Sind Faktenchecks die neuen Blockwarte der Republik?
Faktenchecks als Zensur? Der Philosoph Michael Andrick warnt vor Einengung des Diskurses. Er sieht die offene Gesellschaft in Gefahr. Doch wie begründet er das?
Der Philosoph Michael Andrick wirbt für Toleranz und eine angstfreie Debattenkultur, kommt aber dabei zu der Erkenntnis, dass sich die offene Gesellschaft des Westens mehr und mehr schließt.
In seinen Büchern, Essays und Kolumnen schreibt er gegen diese Entwicklung an. Und dabei schafft er, was wenigen gelingt: Er wird in sogenannten Mainstream-Medien ebenso veröffentlicht wie in alternativen Redaktionen. Fernab dieser beiden Kategorien schrieb Andrick auch mehrfach für Telepolis. Im Mai erscheint im Verlag Karl Alber sein neuer Band "Ich bin nicht dabei – Denkzettel für einen freien Geist", der eine Zusammenschau seines Denkens in Essays und Aphorismen bietet.
Dietmar Ringel hat mit Michael Andrick gesprochen.
▶ Sie beklagen eine Verengung der Debattenkultur, aber Sie liefern selbst den Beweis, dass offene Debatten möglich sind. Wie passt das zusammen?
Michael Andrick: Das passt sehr gut zusammen. Wenn man eine philosophische Argumentationsweise wählt, wie ich das tue, dann kann man tatsächlich über Diskursgräben hinweg noch präsent bleiben.
Allerdings ist das nicht jedermanns Sache. Es sind nicht alle Schreib- und Leseprofis. Und im Alltag wissen wir, dass der Diskursraum als sehr beengt und angstbelastet erlebt wird. Ich erinnere nur an die einschlägigen Umfragen.
Man findet in allen westlichen Staaten, aber allen voran Deutschland, mittlerweile eine Bevölkerungsmehrheit, die der Meinung ist, dass es ein echtes soziales Risiko darstellt, seine politische Meinung frei zu äußern. Und ich versuche immer sehr argumentativ vorzugehen und lasse eine geradezu klinische Vorsicht walten, nicht polemisch zu werden. Das gelingt mir auch nicht immer, aber meistens.
Und ich glaube, das erlaubt es mir, vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis zu den Nachdenkseiten im Gespräch zu bleiben.
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▶ Was treibt Sie an, sich immer wieder in heikle Debatten hineinzustürzen?
Michael Andrick: Ich bin Vater von drei Töchtern und möchte, dass sie mit dem Vorbild aufwachsen, dass man das, was einen bewegt, auch ausspricht. Dass man klar und deutlich ist und auch klare Urteile fällt, wenn man Unrecht sieht. Und ich möchte auch in der breiteren Gesellschaft zum offenen Streit ermutigen, denn so ein angstbesetztes Diskussionsklima entsteht doch dadurch, dass in tausend kleinen Situationen viele Leute lieber den Mund halten.
Deswegen mache ich möglichst öffentlichkeitswirksam zu den kritischen Fragen der Zeit den Mund auf, aber eben nach Möglichkeit ohne moralisierend andere Leute mit abweichenden Positionen abzuwerten. Denn das ist leider der Standard heute.
Wir haben Spitzenpolitiker, die pauschal ganze Bevölkerungsteile "unvernünftig" und "unsolidarisch" nennen oder sie als "Leugner" von etwas bezeichnen, so als wäre etwa "die Wissenschaft" oder "der Klimawandel" gleichsam ein Gott, den man "leugnen" könnte. Das ist ein Absacken des Diskursniveaus, das ich nicht mitmachen will und dem ich auch entgegenwirken möchte.
▶ In einem Essay Ihres neuen Bandes schreiben Sie, Philosophen sollten schonungslose Vordenker sein, würden aber in der Praxis gern als Hofnarren gehalten. Also was fühlen Sie sich?
Michael Andrick: Bei meiner Tagesarbeit in der Wirtschaft gibt es immer Situationen, wo ich zum Vordenken herangezogen werde – und öfter geht es dann doch so weiter, wie man es kannte. Aber es gibt auch andere Augenblicke, wo wirklich auch mal ein grundsätzliches Neudenken gefragt ist und auch praktisch umgesetzt wird.
