"Sitzenbleiben ist sinnlos"

Bild: Onderwijsgek/CC BY-SA-3.0 nl

Bekenntnis eines Sitzenbleibers. Oder: Wer entscheidet die Zukunft von Kindern?

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Heute muss ich eine Lanze brechen. Und zwar fürs Sitzenbleiben. Vielleicht wussten Sie es noch nicht: Sie lesen hier die Überlegungen eines überzeugten Sitzenbleibers.

Jedoch erst noch einmal einen gedanklichen Schritt zurück: Letzte Woche reiste ich zurück aus Deutschland, wo ich dem Öffentlichen Rundfunk ein Interview gegeben hatte, in die Niederlande. Im Zug war es voll. Es war ein Freitag. Und viele fuhren für ein Wochenende in Amsterdam in dieselbe Richtung.

Ich hatte mit Mühe einen Sitzplatz gefunden, da hörte ich schon das Gespräch dreier Mitreisender. Es waren junge Studienrätinnen, also Lehrerinnen, die sich über den Nutzen des Sitzenbleibens unterhielten. Eine von Ihnen, die mir schräg gegenüber saß, wiederholte mehrmals laut und deutlich: "Sitzenbleiben ist sinnlos."

Ich spürte den Drang, mich in das Gespräch einzumischen und vehement zu widersprechen; gleichzeitig war ich aber auch froh, endlich zu sitzen. Also vereinbarte ich mit mir selbst, wenigstens über das Thema zu schreiben und die Lehrerinnen in Frieden zu lassen.

Ein Milliardenschaden?

In den letzten Jahren gab es immer wieder diese Diskussionen über Kosten und Nutzen des Sitzenbleibens. Bringt das Wiederholen eines Schuljahres den Betroffenen überhaupt etwas? Zieht es womöglich die Leistung von Mitschülerinnen und -Schülern nach unten? Was kostet das Ganze überhaupt?

In den Niederlanden veröffentlichte 2015 das Büro für ökonomische Politikanalysen (wörtlich übersetzt heißt es eigentlich: "Zentrales Planungsbüro", doch das hört sich wohl zu sehr nach China an), ein Institut des Wirtschaftsministeriums, Sitzenbleiben koste die Gesellschaft jährlich 500 Millionen Euro. Auf die Bevölkerung von Deutschland hochgerechnet ginge es damit um 2,5 Milliarden! Mit Verweis auf eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2009 kursiert hierfür jedoch die Zahl von "nur" einer Milliarde.

Es ist klar, welche politischen Forderungen sich in Zeiten forcierter Ressourcenknappheit an solche Berichte anschließen: Abschaffen! In den Niederlanden sollen die betroffenen Schülerinnen und Schüler in Sommerschulen ihren Leistungsrückstand aufholen. Auch in Deutschland diskutiert man den Vorschlag, mit dem Geld lieber "Problemschüler" individuell zu fördern, als sie ein Jahr widerholen zu lassen.

Über den Hintergrund der ökonomischen Berechnungen wird sehr wenig verraten. Ich erinnere noch einmal an meine Analyse von Krankheitskosten vor nicht allzu langer Zeit (Verursachen psychisch Kranke finanziellen Schaden?): Ergebnis war, dass diese Kosten vor allem auf dem Papier existieren, beziehungsweise sich volkswirtschaftlich an anderer Stelle wieder herausmitteln.

Unerwartete Kosten

Gefährlich ist an solchen Zahlen vor allem, dass sie suggerieren, das Geld ließe sich durch eine Verwaltungsvorschrift ganz einfach sparen. Dabei wissen wir nicht im Geringsten, was es die Gesellschaft kosten würde, wenn Schülerinnen und Schüler nicht sitzen bleiben könnten - und im Zweifelsfall eben von der Schule fliegen.

Dabei kann auch ein Schulabbruch die Gemeinschaft teuer zu stehen kommen. Wenn Menschen aufgrund schlechter Qualifikation keine Arbeit finden, wenn sie sich nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen ausgegrenzt fühlen, wenn sie aufgrund fehlender Bildung für Manipulationen anfällig sind, wenn sie sich schließlich vielleicht sogar radikalisieren, dann verursacht das nicht nur finanzielle Kosten. Nein, das Bildungssystem hat auch eine soziale und integrative Funktion.

Dazu kommt, dass der festgestellte Nutzen des Sitzenbleibens davon abhängt, wie man eben testet. So hieß es in der Psychologie-Zeitschrift Gehirn&Geist noch 2013, die "Ehrenrunde" bringe nichts (Schlechtes Zeugnis für die Ehrenrunde). In der aktuellen Ausgabe steht aber unter Berufung auf eine repräsentative Längsschnittstudie von mehr als 1300 Schülerinnen und Schülern und unter Beteiligung der Ludwig-Maximilians-Universität München: "Sitzenbleiben wirkt aus psychologischer und schulischer Sicht oft durchaus positiv."

Ja, was denn nun? Bis diese Frage endgültig geklärt ist, bitte ich alle Bildungspolitikerinnen und -Politiker eindringlich, die Finger vom Sitzenbleiben zu lassen! Welche Reform seit dem PISA-Schock wäre denn erfolgreich gewesen, einschließlich Bologna (Fünfzehn Jahre Bologna-Erklärung - eine Polemik)? Dass diese Entscheidungen von oben für die Betroffenen dramatische Auswirkungen haben können, dessen ist man sich wohl kaum noch bewusst.