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So verändert der Krieg Russland - und das sind drei mögliche Szenarien

Das alte und neue Russland ist militaristisch, nur anders. Bild: mos.ru, CC BY 4.0

Der Krieg gegen die Ukraine verändert auch den Angreifer Russland massiv. Die Prognose für die Ukraine aber ist noch schlechter. Drei Szenarien einer möglichen Entwicklung.

Die "europäischen Werte", zu denen natürlich nicht Kriegstreiberei, Auschwitz oder rassistischer Kolonialismus gehören, und die "Menschenrechte", also ihre selektive Anwendung durch die westliche Menschenrechtspolitik, beeindrucken die nicht-westliche Welt nicht mehr. Die Menschen dort haben die Nase voll von Heuchelei und Doppelmoral.

Die Afrika-Reisen des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und des französischen Präsidenten Emmanuel Macron oder die Lateinamerikareise des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz Anfang 2023 haben in dieser Hinsicht unmissverständliche Signale gesetzt.

Die Inflation von Nobelpreisen und literarischen Huldigungen für angeschlagene belarussische, russische und ukrainische Politiker und Autoren, die durch ihre Feindschaft zum Kreml vereint sind, sowie die Anklage gegen Putin durch den Internationalen Strafgerichtshof ändern wenig: Die ideologische Artillerie und der Diskurs der Herren der Welt verlieren an Glaubwürdigkeit und Macht.

Im Februar hat China seinen Vorschlag für globale Sicherheit und einen Friedensplan für die Ukraine vorgelegt, der in Washington und Brüssel nervös ignoriert wurde. Im März 2023 vermittelte die chinesische Diplomatie ein aufsehenerregendes Abkommen zur Wiederherstellung der Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, und Präsident Xi Jinping stattete Moskau auf seiner ersten Reise nach seiner Wiederwahl für eine dritte Amtszeit als Präsident einen demonstrativen Besuch ab.

In Russland selbst nimmt der vom Westen geförderte "Regimewechsel" ungeahnte Formen an. Alles deutet darauf hin, dass er sich nach einem sehr russischen Drehbuch vollziehen wird, bei dem das Regime gleichzeitig autoritärer und sozialer werden wird. Um diese Entwicklung zu verstehen, muss man sich die Widersprüche zwischen der westlichen liberalen Oligarchie und der russischen Oligarchie ansehen.

Vom "Klassenstandpunkt" aus betrachtet ist der Krieg zwischen Russland und dem Westen, der in der Ukraine geführt wird, auch ein Produkt der Frustration des russischen Establishments darüber, dass es von seinen westlichen kapitalistischen Partnern nicht auf gleicher Augenhöhe akzeptiert worden ist.

Was aber bedeutete es, "auf gleicher Augenhöhe" akzeptiert zu werden? Im Wesentlichen, dass der Westen die Souveränität und Vorrangstellung der russischen Elite bei der Ausplünderung des nationalen Erbes und der reichen Ressourcen im eigenen Land anerkennt, einschließlich der Akzeptanz russischer Interessen in der geografischen Umgebung; eine Art "Monroe-Doktrin" für den postsowjetischen Raum, wenn auch unter den Bedingungen eines Kondominiums mit dem Westen, der Türkei und China, wie es in Zentralasien und Transkaukasien der Fall ist.

Es dauerte Jahre, bis Moskau die Ernsthaftigkeit des westlichen globalistischen Projekts verstanden hat, das ein subalternes Russland mit einer nationalen Kompradoren-Elite vorsah, die den großen westlichen transnationalen Unternehmen untergeordnet ist.

Es dauerte Jahre, bis man verstand, dass man nicht die Absicht hatte, die "Souveränität" oder das private Eigentum der russischen Oligarchen anzuerkennen, das sich aus der traditionellen staatlichen Kontrolle entwickelt hat, die diese Kaste über die Wirtschaft, die Privatisierung und die Veruntreuung im größten Land der Welt hat.

