Skripal-Fall: Petrows und Boschirows Auftrag
Seite 2: Im Dienst von Oligarchen
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Wenn Petrow und Boschirow aber keine GRU-Agenten sind, welche andere Erklärung könnte es für ihre fehlende Präsenz in der Öffentlichkeit geben? Eine mögliche Antwort liefert ein Beitrag von Andrej Gratschow, den er auf Facebook veröffentlichte und der bald danach als nicht regelkonform gelöscht wurde. Gratschow studierte in Sankt Petersburg internationales Management und lebt gegenwärtig in Sotschi. In seinem Artikel vertritt er die These, dass es sich bei den beiden Russen um Überbringer wichtiger Dokumente gehandelt haben könnte. Ihr Auftraggeber wäre ein Oligarch oder eine andere einflussreiche und vermögende Person gewesen.
Es ist allgemein bekannt, dass die russische Geldelite ihren Reichtum während der Wirren der Jelzin-Präsidentschaft überwiegend auf kriminelle Weise erworben hat. Große Teile davon wurden ins Ausland geschafft, um den Besitzstand zu sichern. Dabei gehörten die Schweiz mit ihrem Bankgeheimnis und London als bedeutendster europäischer Finanzplatz zu den wichtigsten Zielhäfen.
Die tiefe Krise der russischen Gesellschaft während der 90er Jahre erforderte seitens ihrer Nutznießer erhöhte Sicherheitsvorkehrungen, da sie durch mafiaähnliche Strukturen bedroht wurden oder selbst ein Teil davon waren. Sie umgaben sich mit Personen, denen sie vertrauen konnten, weil diese sich fortwährend in ihrer Nähe befanden und dadurch einer permanenten Kontrolle unterlagen. Neben Hausbediensteten, Beratern, Pflegepersonal, Bodyguards und Chauffeuren gehören dazu auch Kuriere. Manche Personen erfüllen mehrere Aufgaben zugleich. Sollten Petrow und Boschirow einem solchen Kreis angehören, dann würden sie weitgehend von der Öffentlichkeit abgeschirmt leben.
Gratschow richtet die Aufmerksamkeit auf die körperliche Verfassung der beiden. Um ein Giftfläschchen zu transportieren und die Türklinke von Skripals Haus zu präparieren, wären keine zwei kräftigen und durchtrainierten Kerle nötig. Es hätte eine Person mit normaler Statur gereicht, die sich bei Bedarf am Zielort mit einem Komplizen zusammengetan hätte. Falls dagegen die Aufgabe bestand, wichtige Schriftstücke sicher zu überbringen, wären besondere Körperkraft und die Fähigkeit zur Selbstverteidigung von immenser Bedeutung, weil unterwegs keine Waffen getragen werden konnten. Dass sich Petrow und Boschirow überall zusammen bewegten und im gleichen Hotelzimmer schliefen, wäre als Vorsichtsmaßnahme zu interpretieren, um das Werk potentieller Angreifer zu erschweren.
Bei den Dokumenten könnte es sich um Originalschriften von Verträgen, Rechnungen oder Vollmachten gehandelt haben. Es ist anzunehmen, dass es dabei um millionenschwere Kontrakte ging. Aus Sicherheitsgründen käme weder eine Versendung durch die Post noch eine elektronische Übermittlung infrage. Wollte ein Oligarch sich nicht persönlich nach Großbritannien begeben, dann verbliebe keine andere Alternative als eine Kuriertätigkeit durch enge Vertraute. Dass Petrow und Boschirow als Touristen unterwegs gewesen wären, kann ausgeschlossen werden, da sie kein Gepäck mitführten.
Für die Version von Gratschow spricht ebenso der Tatbestand, dass sie umstandslos ihre Visa erhielten. Craig Murray verweist auf die Schwierigkeiten für russische Staatsbürger, ein Visum bewilligt zu bekommen. Er betont, dass insbesondere Männer im beruflich aktiven Alter mit einer Ablehnung rechnen müssen. Die Formalitäten sind dabei recht aufdringlich: Fingerabdrücke werden genommen, Heimatadresse und Familienstand nachgefragt, Vermögen samt Bankauszügen aus den letzten drei Monaten kontrolliert und genaue Angaben über Zweck und Aufenthaltsort verlangt.
Wenig überzeugendes Auftreten im Interview
Nach Gratschow enthält Putins Aufforderung, die beiden Tatverdächtigen sollten an die Öffentlichkeit treten, einen klaren Wink. Sie wäre in einer Sprache verfasst, die keinen Zweifel daran ließe, dass als Adressat nur ein Oligarch in Frage käme, nämlich der, in dessen Auftrag Petrow und Boschirow handelten.
