Sind Deutschland und die EU Vasallen der USA?

Die These wird von der EU als russische Propaganda zurückgewiesen. Wie aber steht es um Abhängigkeiten? Und wie gehen Medien mit dem Vorwurf um? Ein Essay.

Aber nicht doch, mag man bei der Überschrift dieses Beitrags denken. Diese seit Jahren immer wieder aufkommende Meinung ist offiziell falsch. Seit 2015 arbeitet das "Strategische Kommunikationsteam Ost" des Europäischen Auswärtigen Dienstes daran, Falschmeldungen der russischen Propaganda richtigzustellen und die korrekten Fakten in Osteuropa und Russland in den Medien zu verbreiten sowie für entsprechende EU-Aktivitäten zu werben.

Unter dem Namen "EUvsDisinformation" hatte das Team bereits am 9. September 2016 klargestellt, dass die EU keineswegs ein Vasall der USA ist. Richtig sei vielmehr, dass die USA für die überlebenswichtige Stabilität und Sicherheit in Europa gesorgt hätten, die Mitgliedsstaaten aber souverän über ihre Sicherheit entscheiden und die Präsenz von Nato oder US-Truppen nur auf der Basis von Konsens und klaren Stationierungsanforderungen möglich sind.

Friedensbewegte in Deutschland oder die Kampagne "Stopp Air Base Ramstein" sehen das anders, sind aber in den Medien marginalisiert. Die EUvsDisinfo-Database enthält mehr als 15.000 Beispiele für irreführende russische Propaganda, ein wöchentlicher Newsletter kann abonniert werden.

Trotzdem kommen in alternativen Medien oder von Politikern wie Oskar Lafontaine und Jürgen Todenhöfer oder auch in den Leserbriefspalten der deutschen Leitmedien immer wieder Hinweise auf die Vasallen-Theorie hoch.

Gelegentlich kommt sie sogar in der anderen Richtung und dann auch in den Leitmedien vor. Am 29. Juli 2023 zitierte Zeit Online den CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder mit der Aussage, mit der AfD würde Deutschland zu einem "Vasallenstaat von Putin und Moskau".

Vermutlich glauben aber deutlich mehr Deutsche an die US-Vasallenschaft als an eine mögliche russische. Aber eigentlich wollen wir doch, zumindest in der EU, Herr unseres Schicksals sein und keine Vasallen.

Die mittelalterlichen Vasallen bekamen vom König oder Kaiser für ihre Beteiligung an deren Kriegen wenigstens einen Adelstitel und Land. Heute bleibt Deutschland für die indirekte Beteiligung am Ukraine-Krieg weitgehend auf den Kosten sitzen, die sich inzwischen, inklusive der EU-Umlagen, auf achtzehn Milliarden Euro belaufen sollen – und weiter steigen.

Mehr Blindgänger als Bombe in Deutschland?

In Anbetracht der alternativen Unkenrufe zur Vasallen-Theorie hat der European Council on Foreign Relations am 4. April 2023 eine ausführliche wissenschaftliche Analyse dazu veröffentlicht. Mit dem provokanten Titel "Die Kunst, sich Vasallen heranzuziehen" geben Forschungsdirektor Jeremy Shapiro und Jana Puglierin, die Leiterin des Berliner ECFR-Büros, eine Bestandsaufnahme der transatlantischen Beziehungen.

Dieser fundierte Diskussionsbeitrag hätte eigentlich wie eine Bombe in die deutsche Medienwelt einschlagen können, weil uns schließlich unsere Souveränität, auch im EU-Verband, immer noch etwas wert ist. Man kann aber lange bei Google oder Bing suchen, offenbar hat der 21 Seiten starke Bericht in den deutschen Medien nicht viel Staub aufgewirbelt.

Aber ausgerechnet die Orinoco Tribune aus Venezuela berichtet am 29. Juni 2023 mit einem leicht genüsslich klingenden Unterton, wie der ECFR-Artikel bestätigt, dass die EU nun endgültig ein Vasall der USA ist. Und am 31. Juli 2023 kommentiert die belgische The Brussels Times unter einem Foto, wie Präsident Joe Biden und Kommissionschefin Ursula von der Leyen sich im Oval Office herzig in die Augen schauen, die entscheidenden politischen Punkte des Papiers.

