So schleppt sich dahin, was zusammen gehört

Zum Tag der deutschen Einheit

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Für die deutsche Romantik war das Volk eine höhere Wirklichkeit mit eigener Seele. Unzählige Autoren dieser Zeit, aber selbst noch viele selbst ernannte Volkerzieher bis in das 20. Jahrhundert hinein wissen von Deutschen, Engländern, Franzosen oder Italienern zu sprechen, als handele es sich um Volkscharaktere, die konzise Eigenschaften und Handlungsweisen besitzen. Das Nationale war nicht nur die Signatur selbstbewusster Nationalstaaten, sondern zugleich die Façon des Einzelnen, die seine Individualität überformte.

Vor dem Reichstagsgebäude in Berlin am 3. Oktober 1990 um Mitternacht. Bild: Bundesbildstelle

Wilhelm Heinrich Wackenroder, einer der maßgeblichen Wegbereiter der deutschen Romantik, attestiert 1797 Albrecht Dürer, kein "italienisches Blut" gehabt zu haben. Der Radikalnationalismus hat dann dieses Geraune und weihevolle Wabern im deutschen Wald und unter gotischen Türmen wörtlich genommen und mit eigenem und fremden Blut ratifiziert. Von dieser Diskreditierung des Nationalen hat sich Deutschland nie wieder so erholt, dass die Nationalität ein beschwerdefreies Moment dieser vorgeblichen Einheitsgesellschaft hätte werden können.

Reparaturnationalismus und Europäisierung

Die Zeiten der einigenden Volksseele sind nicht nur aus diesem Grund passé. Die Wiedervereinigung war ein (Mauer)Fall des Reparaturnationalismus, in dem weniger eine gespaltene Seele zusammenwuchs, als vielmehr zwei heterogene Gesellschaften auf Biegen und Brechen verklammert wurden.

Ein zuvor unvorstellbarer Systemkollaps wurde zur Gunst der Stunde, politisch und vor allem ökonomisch nun mit dem Großreinemachen zu beginnen und den Systemsieg nach Jahrzehnten des Kaltes Kriegs augenfällig zu machen. Die Wiedervereinigung verwandelte sich nach dem Tanz ums Brandenburger Tor und dem üblichen Polit-Pathos zur politischen Daueragenda ungelöster Fragen und einem horrenden Kostenfaktor. Die wiedervereinigte Nation wurde zum Volk der Pleiten, der Arbeitslosen und der immer angegriffeneren Gesundheits- und Rentenkassen.

Politische Identität können Völker auf zweierlei Weise gewinnen: im Blick auf eine gemeinsame Herkunft oder im Willen zu einer gemeinsamen Zukunft.

Martin und Sylvia Greiffenhagen

Die gemeinsame Herkunft ist nicht nur in der Retrospektive auf das Tausendjährige Reich verdüstert. Zwischen Ossis und Wessis, so wenig die Begriffe tragen, stehen Altlasten, die, wie die unendliche Stasi-Geschichte zeigt, längst nicht abgetragen sind. Ohnehin nimmt die ökonomische Last, zwei seit Jahrzehnten gespaltene Gesellschaften zu einer zu formieren, noch länger den ganzen Atem in Anspruch. Von dieser gewaltigen Eingemeindung hat sich die Einheitsgesellschaft längst nicht erholt, so müßig es sein mag, über alternative Geschichtsverläufe zu räsonieren. In den blühenden Landschaften, die in einer Dekade nach der Wiedervereinigung erreicht werden sollten, steigt die Zahl der Arbeitslosen weiter an, während die Löhne auf 70 % des Westniveaus verharren.

So wenig die Romantik in der Lage war, den totalisierenden Begriff "Volk" in den Wolken der Poesie zu definieren, so wenig lässt sich heute ein nationales Empfinden beschreiben, das gegenüber sportlichen Länderwettkämpfen, verschwurbelter Geschichtsbeschwörung und unverbesserlichen Neonazis einen wirklich seriösen Anspruch reklamieren könnte. Globalisierung und Europäisierung sind "in the long run" der Tod der Nationalstaaten, nachdem sich die Nationalstaatsidee schon vorher verabschiedet hatte.

Bundeskanzler Gerhard Schröder hat Brandts Diktum auf den aktuellen Stand gebracht: "Jetzt wächst zusammen, was in Europa zusammen gehört." Im Zuge der Internationalisierung und Globalisierung nicht nur von politischen Systemen, sondern mindestens ebenso von persönlichen Lebensverhältnissen werden nationale Momente zu folkloristischen Relikten oder eben Kriterien der politischen Zuordnung, die so zwingend wie willkürlich sind. Die Musik spielt ohnehin eine Etage höher:

Die EU wächst um fast 100 Millionen Menschen zu einem Wirtschaftsraum mit beinahe 500 Millionen Einwohnern. Damit entsteht der weltweit größte einheitliche Markt, der für die Herausforderungen des globalen Wettbewerbs hervorragend gerüstet ist.

