Sind wir kaltherzige, irrationale Klima-Ignoranten?

Am 23. Januar ist ein gewaltiger Eisberg mit einer Fläche von 1.550 km2 (etwa so groß wie die Insel Gran Canaria oder der Großraum London) vom Brunt-Schelfeis in der Antarktis gekalbt. Bild: European Union, Copernicus

Wie konnte es soweit kommen, dass wir wie die Lemminge Richtung Abgrund laufen? Haben uns fossile Lobbys und korrumpierte Politik derart fest im Griff? Warum die Chance auf eine Wende nie günstiger war als heute. Ein Kommentar.

Gestern gingen wieder viele Hunderttausend Menschen beim globalen Klimastreik auf die Straßen. Nicht nur in Deutschland, wo allein 240 Protestaktionen angemeldet wurden und die Veranstalter 220.000 Demonstrierende zählten, sondern überall auf der Welt, von Bangladesch bis Kenia.

In Deutschland stand beim Streik vor allem die Verkehrswende im Fokus. Die Allianz von Klimastreikenden mit Verdi-Warnstreikenden hält Nikolaus Piper in der Süddeutschen Zeitung jedoch für absurd. Die Forderung nach mehr Lohn für Zug- und Busfahrer:innen sei klimaschädlich: "So streiken Verdi und Fridays for Future die Verkehrswende kaputt", heißt es in der Schlagzeile.

Es scheint der SZ entgangen zu sein, dass der Autoverkehr seit Jahrzehnten Unsummen erhält und die Schiene vernachlässigt wird. Die Verkehrswende ist bis heute von der Auto- und Öl-Lobby erfolgreich blockiert worden. Die aktuelle Intervention von Verkehrsministers Wissing in Brüssel ist nur ein weiteres Beispiel für diese Verhinderungspolitik.

Infolgedessen ist der Treibhausgas-Ausstoß im Straßenverkehr über 30 Jahre nicht nur nicht gesunken, sondern angestiegen und macht einen beträchtlichen Teil der Gesamtemissionen aus. Aber klar, die Lohnforderungen von ÖPNV-Angestellten sind schuld.

Währenddessen tickt die Kohlenstoff-Uhr: Noch sechs Jahre bleiben, dann ist das Emissionsbudget für die 1,5-Grad-Obergrenze, die von Klimawissenschaften und im Pariser Klimavertrag als Maximum festgelegt wurde, aufgebraucht.

Doch statt die Emissionskurve zu stabilisieren oder gar zu senken, sind die Treibhausgase im letzten Jahr global weiter gestiegen, Deutschland hat erneut sein 2020-Klimaziel verfehlt. Die immer dichtere Folge an Klima- und Wetterkatastrophen und düsteren Prognosen scheinen für die politisch Verantwortlichen aber kein Anlass zu sein, umzudenken oder gar umzusteuern.

Vielmehr sieht es im Moment so aus, als ob wir – trotz Aufbegehrens in Teilen der Gesellschaft, vor allem innerhalb der jüngeren Generationen –, wie die Lemminge in den Abgrund laufen.

Wie konnte es so weit kommen?

Zuerst einmal: Die fossilen Industrien haben den Kurs Klimakollaps durchsetzen können und verteidigen ihn bis heute recht erfolgreich. Sie sind eine Schurkenindustrie. Sie haben ihren Einfluss, ihre ökonomische Macht, in politische Macht umgemünzt. Sie haben verheimlicht, gelogen und Propaganda gegen die Energiewende gemacht.

Versagt haben sie aber eigentlich nicht. Ihr Geschäftsmodell sind nun einmal die fossilen Rohstoffe.

Versagt hat unser politisches System: also Parteien, Parlamente, Regierungen. Politiker:innen werden ja von uns gewählt, um das Gemeinwohl zu wahren. Doch sie sind der Schurkenindustrie gefolgt.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer davon ist: Unser politisches System ist ziemlich dysfunktional und tendiert dazu, Profite über Mensch und Natur zu stellen. Ein anderer ist: Konformismus. Menschen mit Privilegien verhalten sich in Machtsystemen meist stromlinienförmig.

Versagt haben aber nicht nur Politiker:innen, versagt haben wir alle, versagt hat unser Verständnis von Politik und Demokratie. Wir sind ja nicht nur wegen der Stärke der fossilen Energiekonzerne auf Crashkurs, sondern wegen der Schwäche der Zivilgesellschaft. Wir haben versagt, die Schurken in die Schranken zu weisen und die Politik zu drängen, das Notwendige zu tun.

Es ist also, wenn wir ehrlich sind, ein gesamtgesellschaftliches Versagen.

Natürlich heißt "Wir" nicht pauschal "Alle". Das sollte man differenzieren. Eine alleinerziehende Supermarkt-Verkäuferin kann man kaum zur Verantwortung ziehen für die Katastrophenpolitik, die die "Profis" ausgehandelt haben. Sie weiß bis heute nicht, was los ist, vor allen Dingen wird sie auf sehr effiziente Weise passiv gemacht und verängstigt.

Darüber könnte man noch mehr sprechen. Am Ende hat die Verkäuferin gewählt (wenn sie überhaupt noch wählt), was auf dem Markt ist. Sie hat dabei, wie die meisten, gegen ihre Interessen stimmen müssen.

Das zeigen empirische Studien in den USA und Deutschland. Große Teile der Bevölkerung haben keinerlei Einfluss auf die Gesetzgebung, wenn die oberen Schichten, vor allem die Superreichen, dagegen sind. Egal, welche Partei regiert. Und die oberen Schichten verfolgen einen politischen Kurs, der dem der unteren meist diametral entgegengesetzt ist.

Zugleich sorgen große Teile der Massenmedien bis heute dafür, dass die zum Schweigen gebrachten Wünsche der Bevölkerung nicht zum politischen Problem werden. Auch in der Klimakrise wurde das sehr erfolgreich umgesetzt.

So war der Kurs Klimakollaps nie ein wirkliches politisches Nachrichtenthema, nie ein Thema bei Wahlkämpfen. Die Medien haben zu keiner Zeit Alarm geschlagen. Wer Klimaschutz zum Thema machte, wurde von den Meinungskommissaren abgestraft. Siehe den Wahlkampf der Grünen Ende der 90er-Jahre.

Heute will es keiner gewesen sein. Man macht sogar weiter. Bei der letzten Bundestagswahl wurde im Wahlkampf Klimapolitik mehr oder weniger ausgeblendet, trotz der Protestwellen. Wenn Klimaschutz zum Thema wurde, dann unter der Rubrik "ökonomische Belastung" und "gegen die Wohlstandinteressen der Bürger gerichtet".

Verantwortlich für die blockierte Energiewende sind vor allem die, die Meinungsmacht besitzen. Also die "klugen Köpfe", die intellektuell-politische Klasse, die oberen 20 Prozent, die gute Universitäten besucht haben. Sie koordinieren Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne der wirklich Mächtigen. Es sind Journalistinnen, Politiker und Intellektuelle, Richterinnen, Verbandsfunktionäre und Managerinnen.

Sie halten sich für liberal oder konservativ, sie sind aber meist ziemlich angepasst, wenn es hart auf hart kommt. Steigt der Druck, werden die meisten schnell zu Mitläufer:innen, Abnickern, Wegduckern. Was sie natürlich vehement zurückweisen oder mit Sachzwängen wegdiskutieren.

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