Der Westen wollte den ungehinderten Zugang seiner multinationalen Unternehmen zu den Ressourcen Eurasiens und erkannte natürlich keine politischen, wirtschaftlichen oder militärischen "Einflusszonen" jenseits der eigenen hegemonialen Vorherrschaft an.

Moskaus anfängliche Zusammenarbeit wurde als Schwäche angesehen, und Putins wiederholte Beschwerden wurden jahrelang ignoriert.

All dies spricht aus dem Vorwurf Sergej Karaganows an den Westen: Er sei eben nicht in der Lage gewesen zu sein, "sich mit Russland und China auf die Bedingungen der Neuen Welt zu einigen", so der kremlnahe Intellektuelle.

Gesellschaftsvertrag des Putinismus aufgekündigt

Entschlossen, sich mit Gewalt Respekt zu verschaffen, sieht sich der Kreml nun gezwungen, eine interne Veränderung vorzunehmen. Die Spannungen mit dem Westen, die Sanktionen und die Kriegsanstrengungen setzten all dem ein endgültiges Ende, wofür Putin von den meisten Russen geschätzt wurde: Er hat sie aus den Katastrophen der 90er-Jahre herausgeführt, aus der ständigen Verschlechterung des Lebensstandards der Mehrheit.

Eine gewisse institutionelle und symbolische Stabilität wurde wiederhergestellt, ebenso wie die wesentlichen Funktionen des Staates.

Diese Menge an Verbesserungen hat die Menschen die Ungerechtigkeiten der neoliberalen Kontinuität und die Exzesse des oligarchischen Kapitalismus, dem sich dem Staat immer stärker unterordnete, ebenso verzeihen lassen wie die Betrügereien der alternativlosen Wahlen.

Jetzt geraten die Stabilität ins Wanken. Der Bevölkerung werden patriotische Opfer abverlangt, mit möglichen Rezessionen und einem Rückgang des Lebensstandards angesichts der "existenziellen Bedrohung", die laut Kreml über Russland schwebt.

Der Gesellschaftsvertrag des Putinismus wurde aufgekündigt. Aber wenn die soziologischen Studien, die in den letzten Jahren in Russland durchgeführt wurden, eines deutlich machen, dann ist es die Priorität, die die Menschen dem Wohlstand gegenüber der Großmachtidentität einräumen. Im heutigen Russland herrscht nicht mehr die sowjetische Tendenz dazu, das Volk auf dem Altar der obersten Interessen des Staates zu opfern. Das bedeutet, dass ein neuer Konsens erkauft werden muss.

Entweder kommt es also zu einem radikalen sozioökonomischen Wandel und der Kreml schlägt der Gesellschaft einen neuen Gesellschaftsvertrag mit mehr Teilhabe, weniger Ungleichheit und wirtschaftlichem Missbrauch vor, oder es kommt zu mehr Repression, die den Zusammenbruch des politischen Regimes aber nicht verhindern wird.

Bereits im März 2022 rief der Politikwissenschaftler Dmitri Trenin dazu auf, "die Russische Föderation auf einer politisch nachhaltigeren, wirtschaftlich effizienteren, sozial gerechteren und moralisch solideren Grundlage neu aufzubauen".

Angesichts der bevorstehenden Herausforderungen müsse das Regime "alle Ressourcen mobilisieren" und "die Unterstützung der schwächsten Teile der Bevölkerung gewinnen", sagte er. Dies erfordere "das Kappen der Korruptionskanäle, die Neuausrichtung des Großkapitals auf die nationalen Interessen, eine neue Personalpolitik zur deutlichen Verbesserung der Qualität der öffentlichen Verwaltung auf allen Ebenen, soziale Solidarität und die Rückkehr zu grundlegenden, nicht monetären Werten als Lebensgrundlage.