Kanzler Schröder im Dezember 2002

Nota bene: Wir reden von wirtschaftlicher Einheit, wo hin man auch blicket. Nur die Einigkeit in der vorgeblichen Einheit lässt genauso auf sich warten wie die Konjunkturbeglückung für Deutschland mit Hilfe dieses hochgerüsteten Europamolochs.

Nationale Restpostenverwaltung

F. Bley schrieb 1857 in seiner hochtönenden Schrift "Die Weltstellung des Deutschtums": "Wir sind das tüchtigste Volk auf allen Gebieten des Wissens und der schönen Künste."

"Wenn wir in Deutschland nicht mehr in der Lage wären zu sagen, dass die nationale Identität unseres Landes ein wichtiges Gut ist und dass Menschen sich in unserem Land wohl fühlen und auf unser Land stolz sein können, dann werden wir ein Problem haben im gemeinsamen Europa, in dem wir von selbstbewussten Nachbarn umgeben sind", formuliert dagegen vorsichtiger der hessische Ministerpräsident Roland Koch.

Warum die Repräsentation von Wirtschaftsinteressen an den Nationalstolz gekoppelt sein sollte, ist unerfindlich. Wirtschaftliche Antagonismen werden zudem nicht durch Ländergrenzen definiert. Wir sitzen in Deutschland nicht alle in einem Boot, über dem einheitsstiftend die Nationalflagge weht. Auch wenn der verfemte Begriff der "Klassengesellschaft" kurzschlüssig bis antiquiert erscheinen mag, ist der greifbare Mangel an Solidarität, der das Regieren so sauer macht, auf hartnäckig verteidigte Gruppeninteressen zurückzuführen. Es gibt weniger denn je diese gruppenübergreifende Solidarität, die Kanzler und Opposition ständig einfordern. Zum wenigsten aber entsteht eine Solidarität, die sich aus dem nationalen Empfinden speiste.

Die Verwaltungspraxis bei Einbürgerungen belegt diese Ratlosigkeit gegenüber der Nationalkultur und dem nationalen Empfinden besonders deutlich. Die mehr oder weniger gelungene Lektüre eines deutschen Zeitungstextes vor den milden Augen des Verwaltungsbeamten belegt die nationale Eignung des Bewerbers. Und was wäre auch mehr zu fordern? Elementarkenntnisse des klassischen Bildungskanons? Goethe, Schiller, Bach oder Beethoven? Deutsche Sitten und Gebräuche? Umfragen zu diesem Thema sind regelmäßig eine Quelle der Peinlichkeiten, die neben diffusen Assoziationen zwischen Lederhosen, Kartoffelpuffern oder Sauerkraut einen blassen Chauvinismus outen, der sich, von Radikalen abgesehen, nicht mehr politisch definieren will. Wer heute durch die Fußgängerzonen einer beliebigen europäischen Stadt wandert, findet die ewig gleiche Eintopfkultur zwischen McDonald's, Burger King, H & M etc., während die pittoreske Vielfalt nationaler Kultur genauso schwindet wie die vielen kleinen Läden, die sich längst die hohen Mieten nicht mehr leisten können.

Nationalkultur ist nicht nur in Deutschland ein Restposten, der vornehmlich als museales Erinnerungsstück einen letzten Rest an Plausibilität verbuchen mag. Vor zwei Jahren wurde eine schnell versandete Diskussion losgetreten, ob nationale Symbole wie die Nationalflagge oder -hymne als Unterrichtsstoff wiederbelebt werden sollten (Ein Hobby-Koch zeigt Flagge). Zuvor hatte Friedrich Merz folgenlos eine deutsche Leitkultur proklamiert, deren Programmschwäche selbst durch salbungsvolle Politikrhetorik nicht kaschiert werden konnte.

Derlei blässlicher deutscher Verfassungs- und Kulturpatriotismus hat wenig Chancen auf Wiederbelebung, solange sich nicht vielleicht die NoAngels die Flagge um die Hüfte drapieren, um einen bundesrepublikanischen Untergangs-Rap zu intonieren. Denn Nationalsymbole, die in der Hochzeit des Nationalismus einen Sinn machten, weil dahinter ein Staat stand, stiften in ausdifferenzierten Chaos-Gesellschaften, die sich mit sehr viel existenzielleren Problemen herumschlagen müssen, keine Bindungsmasse mehr. Kurzum, wer von Nationalität redet, dem ist sonntäglich zu Mute oder: Er lügt.

Im Westen nichts Neues

Die Grundwerte einer demokratischen Gesellschaft, so heroisch historisch der Kampf um sie gewesen sein mag, lösen längst kein Verfassungspathos aus, das durch sprechende Symbole motiviert werden könnte. Zum wenigsten sind solche demokratischen Tugenden genuin deutsch, sondern Teil einer westlichen Zivilisation, die Deutschland spät genug erreicht hat. Und so wichtig Lehren aus der deutschen Geschichte auch sein mögen: "Holocaust-Pädagogik" (Wolfgang Thierse), der Widerstand gegen Diktaturen und Erziehung zur Toleranz sind kein Stoff nationalen Empfindens, sondern notwendiger Demokratieunterricht.

