Small is beautiful
- Small is beautiful
- … und auch in den Industrieländern
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Ursprung und Bedeutung eines beliebten, aber fragwürdigen Slogans
"Small is beautiful", dieser Slogan wird bis jetzt oft und gern zitiert, vor allem von solchen Gesellschaftskritikern, die das Problem der Zeit im modernen Lifestyle ausmachen. Was steckt dahinter?
Der Slogan ist der Titel eines von Ernst Friedrich Schumacher 1973 veröffentlichten Buchs, das als Die Rückkehr zum menschlichen Maß auch auf deutsch erschienen ist. (Rowohlt, 1977; wir beziehen uns im Folgenden auf diese Ausgabe)
Die Rückkehr zum menschlichen Maß
Eigenem Bekunden nach waren es die Erfahrungen, die Schumacher als ökonomischer Berater in Burma und anderen damals als Dritte Welt bezeichneten Ländern machte, die den Anstoß für seine Theorien gaben. Ein Fünftel des Buchs ist dementsprechend auch den armen Ländern gewidmet; dieser Abschnitt beginnt mit1:
Ein Weißbuch der britischen Regierung zur Entwicklung in Übersee legte vor einigen Jahren die Ziele der Entwicklungshilfe wie folgt fest: "Tun, was wir können, um den Entwicklungsländern dabei zu helfen, ihrer Bevölkerung die materiellen Gelegenheiten für den Einsatz ihrer Fähigkeiten, für ein erfülltes und glückliches Leben und eine ständig wachsende Verbesserung ihres Loses zur Verfügung zu stellen."
Dass die tatsächlichen Zustände ganz anders sind, weiß Schumacher sehr wohl2:
Für zwei Drittel der Menschheit scheint das Ziel eines "erfüllten und glücklichen Lebens" mit ständig wachsenden Verbesserungen ihre Loses ebenso weit entfernt wie je zuvor, wenn es nicht gar in immer weitere Ferne gerückt ist.
Wie erklärt er nun diesen Kontrast? Wir lesen3:
Einer der falschen und und zerstörerischen Zustände in praktisch allen Entwicklungsländern ist das immer deutlichere Auftreten der "zweigeteilten Wirtschaft", in der sich zwei verschiedene Lebensmuster finden, die so weit auseinander liegen wie zwei verschiedene Welten. Es geht nicht darum, dass einige Menschen reich und andere arm sind, wobei sie beide eine gemeinsame Lebensweise haben: es geht darum, dass nebeneinander zwei Lebensweisen bestehen.
und weiter4:
Bis vor kurzem sprachen die Entwicklungsfachleute selten von der zweigeteilten Wirtschaft und ihren Zwillingsübeln, der Massenarbeitslosigkeit und der Landflucht der Massen. […] Inzwischen ist man weithin im klaren darüber, dass Zeit allein hier nicht heilen kann. Im Gegenteil bringt die zweigeteilte Wirtschaft […] das hervor, was ich einen "Prozess gegenseitiger Vergiftung" genannt habe, durch den erfolgreiche industrielle Entwicklung in den Städten die Wirtschaftsstruktur des Hinterlandes zerstört und das Hinterland sich durch Landflucht der Massen rächt
Als Beispiel für die industrielle Entwicklung in den Städten führt Schumacher Raffinerien an, die nur wenig Arbeitskräfte beschäftigen, wobei zudem viele dieser Arbeitskräfte aus den Industrieländern herbei geholt werden. Auf welche Weise die Existenz solcher Anlagen allerdings die Wirtschaftsstruktur des Hinterlandes zerstören und zur Landflucht führen soll, verrät er uns nicht. Muss denn nicht die Zerstörung der ländlichen Lebensbedingungen auf Vorgängen beruhen, die eben dort, auf dem Land, stattfinden?
Es ist kein Geheimnis, dass während der Kolonialzeit diese Länder als Rohstofflieferanten für die Metropolen hergerichtet wurden: durch Plantagenwirtschaft und Bergbau. Da stand die heimische Bevölkerung nur im Wege und wurde entsprechend behandelt. Die Zerstörung ihrer traditionellen Lebensgrundlagen endete auch nicht durch die Entkolonialisierung, die bei Erscheinen des Buchs in den meisten dieser Länder ein bis zwei Jahrzehnte zurück lag.
Auch die Entwicklungshilfe, wie sie den in die Unabhängigkeit entlassenen Nationen zuteil wurde, orientierte sich an den auswärtigen Interessen: in Form von Infrastruktur, aber auch in Form von Industrieanlagen, die der Rohstoffwirtschaft als Zulieferer oder Erstverarbeiter untergeordnet blieben.
