Sind die Ungeimpften schuld?
Über Interessen und große Rätsel der Pandemie
Es gibt eine neue, diskriminierte und ausgegrenzte Minderheit im Lande. Gerade die öffentlich-rechtlichen Medien erzählen gern das Märchen von den Guten und den Bösen. Das geht in Ordnung, denn es dient der staatlichen Ordnung. In der die Atmosphäre offenbar noch nicht gereizt und unsolidarisch genug war. Nur einige couragierte Schauspieler, Wissenschaftler und wenige Autoren ergreifen dagegen Partei.
Denn wer jetzt noch widerspricht, wird immer öfter gelöscht – in den Orkus der unsozialen Medien. Die inquisitorische Stigmatisierung des Zweifels muss als Form struktureller Gewalt empfunden werden.
Die Pandemie geht vorerst zurück, aber nicht so herdenmäßig wie angekündigt. Die Gründe sind unklar, aber klar ist, wer Schuld hat: Die Ungeimpften. Dass auch Geimpfte infektiös sein können, ist tabu.
Der Deutschlandfunk (DLF), ein der Dissidenz sonst unverdächtiger Sender, fragte am 31.08.2021: "Können Geimpfte andere Menschen anstecken?" Und antwortete: "Gerade bei der Delta-Variante wirken die Impfstoffe nicht so gut. Man kann sich infizieren und das heißt, man kann auch wieder andere anstecken." Dummerweise haben wir es in Deutschland fast ausschließlich mit der Delta-Mutation zu tun.
Was nicht zu unterschätzen ist und für die Impfung spricht: offensichtlich schützt sie eine Zeitlang vor schweren Verläufen. Allerdings werden die "Einzelfälle", bei denen diese Zeit kurz ist, von Tag zu Tag mehr. Die 2-G-Experimente im Szene-Club Berghain oder in Klubs in Kreuzberg und anderen Städten haben allesamt zu beachtlichen Infektionen geführt. Auch die sich untereinander infiziert habenden Spieler vom Eishockey-Club München waren alle doppelt geimpft.
Obwohl die Wirksamkeit der restriktiven G-2-Methode als widerlegt angesehen werden kann, gehen viele Einrichtungen, darunter gern auch linke mit ihrem Zero-Covid-Trugbild, jetzt zu dieser demonstrativen Ausgrenzung über. Schließlich seien die Ungeimpften selber schuld, wenn sie sich nicht immunisieren lassen, macht der DLF in der Presseschau vom 24. Oktober seine Schlappe wieder gut.
Dabei ist die Illusion von einem zuverlässigen Schutz vor Ansteckung längst widerlegt. Und regelmäßige Booster-Auffrischungen könnten bei Veranlagung auch zu "Immunerschöpfung" führen.
Zunehmende "Impfdurchbrüche" beobachte ich auch in meinem Umfeld. Ein ganzer, durchgeimpfter Verlag ist zurzeit In Quarantäne und konnte nicht an der Messe teilnehmen. Ein jüngerer, prominenter Kollege von mir, doppelt Astrazeneca geimpft, hat sich auf einer Lesereise infiziert, diese wegen eindeutiger Symptome abgebrochen und dann seine mit Biontech doppelt geimpfte Frau angesteckt. Er sagt, er würde den Verlauf weder mit "mild" noch mit "kurz" beschreiben.
Ratlos macht selbst das weltweite Musterbeispiel für schnelles Impfen. Nochmal die nachdenkliche Sendung des DLF: "Aktuell beunruhigen in dem Zusammenhang Meldungen aus Israel. Mehr als die Hälfte der Covid-Patienten in Israels Kliniken waren vollständig geimpft."
Falls ich noch bis drei zählen kann, heißt das, in dem Land mit der etwa gleichen Impfquote wie bei uns, aber dem größeren Erfahrungsvorsprung, liegen derzeit mehr geimpfte als ungeimpfte Pandemie-Fälle in den Krankenhäusern.
Müsste man nicht zugespitzt fragen, ob von den Geimpften derzeit sogar die größere Gefahr ausgeht, weil ihnen eingeredet wurde, dass sie geschützt und für andere unbedenklich sind, also zu ihrem "normalen Leben" zurückkehren können? Während die meisten Ungeimpften von sich aus vorsichtig sind.