In der Wirtschaft müssen neue Produkte und Dienstleistungen entwickelt werden, für die Menschen Geld bezahlen wollen. Und man muss auch die Dinge, die man schon beherrscht, beständig immer effizienter tun, um einen Kostenvorteil gegenüber den Wettbewerbern zu erringen. Und da ist ein radikales Neudenken von Zusammenhängen, wie man das als Philosoph übt und hoffentlich auch beherrscht, durchaus produktiv. In der Gesellschaft kann ich als einzelner Publizist immer nur bei einzelnen Themen mal Neues in die Debatte werfen.
Ein wenig gelungen ist mir das, glaube ich, bei der Thematik der Faktenchecker. Dort habe ich mit einer Reihe von viel diskutierten Aufsätzen geholfen, einen etwas kritischeren Geist in die Republik zu tragen. Ein anderer Fall war die Kolumne "War dies möglich, so ist alles möglich", die 2022 die erste offizielle Zeitungsdebatte zur Corona-Maßnahmen-Politik in der Berliner Zeitung losgetreten hat. Da habe ich den Diskursraum mal tatsächlich kritisch erweitert. Damit kann ich dann abends gut schlafen.
▶ Ich greife dieses Stichwort gleich mal auf. Sie legen sich mit der, wie Sie es nennen, weitverbreiteten "Faktencheckerei" auch im neuen Buch heftig an. Sie sagen, das sei ein Instrument zur autoritären Einengung des Diskussionsraums, und zwar zugunsten organisierter Interessen. Aber muss man sich nicht anlegen mit Leuten, die Falschaussagen verbreiten?
Michael Andrick: Das können sie tun. Ein guter Journalist wird immer die Tatsachenbehauptungen, die er in seinen Texten aufstellt, prüfen. Ich tue das in geradezu penibler Art und Weise. Wo man doch aber sehr vorsichtig werden muss, ist, wenn man Agenturen hat, die gar nichts anderes tun, als journalistische Erzeugnisse zu überprüfen und diese zu kritisieren.
Denn dann muss man natürlich fragen, von wem diese Leute bezahlt werden. Die schreiben keine Artikel, die irgendeinem Medium Umsatz bringen, sondern die schreiben eigentlich nur Meta-Artikel, die über die journalistischen Erzeugnisse anderer Leute ein Urteil aussprechen.
Und da ist doch ganz klar: Wenn sie von Milliardärsstiftungen bezahlt werden, wenn sie Anschubfinanzierungen von der Bundesregierung bekommen, wie das bei mehreren Faktenchecker-Organisationen der Fall ist, dann werden sie ihre Faktenprüfung darauf konzentrieren, was die Bundesregierung gerne mal besonders kritisch geprüft hätte. Jede andere Annahme widerspricht jeder Lebenserfahrung –"Wes Brot ich ess', des Lied ich sing."
Und so kann man das auch an prominenten Beispielen sehr genau nachvollziehen. Ich empfehle da zum Beispiel einen ganz exzellenten Artikel aus dem Multipolar-Magazin, wo man sehen kann, wie innerhalb von 48 Stunden ein hoch reputabler Politiker wie Wolfgang Wodarg zu Beginn der sogenannten Corona-Pandemie, also der Corona-Maßnahmen-Krise, mit sechs oder sieben fast gleichlautenden, teils inhaltlich unsinnigen Faktenchecks zu einer Unperson gestempelt wurde.
▶ Sie haben gerade gesagt, "Wes Brot ich ess‘, das Lied ich sing"; da geht es darum, wer die Faktenchecker bezahlt. Aber halten Sie das Faktenchecken an sich auch für kritikwürdig?
Michael Andrick: Es ist nicht kritikwürdig, aber doch erläuterungsbedürftig. Schauen wir uns mal den Begriff des Faktums näher an, wie ich das auch in meinem Buch tue. "Faktum" kommt vom Lateinischen "facere" – etwas tun oder herstellen. Man muss also fragen, was sind denn eigentlich die Faktoren, die in ein solches Faktum eingehen? Eine gute Definition ist: Ein Faktum ist eine im Diskurs der Gesellschaft als wahr benutzte Aussage.