Diese Veränderungen wiederum seien undenkbar ohne die Überwindung des oligarchischen Kapitalismus, der Kapital in Steuerparadiese exportiert, ohne eine umfassende Rotation der Führungselite, der Staats- und Verwaltungsapparate und folglich ohne die Neuverhandlung des Gesellschaftsvertrags zwischen Regierung und Gesellschaft auf der Grundlage von gegenseitigem Vertrauen und Solidarität."

"Der russische Staat ist von außen betrachtet fast unbesiegbar, aber er bricht zusammen, wenn eine bedeutende Masse von Russen von ihren Machthabern und dem ungerechten und dysfunktionalen Sozialsystem desillusioniert ist", warnte er.

Der ukrainische Soziologe Volodymyr Ischchenko hat in diesem Zusammenhang die Ausprägung eines gewissen militärischen Keynesianismus in Russland festgestellt.

Um den Kriegsanstrengungen zu dienen, arbeiten die russischen Militärfabriken vierundzwanzig Stunden am Tag in kontinuierlichen Personalschichten an sieben Tagen in der Woche. Die Sozialleistungen und Gehälter dieses Verteidigungs-, Produktions-, Forschungs- und Entwicklungspersonals sind außergewöhnlich.

Diejenigen, die sich vertraglich verpflichten, in der Armee zu kämpfen, erhalten ein monatliches Gehalt von umgerechnet dreitausend US-Dollar; eine sehr hohe Summe, die die wirtschaftlichen Probleme von Hunderttausenden Familien löst, insbesondere in den ärmsten Regionen des Landes, die die Hauptrekrutierungsgebiete der Armee sind.

Die drei Szenarien des Krieges in der Ukraine

Der Wiederaufbau in den zerstörten Städten der Ostukraine, die von Russland besetzt und annektiert wurden, etwa Mariupol, bietet Zehntausenden von Bauarbeitern Arbeit, die ebenfalls gut bezahlt werden. Unabhängig von seiner langfristigen Wirksamkeit kurbelt dies die nationale Wirtschaft an und trägt zum Wiederaufbau des Sozialstaates bei.

Putins jüngste Reden deuten auf neue "soziale" und "antikoloniale" Töne hin, mit ungewöhnlicher Kritik an den Oligarchen, die ihre Paläste und Jachten nicht mehr in London oder an der Côte d'Azur genießen können. "Das Volk hat kein Mitleid mit ihnen", sagte Putin und rief die Reichen, die ihre Gewinne nicht mehr in Steuerparadiese flüchten können, zu patriotischen Investitionen in die nationale Wirtschaft auf.

All dies zielt darauf ab, einen neuen sozialen Konsens im Lande zu schaffen, dessen Entwicklung genau beobachtet werden muss.

Der Krieg lässt verschiedene Szenarien zu, von denen keines gut ist, aber einige wahrscheinlicher als andere. Nach Ansicht des französischen Politikwissenschaftlers Jacques Sapir ist es nicht auszuschließen, dass die ukrainische Offensive mit Hilfe der von den Nato-Ländern bereitgestellten Panzer- und Luftstreitkräfte die von der russischen Armee besetzten Gebiete doch noch zurückerobert und sogar bis zum Meer vordringt, um das besetzte Gebiet in zwei Teile zu spalten. Doch diese Option ist von allen am unwahrscheinlichsten.

In einem solchen Szenario könnte der Konflikt mit einem Waffenstillstand nach koreanischem Vorbild eingefroren werden, d.h. ohne Verhandlungen, ohne Waffenstillstand, ohne Friedensabkommen.

In einem zweiten, noch gefährlicheren Szenario bricht die ukrainische Armee in den kommenden Monaten zusammen, Russland rückt vor und Polen interveniert auf eigene Faust militärisch, ohne die Nato einzuschalten.

In der Ukraine kämpfen bereits Tausende polnische Militärs in der ukrainischen Armee. Aber was hier auf dem Spiel steht, ist ein offenes und vollwertiges militärisches Eingreifen der polnischen Armee.