Wirklich Vasallen? Die Thesen des ECFR

Der Artikel ist provokativ formuliert, und das offensichtlich mit Absicht. Denn die Spitzenpolitiker haben sich seit Jahren nicht auf eine gemeinsame Linie einigen können, wie Europa außen- und sicherheitspolitisch eigenständiger werden und weltpolitisch an Gewicht gewinnen könnte.

Vorstöße des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in dieser Richtung wurden gerade in Deutschland nicht ernst genommen, wo Kritik an der Führungsrolle der USA schnell als linker oder rechter Antiamerikanismus abgetan wird.

Die Kernthese des ECFR-Papiers ist nicht nur die starke Zunahme der Abhängigkeit von den USA durch den Ukrainekrieg, sondern vor allem ihre Akzeptanz durch die Politik. Akzeptanz und geradezu Unterwerfung unter die US-amerikanische Führung trotz der eklatanten wirtschaftlichen Nachteile für Europa, angefangen beim Abschneiden vom günstigen russischen Gas und Öl und längst noch nicht am Ende durch zahllose weitere Sanktionen.

Vor allem Präsident Bidens "Inflation Reduction Act" von 2022 und seine enormen Subventionsströme sind offen protektionistisch und geeignet, die europäische Wirtschaft zu schädigen. Die Alarmsignale von deutschen Unternehmern und zahlreiche Firmenverlegungen ins Ausland bestätigen die Gefahr einer schleichenden Deindustrialisierung. Die Folgen spürt aber auch die Bevölkerung ganz unmittelbar durch inflationäre Energie- und Lebensmittelpreise und eine sichtbar steigende Armut.

Besonders deutlich wird der Bericht in den Abschnitten zu Deutschland. Die Bundeswehr sei weit davon entfernt, ein Sicherheits- und Stabilitätsanker in Europa zu sein, obwohl der Bundeskanzler immer noch über die Zeitenwende und eine europäische Eigenständigkeit spreche.

De facto hätten sich aber Olaf Scholz und die SPD, die früher eher US-kritisch war, in der aktuellen transatlantischen Arbeitsteilung besonders gemütlich eingerichtet.

Erschwerend komme hinzu, dass die Osteuropäer mit ihrer historischen Russland-Erfahrung zunehmend misstrauisch gegenüber Deutschland und Frankreich würden und mehr der aggressiveren britischen Haltung im Ukrainekonflikt zuneigen.

Da sie wissen, wie die Russen denken und reagieren, fordern sie vehement eine stärkere Truppenpräsenz der USA und der Nato.

Im Unterschied zur Zeit des Kalten Krieges, so das Papier, als die USA Europa wirtschaftlich gegen die Sowjetunion aufgebaut haben, nutzen die USA nun ihre militärische Führungsrolle zum eigenen wirtschaftlichen Nutzen und auf Kosten Europas.

So kritisch die Analyse insgesamt ist, so alarmierend ist eine Bemerkung von Forschungsdirektor Jeremy Shapiro in einem Interview mit der belgischen The Brussels Times, in dem er zu den Reaktionen auf das Papier befragt wurde.

Das Wort Vasallenstaat, meinte Shapiro, hätte vielerlei Kritik ausgelöst. Er hätte aber den Verdacht, dass nicht wenige europäische Mandatsträger bereits einer "Meta-Vasallisierung" erlegen seien. Sie seien bereits so intensiv Vasallen der USA, dass sie es nicht wahrhaben wollen. Denn wenn sie es zugäben, würden die Bürger es auch erkennen, und "das wäre doch schrecklich."

Der European Council on Foreign Relations, 2007 nach dem Vorbild des US-amerikanischen Council on Foreign Relations gegründet, unterhält Büros in Berlin, London, Madrid, Paris, Rom, Sofia und Warschau. Als zentraler europazentrierter Thinktank beschäftigt er rund achtzig Mitarbeiter. Vorsitzende des Vorstands sind zurzeit der ehemalige schwedische Ministerpräsident Carl Bildt, die ehemalige dänische Klima- und Energieministerin Lykke Friis und der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen.

Als Nichtregierungsorganisation (private and not-for-profit) organisiert, wird der ECFR zu mehr als der Hälfte von Stiftungen finanziert, bereits seit der Gründung von Soros' Open Society Foundation und anderen, zu einem Drittel von Regierungszuwendungen und dem Rest durch Firmen und private Spender. Eine Liste aller Spender (mit einigen Überraschungen) findet sich auf der Webseite.