü zu lösen. Wie könnten konkrete Schritte in die Richtung aussehen?
Mehmet Alparslan Çelebi: Was uns wichtig ist, ist dass sich Jugendliche generell von Labels lösen. Al-Ghazali, einer der Begründer der islamischen Philosophie, hat gesagt: "Menschen, die in Worten denken, sind dumm. Kluge Menschen denken in Ideen." Das wollen wir unseren Jugendlichen beibringen: Löst euch von Labels, nicht nur von Ülkücü, auch von allen anderen. Denn Labels führen immer zu Schubladendenken. Lasst lieber Taten sprachen.
Wenn Sie mich fragen, ob es Ultranationalisten und Rassisten gibt, die sich Ülkücü bezeichnen? Auf jeden Fall. Es gibt Leute, die sagen: "Religion ist nur etwas für Araber. Wir glauben nur an das Turkvolk." Die sind hardcore abgedriftet. Aber was haben wir mit denen zu tun? Welchen Anlass haben wir in 33 Jahren gegeben, um ums mit denen in Verbindung zu bringen? Was ist nach 33 Jahren passiert, dass die Behörden plötzlich sagen: "Ihr seid alle schlecht!"
Was ist Ihre Antwort auf die Frage?
Mehmet Alparslan Çelebi: Es gibt in Deutschland Menschen und Organisationen, die allgemein ein Interesse daran haben, dass muslimische Interessenvertretung geschwächt wird. Das sehen wir nicht nur am Beispiel von ATİB. Das sehen wir bei allen muslimischen Verbänden, die momentan ihr Fett weg kriegen. Der Zentralrat war seit seiner Gründung immer ein verlässlicher Partner für die Politik und trotzdem bleibt keiner verschont.
Hinzu kommen die deutsch-türkischen Beziehungen, die momentan nicht so rosig sind. In den Behörden sitzen ja auch nur Menschen und kein ausgeklügeltes AI-System. Die lassen sich auch von der Politik und allgemeinen Stimmung beeinflussen. Viele Menschen bei uns schüchtern diese Angriffe ein. Viele sagen: "Ich weiß, ihr macht nichts Schlimmes aber wenn ich mich bei euch engagiere, bekomme ich vielleicht deswegen keinen Job." Man sieht das ja gerade bei Nurhan Soykan vom "Zentralrat der Muslime".
Die Frau, die vor kurzem vom Auswärtigen Amt neben einem Pastor und Rabiner als religiöse Beraterin engagiert wurde und sich nun mit Islamismus-Vorwürfen konfrontiert sieht?
Mehmet Alparslan Çelebi: Genau. Juristin, sehr gebildet, durchgehend ehrenamtlich tätig, ohne einen Cent zu bekommen. Hat gerade eine Chemotherapie hinter sich, hat den Krebs besiegt. Eine Powerfrau durch und durch. Die bekommt ein beratendes Amt vom Auswärtigen Amt, was eine Revolution für muslimische Frauen in Deutschland ist, und wird dafür von Leuten, die sich als liberal bezeichnen, in eine Ecke gestellt und mit Schmutz beworfen.
Das ist zum Heulen. Wo ist da die Frauenbewegung!? Sie hören schon an meiner Sprache, welcher Frust sich da bei mir angestaut hat. Sie sind der erste Journalist seit zehn Jahren, der mir überhaupt solche Fragen stellt.

"Die Leute, die uns mit Schmutz bewerfen"

Nur zu!
Mehmet Alparslan Çelebi: Die Ansage, von diesen Leuten, die uns mit Schmutz bewerfen, ist doch ganz klar: "Nur unsere Leute kommen weiter und alles, was ihr macht, werden wir torpedieren." Es wird jedes mögliche Label in den Raum geworfen, damit wir ja nicht dazugehören: Ob es "politischer Islam" ist, "Erdogans Kettenhund", "Graue Wölfe"… Jeder Verband bekommt sein Label, damit sie uns ja im Zaum halten. Und wir werden bluten. Es wird dazu führen, dass unsere Organisationen immer mehr geschwächt werden. Genauso wollen sie es ja auch haben.
Haben Sie dennoch einen Plan, wie Sie aus der Krise wieder herauskommen könnten?
Mehmet Alparslan Çelebi: Wir haben Gespräche mit dem Verfassungsschutz und dem Innenministerium geplant. Wir wollen ein wissenschaftliches Gutachten von einem nicht-muslimischen anerkannten Professor über uns erstellen lassen. Wir werden auch den rechtlichen Weg gehen - wenn nötig bis zum Verfassungsgericht. Wir werden alle demokratischen Wege bestreiten und versuchen unsere wichtige Arbeit weiterzuführen wie die letzten 33 Jahre auch.
Was steht denn momentan an Arbeit an?
Mehmet Alparslan Çelebi: Das wichtigste Thema ist momentan die Imamausbildung. Wir haben einen Generationswechsel. Unser Anspruch ist, dass Moscheen für alle offen sind. Wir wollen einen deutschsprachigen Islam etablieren und unser Imame langfristig in Deutschland ausbilden.
Für uns gibt es nichts besseres als Imame, die in Deutschland geboren, hier groß geworden, sozialisiert und der deutschen Sprache perfekt mächtig sind. Wir wollen Imame, die ihren kulturellen Background mitbringen, aber auch in der deutschen Realität verwurzelt sind. Ich denke alle Verbände haben den selben Wunsch. Diese Imame sind gegenwärtig leider Mangelware.
Die zweite große Baustelle ist immer noch die Anerkennung als Religionsgemeinschaft auf den verschiedenen Ebene. Damit kommen dann andere Sachen, die zu den Privilegien von Religionsgemeinschaften gehören wie bekenntnisorientierter islamischer Religionsunterricht. Durch die Kriminalisierung der Verbände ist auch das ins Stocken geraten.
Bis auf die Ahmadiyya ist nach wie vor kein muslimischer Verband in irgendeinem Bundesland anerkannt. Keiner der vier großen Verbände ist als Religionsgemeinschaft anerkannt, obwohl sie bestimmt 90 Prozent der Moscheen vertreten. Das ist im europäischen Vergleich schon sehr beschämend.
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Sie im jetzigen politischen Klima dabei Fortschritte werden machen können? Sagen wir: auf einer Skala von 1 bis 10.
Mehmet Alparslan Çelebi: [lacht]. Also wenn wir den Trend von heute fortschreiben, dann vielleicht eine drei. Der Trend ist schon sehr negativ. Das betrifft ja nicht nur Muslime: Wir haben den Aufschwung rechter Parteien.
Heute können Sachen gesagt werden, die vor 15 Jahren niemals hätten gesagt werden können. Wir haben rechtsextreme Anschläge und Angriffe auf Religionsstätten und Flüchtlingsheime. Trotzdem liegt das Hauptaugenmerk der Sicherheitsbehörden auf muslimischen Organisationen. Das bereitet einem schon Sorge.

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