Ein Beispiel: In einem Dorf, vielleicht im Mittleren Osten, ereignet sich eine Explosion, die von zwei Journalisten beobachtet wird. Dann mag der eine Journalist mit seinen Vorkenntnissen sagen, ein Terroranschlag habe das Dorf erschüttert. Der andere Journalist verfügt vielleicht über andere Informationen und hat Grund zu der Annahme, dass eine ausländische Macht das Dorf beschossen hat. Der wird vielleicht sagen, ein Drohnenschlag der US-Amerikaner oder der Chinesen habe das Dorf verwüstet.
Das sind beides Tatsachenbehauptungen, die auf Beobachtungen vor Ort und der Beurteilung der dortigen Umstände mittels bestimmter Begriffe beruhen. Und das sind die beiden Faktoren eines Faktums. Auf der einen Seite die Umstände und Gegebenheiten, die wir in der Welt haben, und zum anderen die Beurteilung dieser Umstände. Diese beiden Dinge gehen in ein Faktum ein.
Und deswegen ist es zwar populär, Donald Trumps Äußerung über "alternative Fakten" als Schwachsinn zu bezeichnen. Aber in diesem Fall hatte Trump recht. Natürlich kann es alternative Fakten geben, wie ich das gerade in dem Beispiel erläutert habe. Die Frage ist, welche Tatsachenbehauptung sich im Diskurs als die Wahrheit durchsetzt, die wir dann als anerkanntes Faktum weiterverwenden.
Aber häufig gibt es eben konkurrierende Tatsachenbehauptungen. Und der Weg zur Erkenntnis führt immer über den kritischen Diskurs, wo unterschiedliche Beurteilungen derselben Umstände und Gegebenheiten miteinander in den Austausch gehen und sich am Ende die überzeugendere Version durchsetzt. Erkenntnistheoretisch ist es klar, dass im Prinzip jedes Faktum entweder bei den Gegebenheiten, die ihm angeblich zugrunde liegen, oder bei deren begrifflicher Einordnung als Dieses-oder-Jenes angezweifelt werden kann. Genau das ist der Erkenntnisprozess selbst.
Und nach diesem Exkurs muss es einem doch auffallen:Wenn es eine Agentur gibt, die sagt, was angeblich die wahren Fakten sein sollen, dann tritt diese Agentur einfach als Wahrheitsschiedsstelle auf. Und so etwas gibt es in liberalen Gesellschaften nicht.
In offenen Gesellschaften gibt es nur den freien Diskurs informierter Bürger. Und aus dem geht das hervor, was wir als Wahrheit zu akzeptieren bereit sind. Die Frage nach Gott und den ewigen Wahrheiten haben wir glücklicherweise vor 500 Jahren gelernt, aus der Politik auszuklammern.
▶ Ich greife noch ein paar andere Überlegungen auf, die Sie in verschiedenen Texten des Bandes anstellen und die ich spannend finde. Zum Beispiel schreiben Sie, viele mutige Menschen seien kein gutes Zeichen für den Zustand einer Gesellschaft. Da fragt man sich natürlich, warum denn nicht?
Michael Andrick: Ich habe mir tatsächlich mal in einem Essay für eine Zeitschrift für Organisationsentwicklung darüber Gedanken gemacht. Ich wurde gefragt, wie mutig man in Organisationen sein müsse, die verändert werden, wo etwa Umstrukturierungen passieren.
Dabei ist mir aufgefallen, dass Mut ein Spiegel der Verhältnisse ist. Wo ich Mut haben muss, um etwas zu tun, bedeutet das, dass das, was ich da tue, nicht alltäglich ist und auch nicht als risikofrei betrachtet wird. Erfordert es insbesondere Mut, zu politischen Fragen seine Meinung zu sagen, dann deutet das darauf hin, dass das Diskursklima von Angst und Bedenken besetzt ist, wie wir das ja vorhin schon angesprochen haben.
Und in dem Sinne ist eine Gesellschaft, in der es heißt: "Mutig sagt er seine Meinung", darauf hin zu befragen, warum eigentlich Mut nötig sein sollte, um in einer Demokratie seine Meinung zu sagen. Mut ist gut, aber ständig mutig sein müssen ist ein bedenkliches Symptom für eine Gesellschaft.
▶ Da schließt sich gleich die nächste Frage an, in der es um Hierarchien geht. Hierarchie nennen Sie "die Architektur der Furcht". Und da stellt sich natürlich die Frage, ob die Unterteilung in Menschen, die mehr oder weniger Befugnisse haben als andere, schon etwas Schlechtes ist. Geht es auch ohne Hierarchien? Sind Sie gar ein Anarchist?