Ein verletzender Rechtfertigungsdruck
Für Großbritannien hieß es in besagter Sendung, dass Geimpfte andere Personen "nur halb so häufig" anstecken. Bedenklich genug, immerhin sind dort 80 Prozent doppelt geimpft. Bei uns geht angeblich nur jede zehnte Ansteckung auf einen Geimpften zurück.
Es ist, als ob das Virus mit seiner Unlogik uns spottend vor sich hertreibt. Denn unsere Impfquote ist vermutlich genauso hoch wie die britische. Aber wer weiß das schon so genau, allein das Zählen hat uns überfordert.
Die häufigsten Redewendungen der DLF-Sendung waren dann auch: "Es besteht die Hoffnung…", "… deuten alle bisherigen Erkenntnisse in Richtung …", "… ist aktuell noch nicht klar …", "… fehlen dazu ausreichend belastbare Daten.
Immerhin reichen die Daten, um an der Gefährlichkeit des Virus keinen Zweifel zu haben, um diese Krankheit durchaus nicht haben zu wollen. Um wahrzunehmen, dass derzeit vor allem jüngere Ungeimpfte auf den Intensivstationen liegen.
Über die allerdings gern verschwiegen wird, was Augenzeugen berichten, dass nämlich Betroffene mehrheitlich aus sozial benachteiligten Umfeldern kommen - starke Raucher, Alkoholabhängige, Übergewichtige, Diabetiker – jedenfalls Patienten mit angeschlagenem Immunsystem. Warum sollte auch das Kriterium der Vorerkrankung nur auf Ältere zutreffen?
Warum bin ich nicht geimpft? Es ist verletzend genug, sich für eine so persönliche Entscheidung rechtfertigen zu müssen, weil man sonst gleich in die "radikale Querdenker-Szene" entsorgt wird. Ja, ich war vor drei Jahren unmittelbar nach einer Grippeschutz-Impfung ein halbes Jahr lang mit einer schweren Bronchitis und chronisch erhöhtem Fieber sehr belastend erkrankt.
Ja, das ist vielleicht kein hinreichender Grund, Analogien zu anderen Impfungen zu vermuten. Vielleicht aber doch. Erst jetzt las ich in der Nature vom 14. Oktober 21, dass es die Veranlagung geben kann, auf Influenza-Viren "verzerrt" zu reagieren, insbesondere, wenn man einer Impfung ausgesetzt ist.
Die Fachwelt nennt das "antigene Erbsünde" und erforscht jetzt (!), ob dieses Phänomen auch bei Sars-CoV-2 auftritt. Die Reaktionen des Immunsystems seien "eines der großen Rätsel der Pandemie". Kein Grund für Hellhörigkeit?
So gibt es für verschiedene Menschen viele verschiedene Gründe für Hellhörigkeit. Etwa den, dass alle in der EU zugelassenen Impfstoffe derzeit nur eine "bedingte Zulassung" haben. Das heißt, sie haben ein beschleunigtes Verfahren durchlaufen, in dem fehlende Daten ausnahmsweise nachgereicht werden können und nicht, wie normalerweise, alle vor der Zulassung vorliegen müssen.
Das betrifft etwa das komplette Fehlen von Studien zu Langzeitfolgen. Dadurch wurden die normalen Prüfzeiten erheblich verkürzt. Die EU hat eine Experten-Taskforce gebildet, die für die Marktzulassung letztlich abwägen sollte, ob der Nutzen die Risiken überwiegt.
Aber das ist schwierig, wenn man nicht recht weiß, wie lange der Impfstoff wirkt und auch Antikörper bald nach der Krankheit zugunsten von Gedächtniszellen verschwinden. Die nicht nachweisbar sind, von denen aber zu hoffen ist, dass sie bei einer Neuinfektion Botenstoffe aussenden, die die benötigten Antikörper produzieren.