Ich will Rückfälle in vordemokratische, deutschtümelnde, fremdenfeindliche, antisemitische Zustände verhindern.

Wolfgang Thierse, 2002

Gewiss, aber darin allein findet sich noch keine Zukunftsprogrammatik, die dem Gemeinwesen den ausgetriebenen Optimismus zurückgeben würde.

Die blasse Rede von der Multikulti-Gesellschaft als dem pluralistisch toleranten Zusammenleben aller gesellschaftlichen Gruppen hat auch als Beschwichtigungsformel ausgedient. Heute definiert sich die vorgebliche Einheit Deutschlands als eine krude Mixtur aus wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und religiösen Differenzen, die nicht kleiner werden, sondern beste Chancen besitzen, zu den unüberbrückbaren Gräben einer identitätslosen Gesellschaft zu werden. Samuel Huntington warnte vor den äußeren Bruchlinienkriegen zwischen den Kulturen. Doch sind nicht die innergesellschaftlichen Bruchlinienscharmützel von Kulturen der explosivere Stoff?

Man täusche sich nicht: Hinter den salvierenden Reden in bester Art der Lessingschen Ringparabel ist noch viel Raum für kulturell-religiösen und ethnischen Zwist. Der "Kopftuch-Streit", den jüngst das Bundesverfassungsgericht wieder in die Verantwortung des Gesetzgebers gestellt hat, belegt, dass die deutsche Einheit so wenig wie die grundgesetzlich verankerte Verantwortung vor Gott (vor welchem Gott eigentlich?) Antworten für die verunsicherte Dissens-Gesellschaft bereithält.

Einerseits werden von Nationalapologeten diverse Ursprungsmythologien bemüht, um die nationale Identität im christlichen Geist und/oder einer gemeinsamen Geschichte zwischen Karl dem Großen, Friedrich dem Großen bis zu Bismarck oder Adenauer zu beschwören. Andererseits soll selbstverständlich das nationale Empfinden auch mit einem toleranten Islam kompatibel sein. Nur weiß noch keiner, wie sich ein selbstbewusster Islam ideologisch-religiös mit dem müde gewordenen Christentum vereinbaren lässt. Das mag den laizistischen Staat, der Kruzifixe und Kopftücher in Schulen verbietet, nicht bekümmern. Die gesellschaftliche Praxis ist ungleich komplexer.

Die neuen Bruchlinien liegen zudem nicht nur zwischen den Religionen und Kulturen, die keine echte Beziehung eingehen, sondern ziehen sich inzwischen auch durch die muslimischen Familien selbst, in denen die üblichen Generationenkonflikte noch interkulturell aufgeheizt werden.

Volk ohne Kohle

Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag des Deutschen ist die Aernte der ganzen Zeit.

Friedrich Schiller

"Innere Schätze allein beglücken" formulierte 1940 der Theoretiker der "Deutschen Innerlichkeit", Ulrich Christoffel, auch im Vorgriff für all jene, die heute dem schnöden Mammon entsagen müssen. Deutsche Innerlichkeit ist gegenwärtig der ungläubige Blick auf den überzogenen Dispokredit.

Am deutschen Wesen werden jedenfalls weder die eigene Volkswirtschaft noch die katastrophal verschuldeten Privathaushalte genesen. Der Staat, ein "Koloss auf tönernen Füßen" (Martin Jänicke), wechselt inzwischen die Reformrezepte so hektisch, dass allein das der "Kunst des Möglichen" und ihren Spagatkünstlern immer mehr Deckungsmasse entzieht. Und dieser fast blind erscheinende Taumel zwischen den Rezepten ist kein exklusives Dilemma der Regierung, sondern wie jetzt die Reaktionen auf die Grundsatzrede von Frau Merkel erweisen, auch das Bewegungsmodell der Opposition.

Bleibt also nur noch der Blick in die Tunnelröhre "Zukunft". Der Wille zur Zukunft ist gegenwärtig nichts anderes als das "Weiterwurschteln" einer Zwangsgemeinschaft, die mit Ressourcen Haus halten muss, die sie schon nicht mehr hat. Während der Kanzler politische Widrigkeiten nur noch mit Rücktrittsdrohungen kontert, weil seine Reform keine werden will, werden die Wirtschaftszahlen immer katastrophaler.

Meinhard Miegel spricht von ungedeckten Wechseln der sozialen Sicherungssysteme in Höhe von fünf Billionen Euro. Konstituieren sich hier zwangsoptimistisch einige "Ich-AGs", purzeln dort Zigtausende mittelständischer Unternehmen in die Insolvenz. Wer beschreibt diese Schicksale des neudeutschen Einheitsdarwinismus, die in Statistiken beerdigt werden, ohne dadurch erträglicher zu sein?

Fazit: Der Tag der deutschen Einheit ist ein Anachronismus, der keine aktuellen Botschaften mehr für die bundesrepublikanische Titanic-Untergangsgesellschaft bereithält und wohl besser gegen den Tag der neuen deutschen Armut ausgetauscht werden sollte. Fröhliches Gedenken!