Michael Andrick: Es ist doch erst mal ganz erstaunlich, dass wir überhaupt in Hierarchien leben. Denn spätestens mit der Französischen Revolution ist die folgende These Allgemeingut geworden, jedenfalls in der westlichen Welt: Im Prinzip sind alle Menschen gleichberechtigt. Alle Menschen haben die gleiche Vernunft und können deshalb in einem offenen Austausch darüber befinden, was für sie alle gelten soll. Das ist die Grundidee der modernen Politik.
Und die große Ironie, geradezu ein Treppenwitz der Geschichte, besteht jetzt darin, dass Regierungen, Gerichte, Verwaltungen, die Armee, also alle Institutionen des Staates, der uns diese Rechtsgleichheit garantieren soll, hierarchisch organisiert sind. Aber was ist eine Hierarchie?
Eine Hierarchie ist eine Abschichtung von Willkürrechten. Wenn Sie der Chef einer großen Organisation sind, können Sie in einem gewissen Umfang Entscheidungen treffen, die kein anderer in der Organisation treffen kann, die alle anderen in der Organisation betreffen und einen echten Einfluss auf deren Wohlbefinden haben – auf die Arbeitsumgebung, die Aussichten im Berufsleben, im Leben allgemein und so weiter. Und je tiefer und je komplexer eine Hierarchie ist, desto mehr solcher kleinen Willkürfürsten haben sie dort sitzen.
▶ Aber – geht es denn auch ohne das alles? Muss nicht jemand eine Ansage machen? Sonst ist das doch ein wilder Haufen, der vor sich hin wurschtelt und nichts zustande bringt...
Michael Andrick: … da haben sie jetzt wunderbar genau die Annahme ausgesprochen, die in unserer Kultur immer noch fortlebt: Wo etwas funktionieren soll, muss doch einer das Sagen haben, muss es doch Hierarchie geben. Ich will Ihnen ein alternatives Modell erklären.
Stellen Sie sich vor, Sie wären der Chef Ihres eigenen Senders. Dann könnten Sie jetzt entweder viele Kästchen aufmalen und alle Ihre Mitarbeiter in Untergebenenverhältnisse einbinden; oder Sie könnten anders rangehen. Sie können sagen: Liebe Leute, meine Vision für diesen Sender lautet "Wir sind ein kritisches Medium in der Mitte des Diskurses, aber mit Schlenkern nach konservativ und nach links".
Dann fragen Sie in die Runde, wer eine Zielrichtung für die Wirtschaftsredaktion formulieren möchte, die der Umsetzung dieser Vision dienen könnte. Und dann lassen Sie das die Gruppe der Redakteure selbst machen. Da haben sie fast überhaupt keine autoritären Ansagen. Mit einer klaren konzeptionellen Leitvorgabe folgen die Leute ihren eigenen besten Einsichten und gehen in einen offenen Diskurs.
Das ergibt dann übrigens Teams, die echte Höchstleistungen bringen, auch in der Wirtschaft. Am besten sind flache Organisationen, wo Netzwerke aus Teams miteinander arbeiten, die jeweils selbstbestimmt agieren können in einem klaren strategischen Rahmen.
▶ Sie beklagen in Ihrem Buch "moralische Säuberungsrituale" beim Umgang mit der Geschichte – zum Beispiel mit Büchern oder Filmen aus früheren Jahren. Warum halten Sie das für gefährlich?
Michael Andrick: Ich bin in der Tat schockiert, dass so etwas wie eine rückblickende Zensur von Kulturgütern wieder um sich greift. Wer mal den Schrecken dieser Praxis nachlesen möchte, dem empfehle ich Wolfgang Leonhards Buch "Die Revolution entlässt ihre Kinder".
Leonhard war Mitglied der Gruppe Ulbricht, die nach dem Krieg in Ostdeutschland gelandet ist und dort die SED-Strukturen mitaufgebaut hat. Er berichtet von seiner Zeit in einem Komintern-Internat, wo er in der Bibliothek Bücher aus dem Schrank zieht und merkt, dass bei diesen und jenen klassischen Autoren bestimmte Passagen geschwärzt sind.