Irrationale Fokussierung auf eine Krankheit
Besonders problematisch scheint mir, dass herzlich wenig darüber bekannt ist, welchen Einfluss die durch die Impfung polarisierte Immunprogrammierung im Körper auf die Nutzen-Risiko-Relation zur Heilung der 95 Prozent aller Krankheiten hat, an denen Patienten sonst noch so sterben. Die totale Fokussierung auf eine, wenn auch ansteckende Krankheit, hat etwas Irrationales.
Ist es noch erlaubt zu fragen, ob es unter diesen Bedingungen wirklich eine gute Idee war, möglichst die gesamte Weltbevölkerung möglichst jedes Jahr durchimpfen zu wollen? Wäre die Pharmaindustrie nicht besser beauftragt gewesen, sie hätte den weitaus größten Teil der staatlichen und privaten Investitionen auf die Erforschung eines therapeutischen Medikaments konzentriert? Also besser gezielt Erleichterung und Heilung bringen - so wie mit Antibiotika gegen bakterielle Erkrankungen?
Das ist komplizierter, aber wirksame Substanzen waren bekannt und sollen vielversprechend in der Erprobungsphase sein. Von Schnellverfahren war da allerdings keine Rede. Wenn ein Heilmittel auf den Markt kommt, dann entfällt für Impfstoffe der Notfall, die Legitimation für "bedingte Zulassung".
"Alle menschlichen Verhältnisse stellen sich in den Interessen dar", habe ich einst bei Friedrich Engels gelernt. Warum sollte das gerade in diesem Fall anders sein? Die professionellen Wachhunde des Kapitals haben es verstanden, jegliches Nachdenken über Interessen als Verschwörungstheorie wegzubeißen. Genial.
Ich will abschließend nicht das inflationäre Plädoyer für Andersdenkende bemühen. Selbst der Verweis auf Marxens Lieblingsmotto: An allem ist zu zweifeln, könnte hier unterkomplex ausfallen. Zu schwierig sind die ethischen Fragen, vor denen wir stehen. Die Behauptung der Politik, es gehe beim Kampf gegen diese Pandemie um Leben oder Tod, war von Anfang an eine irreführende Anmaßung.
Die Herrschaft über den Tod ist uns nun mal nicht gegeben. Wir bleiben der Natur unterworfene Wesen. Aber je mehr künstliche Intelligenz wir kreieren, je mehr natürliche scheinen wir zu opfern. Die Hoffnung auf Erlösung ist divers, das weiß man doch seit 2000 Jahren.
Zwar hat die Zivilisation die Lebenserwartung weit über die biblische Vorhersage hinausgestreckt, aber sie hat sie mit Kriegen, Klimabelastungen, Hunger und Zivilisationskrankheiten auch wieder eingeschränkt.
Wir arbeiten bestenfalls daran, einen unwürdigen, vorzeitigen Tod zu vermeiden. Aber ist nicht jeder Tod, der etwas anderes war als das friedliche Einschlafen aus Altersschwäche, ein vorzeitiger Tod? Weil er von einer Krankheit ausgelöst wurde, die zu behandeln nicht erfolgreich oder noch nicht möglich war?
Sich fortschrittlich gebende Mitstreiter wären gut beraten, Krankheit nicht in einen Zusammenhang mit Schuld zu bringen. Impfen als Akt der gesellschaftlichen Solidarität? Von da ist es nicht weit bis zur patriotischen Pflicht. Impfen fürs Vaterland. Demokratie trägt die Versuchung zu Totalitarismus immer in sich. Die biologistische Ausgrenzung aus dem "gesunden Volkskörper" ist noch nicht so lange her.
Ich empfinde die neuerdings ausgestellte Rechnung vom Testzentrum wie einen Strafzettel vom Ordnungsamt. Zu Veranstaltungen, bei denen die Zweifler, Fragesteller und Andersdenkenden zuvor ausgesondert wurden, gehe ich allerdings sowieso nicht.
Daniela Dahn, geboren 1949 in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und arbeitete danach als Fernsehjournalistin. Seit ihrer Kündigung 1981 lebt sie als freie Autorin in Berlin. Daniela Dahn ist Gründungsmitglied des "Demokratischen Aufbruchs", Mitglied des P.E.N. seit 1991 und erhielt 1999 den Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik.
Dieser Text erschien auch in der Berliner Zeitung (€).