Die oben zitierte offizielle Erklärung zu den Zielen der Entwicklungshilfe ist offenkundig nur die wohltönende Begleitmusik dazu. Schumacher dagegen zweifelt nicht daran, dass darin tatsächlich die politisch maßgebenden Ziele ausgesprochen wären; er konstatiert lediglich, dass die schönen Absichten nicht erreicht würden und breitet das unbeirrt über viele Seiten seines Buchs hinweg aus. Seine Auffassung ist, dass die Mittel, mit denen die guten Zwecke verfolgt würden, ungeeignet wären, und zwar sieht er diese Mittel in Industrieanlagen, die in das Umfeld der armen Länder eben nicht hineinpassen.
Als Alternative propagiert Schumacher die Parole von der Hilfe zur Selbsthilfe5:
Gib einem Mann einen Fisch, so heißt es, und du hilfst ihm ein wenig für kurze Zeit, aber lehre ihn fischen, und du ermöglichst es ihm, sich ein Leben hindurch selbst zu helfen.
Das mit dem Fischen ist im übertragenen Sinn zu verstehen, denn wo es etwas zu fischen gibt, wissen die Leute auch längst, wie man Fische fängt. Aber was kann es dann sein? Die Menschen dort sind ja nicht dumm; wenn es Möglichkeiten des Lebensunterhalts gibt, die in ihrer Reichweite liegen, sind sie sicher selbst schon darauf gekommen. Was soll man sie also "lehren"? Sonderlich konkret wird Schumacher da nicht6:
Das also müsste immer mehr zur obersten Maxime von Hilfsprogrammen werden – die Menschen durch großzügige geistige [sic!] Gaben angemessener Art zur Unabhängigkeit und Selbsterhaltung zu führen, durch Gaben für sie wichtigen Wissens über die Arten der Selbsthilfe. Diese Methode hat außerdem den Vorzug, dass sie vergleichsweise billig ist.
Irgendwie bemerkt er aber doch, dass "geistige Gaben" allein wohl nicht ausreichen, und so entwickelt er das Konzept der "mittleren Technologie". Er nennt sie auch "Fünfhundert-Mark Technologie"7, womit er sich auf die Ausstattungskosten je Arbeitsplatz bezieht und es in Gegensatz zur "Fünf-Mark-Technologie" der überkommenen Armutswirtschaft einerseits und der "Fünftausend-Mark-Technologie" der importierten Industrieanlagen andererseits stellt. Es geht also um einfache Produktionsmittel, die zwar relativ wenig kosten, aber doch mehr, als was die Leute von sich aus aufbringen könnten.
Fremde Hilfe ist also auch bei mittlerer Technologie nötig. Die wird von wohltätigen Hilfsorganisationen geleistet, und ich will gar nicht bestreiten, dass das in Einzelfällen auch hilfreich sein kann. Am Prinzip der Ausbeutung der Dritten Welt und der darauf ausgerichteten offiziellen staatlichen Entwicklungshilfe ändert das jedoch nichts. Deshalb bleiben die armen Länder arm, und die Wirkung von auf mittlerer Technologie beruhender Hilfe ist allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein.
Soviel zur sachlichen Seite der Angelegenheit. Schumacher geht es aber um mehr, nämlich um Bewusstsein und ideelle Haltungen; seiner Meinung nach8
veranlasst unsere grobe, materialistische Anschauung uns, nur die "materiellen Gegebenheiten" zu erwägen, (um die Worte des Weißbuchs zu verwenden, die ich bereits zitiert habe) und die immateriellen Faktoren zu übersehen. Ich bin gewiss, dass unter den Ursachen der Armut die materiellen Faktoren ganz und gar zweitrangig sind – Dinge wie ein Mangel an natürlichem Reichtum oder Kapitalmangel oder eine ungenügende Infrastruktur.
Die übergeordneten Ursachen äußerster Armut sind immateriell, sie liegen in bestimmten Mängeln der Erziehung, Organisation und Disziplin. [der Einschub in runden Klammern steht im Original; das Zitat, auf das darin verwiesen wird, ist dasselbe, das ich am Beginn des vorliegenden Artikels anführe.]
Nun ist die Auffassung, wonach ideelle Dinge höher als materielle Güter zu bewerten seien, in den Industrieländer durchaus gängig; insbesondere Bildung wird selbst im streng wirtschaftlichen Kontext üblicherweise gutgeheißen, und daher werden im Rahmen von Entwicklungshilfe-Programmen oft Schulen, auch höhere Schulen und Universitäten, unterstützt.