Man muss sich klarmachen: Wenn ich nach meinen heutigen Begriffen von moralischer Richtigkeit, von Gerechtigkeit, von Empfindlichkeit rückblickend die Erzeugnisse der Kulturgeschichte auf meine Wertvorstellungen hin korrigiere, dann mache ich damit zwei Dinge. Erstens drücke ich aus, dass mein moralischer, sittlicher Standpunkt das Nonplusultra der Menschheitsgeschichte ist.
Also, moralischer Fortschritt wäre nach Michael Andricks Lebzeit nicht mehr möglich, und deswegen darf Michael Andrick jetzt Leo Tolstois Geschichtstheorie in "Krieg und Frieden" redigieren und einzelne Worte bei Astrid Lindgren austauschen und so weiter. Wenn ich das so etwas satirisch sage, merkt man sofort, was für eine lachhafte Hybris das ist.
Will wirklich ein Sensitivity-Reader in einem deutschen Verlag sagen, dass er Aristoteles zu korrigieren hat? Dass er also von Aristoteles mit Sicherheit nichts zu lernen hätte, über Ethik zum Beispiel? Wirklich? Ist das so? Ich lasse das so stehen, denn man muss nicht alles argumentieren. Diese Hybris ist der eine Aspekt.
Es gibt einen zweiten Aspekt, der für mich tief deprimierend ist, weswegen Sie auch eine drastischere Rhetorik und deutlichere Worte dazu in meinen Texten finden. Ich nenne den entsprechenden Text in meinem Buch "Die Abschaffung des anderen". Mit dieser "Kulturredaktion im Rückblick" macht man sich selbst blind. Nehmen wir das folgendes Beispiel: Um die Wende zum 21. Jahrhundert waren Werke über genetische Auswahl, also Eugenik, weitverbreitet.
Lange Zeit gab es eine große Debatte in der Medizin, dass man Menschen nach positiven Eigenschaften selektieren könnte. Es galt ein völlig unsinniger, biologisch verstandener Rassebegriff als Goldstandard der Wissenschaften.
Stellen Sie sich mal vor, jemand geht zurück in die Geschichte und löscht diesen biologisch verstandenen Rassebegriff aus den Texten heraus, die, sagen wir, bis vor 1930 dazu erschienen sind – weil er heute weiß, dass so ein biologistischer Rassebegriff unter anderem den Nazis zur Begründung von Vernichtungsprogrammen gedient hat.
Damit würden wir uns blind machen für diesen biologistischen Rassebegriff. Wir würden ihn nicht mehr erkennen können aus unserem kulturellen Gedächtnis, wenn ein Barbar ihn nochmal aufbringen wollte. Man macht sich das vielleicht nicht klar: Aber wenn wir die Zeugnisse der Verirrungen, aber auch der Einsichten der Vergangenheit nach unseren heutigen Maßstäben korrigieren und redigieren, dann schmälern wir die Grundlage der Kreativität unseres Denkens, und wir verlieren auch die Möglichkeit, krasse Fehlentwicklungen in Politik und Gesellschaft anhand von historischen Beispielen zu erkennen und aus der Vergangenheit zu lernen.
Das ist geradezu paradox: Man will durch Sprachkorrektur und durch semantische Säuberungen der Gerechtigkeit dienen und macht sich blind für das Entstehen neuer Ungerechtigkeiten.
▶ Sie ziehen ein ziemlich drastisches Fazit. Sie sagen nämlich, das, was sie gerade beschrieben haben, zeige, dass wir auf einer Bahn hin zum Totalitarismus seien. Ist es wirklich schon so weit? Ist die Demokratie in Deutschland, genauer gesagt, im Westen so massiv in Gefahr?
Michael Andrick: Ein totalitäres System geht immer hervor aus einem mehr oder minder freiheitlichen System. Sonst würden wir es nämlich nicht totalitär nennen. Wir nennen es totalitär, weil es in jeden Winkel der Lebensgestaltung eingreift. Und deshalb wehre ich mich entschieden dagegen, dass man meine sehr argumentativen Schriften – wie einzelne Journalisten es getan haben – als so eine Art Panikmache und Diffamierung des Status quo der Bundesrepublik versteht.
Ich weise in diesem Fall als hoffentlich kühler Analytiker einfach auf konkrete Tatbestände hin, z. B. aus dem jüngsten Koalitionsvertrag: Wenn in einem Staat Kontrollinstrumente etabliert werden wie eine digitale Bürger-ID, um die herum sich ein "Ökosystem von Dienstleistungen" bilden soll, dann bedeutet das im Umkehrschluss, dass künftig auf Regierungsservern, verbunden mit einer Nummer, die nur mir gehört, eine ganze Menge Information über mich zentral auswertbar sind.