Der letzte Satz "Es wäre besser für alle" würde eine versteckte Drohung beinhalten. Sollte sich der Auftraggeber der beiden als unkooperativ erweisen, dann könnte die russische Regierung sich gezwungen sehen, den tatsächlichen Sachverhalt zu publizieren. Da ein Teil seiner finanziellen Aktivitäten in einer Grauzone angesiedelt sein dürfte (Schmiergeldzahlungen, Geldwäsche), hätte er in diesem Fall Sanktionen und einen Abbruch der Geschäftsbeziehungen zu befürchten.
Ein weiterer Beleg sei die Bereitschaft der RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan gewesen, das Telefonat der beiden entgegenzunehmen. Durch Ausprobieren ließe sich feststellen, dass sie auf unbekannte Anrufer nicht reagiert. Es musste also entweder ein Telefonanschluss benutzt worden sein, dessen Rufnummer sie kannte, oder es gab eine vorherige Kontaktnahme, in der sie gebeten wurde, auf eine bestimmte Nummer zu antworten. Die Person, von der die Initiative ausging, könnte in ihrem Smartphone gespeichert gewesen sein oder sich über einen speziellen Kanal mit ihr in Verbindung gesetzt haben.
Im Interview selbst befinden sich mehrere Anhaltspunkte, die die Version von Gratschow erhärten. Dafür spricht vor allem der mehrmalige Aufenthalt in der Schweiz. Es ist kaum anzunehmen, dass Petrow und Boschirow in Genf weilten, um jemanden zu vergiften. Stattdessen ist naheliegend, dass sie die Stadt als Kuriere im Dienst eines Oligarchen besuchten, wobei es etwa um Kontoeröffnungen, Finanztransaktionen oder Anlagetätigkeiten ging. Ferner schnitten sie im Interview Themen an, die auf ihre Lebensumstände verweisen: Fitness- und Krafttraining, Bedrohung durch Kopfgelder, Schweigepflicht im Interesse von Kunden und Auftraggebern.
Mit ihren Ausführungen zu touristischen Aktivitäten konnten beide nicht überzeugen. Im Westen wurden ihre Aussagen als unglaubwürdig eingestuft, in Russland ernteten sie breiten Spott. Offenbar verblieb ihnen zu wenig Zeit, um sich auf das Interview vorzubereiten. Gleichwohl wurde ihnen zum Verhängnis, dass es ungeschnitten gesendet wurde. Doch auch bei Vernachlässigung dieser Faktoren waren sie augenscheinlich überfordert, was auf ein sozial und intellektuell armes Umfeld hinweist. Der ehemalige FSB-Mitarbeiter Andrej Manoilo hält den Auftritt der beiden wie auch die Einbeziehung Putins durch die vorangegangene Stellungnahme für einen großen Fehler und wertet diese als Ausdruck medialen Ungeschicks.
Gründe für einen zweimaligen Besuch Salisburys
Schließlich nennt Gratschow eine plausible Erklärung, warum Petrow und Boschirow Salisbury zweimal aufsuchten. Bei ihrem ersten Aufenthalt am 3. März hätten sie der Zielperson die mitgeführten Dokumente ausgehändigt, die sich vermutlich in einer versiegelten Mappe befanden. Ein Teil wäre dort geblieben, ein anderer zu dem Zweck überlassen worden, signiert bzw. gegengezeichnet zu werden. Um jene Papiere durchzusehen und zu überprüfen, hätte der Empfänger eine gewisse Zeit benötigt, sodass ein zweiter Besuch am darauffolgenden Tag im Voraus verabredet war.
Die Kuriere wären am 4. März ein weiteres Mal von ihrem Londoner Hotel aufgebrochen, um an einem vereinbarten Treffpunkt in Salisbury die unterzeichneten Dokumente und andere Schriftstücke entgegenzunehmen. Es mag sonderlich erscheinen, weshalb sie zuerst nach Westen liefen, wo sie in die Nähe von Skripals Haus gelangten, und sich dann eine Stunde später im Zentrum aufhielten, das in entgegengesetzter Richtung vom Bahnhof liegt. Möglicherweise hätten sie auch einen früheren Zug für die Rückfahrt nehmen können. Dafür dürfte es plausible Gründe gegeben haben, auch wenn sie mangels Informationen nicht bekannt sind.
Leben denn in der 40.000-Einwohner-Stadt Salisbury überhaupt russische Staatsbürger, die sie hätten kontaktieren können? Die Anzahl der Russen, die einen Wohnsitz in Großbritannien haben, wird auf 300.000 geschätzt. In Relation zur Gesamtbevölkerung würde dies statistisch 187 Personen in Salisbury entsprechen. Da das Gros der Russen in und um London lebt, wäre die tatsächliche Zahl um einiges größer.
Bei der aufgesuchten Kontaktstelle könnte es sich ebenso um eine britische Anwaltskanzlei oder Vermögensverwaltungsgesellschaft gehandelt haben. Sie wäre dem Wunsch des russischen Kunden nach absoluter Diskretion gefolgt und hätte schon deshalb nicht die Polizei informiert, um eine mögliche Anklage wegen dunkler Geschäfte zu vermeiden.