Das Problem dabei ist, dass in den armen Ländern meist gar nicht genug Verwendung für höher ausgebildete Leute besteht, was bis zu dem Punkt führen kann, dass man Abitur vorweisen muss, um als Verkäuferin oder LKW-Fahrer anzuheuern; es gibt ja sonst keine Jobs für die Schulabgänger.
Erst recht gilt für die im Vergleich zur Schulbildung noch weniger klaren "Faktoren" Organisation und Disziplin, dass sie nur nützlich sind, wo die entsprechenden Voraussetzungen bestehen: wo es nicht viel zu organisieren gibt, wird man vergeblich darauf warten, dass sich disziplinierte Organisationstalente hervortun. All diese schönen ideellen Dinge werden eben nicht von sich aus wirksam, sondern nur unter materiellen Voraussetzungen, die in den armen Ländern eben nicht gegeben sind.
All dem dann "Mangel an natürlichem Reichtum oder Kapitalmangel oder eine ungenügende Infrastruktur" als bloß "zweitrangige" Ursachen gegenüber zu stellen, legt noch einmal mehr eine verkehrte Perspektive an die Realität an: denn was hier angesprochen wird sind genau die Kategorien, auf die die armen Ländern fixiert werden, egal, ob es gut ist für sie oder nicht:
Erstens "natürlicher Reichtum": die armen Länder haben als Rohstoff-Lieferanten zu dienen, auch und vor allem, wo sie selbst diese Rohstoffe gar nicht nutzen können, weil ihnen die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür fehlen; der Preis der Rohstoffe bestimmt sich deshalb durch die Nachfrage aus den Industrieländern, da ja nur die etwas damit anfangen können. Das führt aufgrund der Konjunkturzyklen in den Industrieländern zu für die armen Länder ruinös exzessiven Preisschwankungen. Klar, es gibt auch arme Länder, die nicht einmal über nennenswerten "natürlichen Reichtum" verfügen – aber der entscheidende Punkt ist doch: auch wo solcher vorhanden ist, sind die Nutznießer nicht so sehr diese Länder selbst, als vielmehr die Industrieländer.
Zweitens "Kapital": was als Wirtschaft rund um Rohstoff-Plantagen und Bergbau existiert, sind für ausländisches Kapital Investitionsmöglichkeiten – die Gewinne fließen an die Kapital-Exporteure, also an die entwickelten Länder zurück. Der Süden dient als Anlagesphäre für fremdes Kapital, ein eigenständiger Wirtschaftsaufschwung kommt nicht zustande.
Drittens "Infrastruktur": der Name leitet sich von lateinisch "infra" = "unterhalb" ab. Es ist das, was die Wirtschaft als zugrundeliegende Voraussetzungen benötigt. Es fragt sich also: unterhalb wovon diese Strukturen denn liegen – und da kommen wir wieder auf die von den Industrieländern eingerichtete Rohstoffproduktion; die Infrastruktur dafür zu unterhalten, bedeutet Unkosten, die den davon profitierenden Kapitalien oft durch Entwicklungshilfe abgenommen werden.
Die Frage, ob die materiellen oder die ideellen Gegebenheiten von vorrangiger Bedeutung seien, ist also bereits verkehrt gestellt, denn es kommt auf den Kontext an, in dem diese stehen. Nicht weil sie "zweitrangig" wären, sondern weil sie als Gegenstand beziehungsweise Mittel für den Zugriff der reichen Länder auf die Dritte Welt fungieren, wirken Rohstoffe, Kapital und Infrastruktur nicht als Reichtumsquelle für letztere. Aber das interessiert Schumacher nicht; er kümmert sich nicht darum, welche Interessen mit welchen Machtmitteln die bestehenden Zustände hervorrufen und aufrecht erhalten; er geht unbeirrt davon aus, dass nur gute Absichten am Werk sind9:
Es ist beinahe ein Segen, dass wir, die reichen Länder, uns dazu aufgerafft haben, die Dritte Welt zumindest zu betrachten und zu versuchen, ihre Armut zu lindern.
Wenn es dennoch scheitert, so muss das an Unkenntnis liegen: "Eine Untersuchung von mittleren technologischen Verfahren, wie sie heute bestehen, würde zeigen, dass genug Wissen und Erfahrung vorliegen, um jedem Arbeit zu verschaffen."10 Tja – vielleicht wird die Welt von ganz anderen Zielen und Zwecken beherrscht, als jedem Arbeit zu verschaffen.
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