Und die Tendenz zur Ausweitung können wir nun sehen. Die elektronische Patientenakte, deren Einrichtung ich gerade noch widersprochen habe, wird nun im Jahr 2025 verpflichtend gemacht. Sobald eine Möglichkeit zur digitalen Modellierung des Verhaltens der Bürger geschaffen wird, muss man sich fragen, wer eine solche Modellierung wozu nutzen könnte. Und dasselbe gilt auch in allen anderen Bereichen des Lebens.
Wenn ich zum Beispiel in politischen Diskussionen höre, dass es angeblich politische Ziele geben soll, denen kein vernünftiger und guter Mensch mehr widersprechen darf, dann sage ich: Nein! Es darf kein politisches Ziel geben, dem ich nicht widersprechen kann. Wenn ich der Meinung bin, dass der menschengemachte Klimawandel eine vernachlässigbare Lachnummer ist, im Vergleich dazu, was andere Faktoren bewirken, dann muss ich dies frei und offen sagen können.
Denn wenn ich das nicht mehr sagen kann, und wenn es sogar rechtlich nicht mehr zulässig ist, das zu behaupten, dann haben wir faktisch eine Zensur des Meinungsraums, und wir haben dann auch ausgeschlossen, in dieser Frage noch etwas dazuzulernen. Und das ist dann ein totaler Anspruch und in der Sache immer eine Ideologie.
Man kann in unserem Land sehen, wohin das führen kann. Um den deutschen Anteil von 1,4 Prozent am weltweiten CO2-Ausstoß abzusenken, nehmen wir in Deutschland einen Strompreis in Kauf, der sieben bis achtmal so hoch ist wie andernorts in der Welt und der seit Beginn der sogenannten Energiewende dazu geführt hat, dass die industrielle Wertschöpfung in Deutschland sinkt und die Basis des Wohlstands schwindet.
Das ist eine im internationalen Vergleich nur noch extremistisch und ideologisch-dogmatisch zu nennende Politik. Und eine solche Politik wird nur möglich in einem Meinungsraum, wo faktisch bestimmte Aussagen als unwidersprechlich gesetzt werden.
Insbesondere die pauschale Aussage, wir, die Deutschen, müssen etwas gegen den Klimawandel tun. Wo das nicht mehr bestritten werden kann, und man gewissermaßen als Krimineller bezeichnet wird, wenn man so etwas infrage stellt, da ist da eindeutig ein totalitärer Anspruch der Herrschenden erkennbar. Wir könnten dasselbe Gespräch über die angebliche Solidarität zum Lebensschutz während der Corona-Maßnahmen-Krise führen. Da hatten wir genau analoge Diskurspraktiken, und das ist höchst bedenklich.
Regierungen schaffen sich mithilfe der Digitaltechnik gerade Herrschaftswerkzeuge, die einen immer genaueren, immer tieferen Eingriff in das bürgerliche Leben ermöglichen. Und da müssen wir aufpassen, dass sich nicht ein Regime formiert, was man gar nicht hat kommen sehen.
▶ Ich will ein letztes Stichwort aufgreifen, das in Ihrem Buch eine Rolle spielt: Brandmauern in der Politik, die Sie ablehnen. In der Praxis geht es ja um den Umgang mit der AfD. Was spricht aus ihrer Sicht gegen Brandmauern, wenn man sich mit bestimmten politischen Kräften nicht einlassen will?
Michael Andrick: Mehrere Dinge. Zum einen verstehe ich Politik als den Prozess des Interessenausgleichs unter Gleichberechtigten. Das ist mir ganz wichtig.
Neulich hatte ich eine Einladung nach Sachsen-Anhalt von einem Pfarrer, der sich mit allen lokal vertretenen Parteien inklusive der AfD zusammengetan hatte, um mich zu einem Gespräch über die Diskussionskultur in Deutschland einzuladen. In der sehr lebendigen Debatte sagte eine Dame, man solle sich vorstellen, die AfD werde in eine Koalitionsregierung einbezogen.