Es sei daran erinnert, dass Polen in seiner Nationalgeschichte auf eine lange Reihe katastrophaler Entscheidungen zurückblickt, indem es sich mit überlegenen Mächten anlegt und die Aufteilung seines Territoriums provoziert hat.

Honoré de Balzac, der mit einer ukrainischstämmigen polnischen Adligen verheiratet war, warnte vor dieser Tendenz bereits im 19. Jahrhundert. Wenn er an eine Klippe gelangt, sagte er, dann springe der Pole immer von ihr herunter.

Seit Beginn des Konflikts hat Polen die irrsinnigste kriegerische Haltung in der gesamten Europäischen Union an den Tag gelegt, indem es seine Armee verstärkte und ein militärisches Eingreifen der Nato sowie die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen auf seinem Territorium forderte.

Mit seiner Ankündigung, strategische Atomwaffen in Weißrussland zu stationieren, scheint sich Putin auf den Fall einer polnischen Militärintervention vorzubereiten, deren Folgen unvorhersehbar wären.

Drittens das "Mannerheim-Szenario", das Sapir für wahrscheinlicher hält als die beiden anderen: Russland dringt langsam in ukrainisches Gebiet vor und die Ukraine erklärt sich irgendwann bereit, über Gebietsverluste und Neutralisierung zu verhandeln.

Genau das tat das Finnland von Carl Gustaf Emil Mannerheim nach dem kurzen "Winterkrieg" 1939-1940 mit der UdSSR, die die Verteidigung Leningrads durch eine Ausweitung ihres Territoriums auf Kosten Finnlands zu sichern suchte.

Mannerheim gab elf Prozent des Staatsgebiets ab und erreichte nach dem Zweiten Weltkrieg ein konsolidiertes Gleichgewicht mit einem stabilen und neutralen Finnland.

Die drei Szenarien, die Sapir am 21. März 2023 in einer Rede zusammen mit Emmanuel Todd vorstellte und die auf Youtube abrufbar sind, veranschaulichen die Bandbreite der möglichen Entwicklung. Einige von ihnen sind gefährlicher als andere. Aber alle sind mit ernsten Risiken verbunden.

Krieg ist für den Globalen Norden als Ganzes eine Katastrophe ohnegleichen. Er ist eine kriminelle Verschwendung der Zeit der Menschheit im Anthropozän. Die "rechte Linke", die ihn mit Waffenlieferungen anheizen will, täte gut daran, den Schuss zu korrigieren und sich von einem anderen französischen Autor inspirieren zu lassen, Boris Vian (1920-1959). Vian war der Autor des berühmten Chansons "Der Deserteur".

Hunderttausende junger russischer Männer haben das Land auf der Flucht vor einer möglichen Einberufung verlassen. Im März 2022 befanden sich Hunderttausende ukrainischer Männer im wehrfähigen Alter in Polen, die nicht in ihre Heimat zurückkehrten, um zu kämpfen.

Offiziellen ukrainischen Quellen zufolge hatten die Behörden bis Dezember desselben Jahres mehr als 12.000 Personen festgenommen, die versucht hatten, die Grenze illegal zu überqueren, um der Einberufung zu entgehen.

Einige erfroren bei dem Versuch, aus der Ukraine in die Karpaten zu fliehen, oder ertranken in den Grenzflüssen. Inmitten des Trommelfeuers und der verbrecherischen Infamie des Krieges sind sie die wahren Vertreter der menschlichen Hoffnung.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem kürzlich auf Spanisch erschienenen Buch "Ucrania, la guerra que lo cambia todo" (Ukraine – Der Krieg, der alles verändert hat).

Rafael Poch de Feliu ist spanischer Journalist. Er ist seit 35 Jahren Korrespondent, die meiste Zeit davon in der UdSSR/Russland und China. Er hat zudem in Berlin und Paris gearbeitet.

Dieser Beitrag erschien auch bei Globalter, einem Partnerportal von Telepolis [1].


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[1] https://globalter.com/la-transformacion-de-rusia-y-los-escenarios-de-la-guerra/