Weil es "ein bisschen regieren" nicht gebe, hieße das, die AfD als rechte Partei regiere dann das Land. Ich habe dem widersprochen und gesagt, dass es natürlich "ein bisschen regieren" gibt. Nehmen wir mal an, die CDU hätte nach der Bundestagswahl mit der AfD eine Koalition gebildet.
Dann wären mit Sicherheit zwei Dinge passiert: Politiker, die sich in der Vergangenheit mit punktuell rechtsradikaler Rhetorik hervorgetan haben, würden am Kabinettstisch keine Rolle spielen. Positionen, die von den Parteien der älteren Garde, also Union, SPD, Grünen, FDP, als extremistisch bewertet werden, würden natürlich nicht in einem Koalitionsvertrag zur Politik des Landes werden.
Dafür würde in manchen Politikfeldern eine viel klarere Politikveränderung stattfinden als wir das heute sehen. Das wäre ein Prozess des Interessenausgleichs und nicht das Ende des Abendlandes.
▶ Es gibt aber auch eine andere Theorie: Die Rechtsextremen, wenn sie erst einmal dabei sind, erobern Stück für Stück die Macht und schaffen dann die Demokratie ab. Auch das hat es schon mal gegeben …
Michael Andrick: Da wollen wir jetzt mal ganz vorsichtig sein und Schritt für Schritt nachdenken. Erst mal ist die Definition dessen, was als extremistisch gilt, in Deutschland Sache von 17 Inlandsgeheimdiensten, die es in dieser Form ähnlich überhaupt nur in Österreich gibt. Und diese Inlandsgeheimdienste, also der Verfassungsschutz, haben Präsidenten in jedem Bundesland. Diese Präsidenten werden von den Innenministern der Länder ernannt.
Die Innenminister der Länder gehören, wie Sie wissen, nicht der AfD an. Die gehören der SPD, der CDU/CSU oder den Grünen an. Und die legen im Benehmen mit ihrem Verfassungsschutzpräsidenten, den sie selber ernennen und in den Ruhestand versetzen können, fest, nach welchen Kriterien beurteilt werden soll, wer extremistisch ist und wer nicht.
Ich möchte Ihnen Folgendes sagen: Wenn man auf dem Höhepunkt der Corona-Maßnahmen-Krise zum Beispiel die gnadenlose, psychisch als Folter wirkende Maskierung von Kleinkindern beschließt, dann würde ich sagen, das war eine extremistische Politik, die das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Folterverbot missachtet hat.
Trotzdem sehen wir in keinem Bundesland die Beobachtung der SPD, der Linken oder anderer Parteien, die das mitgetragen haben, als extremistische Verdachtsfälle. Jeder, der nicht naiv ist, muss wissen: Der Verfassungsschutz ist ein Instrument der Regierung zur Ausspähung der eigenen Bevölkerung und – im Verfassungsschutzgesetz ganz offiziell so geregelt – zur öffentlichen Anprangerung und Rufschädigung von solchen Gliederungen, die man als verfassungsfeindlich einstuft.
Und dann ist es immer noch richtig, dass es in der AfD menschenverachtende Äußerungen gibt und Personen, die ich tatsächlich auch für nicht repräsentationsfähig halte in politischen Ämtern.
Aber ich weiß auch, dass die Aussage von Lars Klingbeil, dass es sich bei Alice Weidel um einen Nazi handeln soll, eine Absurdität ist, die auch eine Verharmlosung der NS-Geschichte darstellt.
Ich glaube, wir müssen hier auf den Teppich zurückkommen. Wir werden als Bevölkerung nicht friedlich zusammenleben können auf die Dauer, wenn wir uns ernsthaft auf die Aussage versteifen wollen, dass 20, 25, demnächst in manchen Bundesländern vielleicht 30 Prozent der Bevölkerung neue Nazis seien. Das ist einfach so nicht wahr.
Man muss es differenziert betrachten. Und man muss meines Erachtens zur Kenntnis nehmen, dass die AfD soziologisch gesehen vor allem Modernisierungsverlierer repräsentiert. Das sind Leute, die sich bei CDU/CSU, SPD, Grünen, FDP nicht mehr repräsentiert sehen und keinesfalls nur ein rechtsradikaler Rand der Gesellschaft.
Dietmar Ringel sprach mit dem Philosophen Michael Andrick, dessen neues Buch "Ich bin nicht dabei – Denkzettel für einen freien Geist" Anfang Mai im Verlag Karl Alber erscheint.