Software als (Mythen-)Material und Werkzeug

Die Ars Electronica 2003 versucht sich an einer Reformulierung des Begriffs der digitalen Medienkunst

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Das Feld der Medienkünste hat sich seit Gründung der Ars Electronica 1979 um einiges ausgeweitet: ging es zuerst vor allem um die Präsentation computererzeugter Bilder und Töne, kamen Anfang der neunziger Jahre interaktive Installationen hinzu. Mitte desselben Jahrzehnts folgte die Internetkunst. In diesem Jahr lenkte das Festival allgemein den Blick auf das Thema "Code" (siehe auch: Im Zeichen des Codes), was zugleich die Möglichkeit bot, die Aufmerksamkeit auf die Bewegung der so genannten "Software-Kunst" zu richten, die sich seit ca. drei Jahren als Mem verbreitet und sich mit Software als Werkzeug, Material und Thema zugleich befasst. Die Ars Electronica ist nicht die erste Veranstaltung, die sich mit dieser Bewegung auseinandersetzt; ein Forum wurde dieser Medienkunstrichtung schon bei der Transmediale geboten. Befindet sich die "digitale Medienkunst" in einer Phase der Neuorientierung?

Visually Deconstructing Code. Ben Fry (USA). Foto: Sabine Starmayr

Auf einer Leinwand wird die Figur eines tödlich getroffenen Soldaten projiziert, entlehnt aus einem Computerspiel. Was im Spiel gerade zwei Sekunden dauert, wird in der Installation von John Gerrard zeitlich extrem gedehnt ...

Online-Spieler bewegen sich durch einen virtuellen Stadtplan und werden von anderen Spielern in der realen Welt verfolgt, die sie mittels Handy und GPS-System entdecken können - ein Mixed Reality-Projekt von Blast Theory ...

Der Benutzer einer anderen Installation nimmt Einfluss auf die umfunktionierte Entwicklungsumgebung eines Computerspiels. Er schießt in der Arbeit von Margarete Jahrmann und Max Moswitzer gewissermaßen Programmbefehle ab - bei jeder dieser Aktionen wird eine Antikriegs-Email an den amerikanischen Präsidenten verschickt ...

Ein paar Eindrücke von Arbeiten, die in diesem Jahr bei der Ars Electronica gezeigt wurden (die beiden letzten sind mit Preisen ausgezeichnet worden). Die Medienkunst präsentierte sich in einer Vielfalt, wie sie vor zehn Jahren noch kaum denkbar war. Interaktive Medieninstallationen, Internetkunst und (grafische) Software-Kunst haben nur gemeinsam, dass sie mit dem Computer gemacht werden (wobei es auch zu Überschneidungen kommen kann).

Interaktivität und Generativität als Prinzipien der digitalen Medienkunst

Schaut man sich diese anfangs erwähnten Arbeiten der digitalen Medienkunst an, hat man das Gefühl, an einem Kommunikationsspiel teilzunehmen, wobei der künstlerische Anspruch auf der Strecke zu bleiben droht. Die Medienkunst will das traditionelle Einzelwerk hinter sich lassen und einen Rahmen zur Verfügung stellen, eine Anordnung, in der der Benutzer zum "Co-Autor" wird. Es stellt sich aber die ketzerische Frage, ob der Benutzer einer interaktiven Installation - außer dass er sie aktiviert - dem Kunstwerk wirklich etwas inhaltlich Sinnvolles durch sein Eingreifen hinzufügen kann. Gerfried Stocker, seit 1996 der künstlerische Leiter der Ars Electronica, lässt den Einwand nicht gelten:

Werkzeug, Material und Thema gleichzeitig dieser Kunst ist die Software. Und die Software hat den Vorteil, dass sie eben als offener dynamischer Prozess programmierbar ist. Die Frage, ob jetzt ein interaktiver Prozess, der wirklich ernst gemeint ist, der den User tatsächlich in die Vervollständigung oder die Weiterentwicklung einer künstlerischen Idee, eines künstlerischen Ausdrucks involviert, ob die dann in die kunstimmanenten Qualitätskriterien einer Kunst passt, die solche Prinzipien gar nicht kennt, die Frage ist einfach obsolet.

gerfried Stocker. Foto: Sabine Starmayr

Ohne Zweifel bietet die Beherrschung der Software-Prozesse für die Medienkünstler die Möglichkeit, sehr flexible Prozesse zu organisieren. Interaktivität und die Art und Weise ihrer eigenen Erzeugung kann in den Arbeiten zum Thema gemacht werden. Gerfried Stocker formuliert den Anspruch der Interaktivität:

Erst wenn ich einen Prozess schaffen kann, der eben nicht irgendwann fertig ist, sondern der jeden Input von der Umwelt, von den Besuchern aufnehmen kann und in den Ursprung seiner Generierung, also in seinen Algorithmus wieder einbauen kann, um dann definitiv in anderer Form sich wieder auszudrücken, erst dann habe ich diese Interaktivität wirklich geschlossen.

Stocker benennt hier eine Idealsituation der Interaktivität, der sich viele Künstler in ihren Arbeiten anzunähern versuchen. Diese stellen mitunter hohe Anforderungen sowohl an die Künstler als auch an die Benutzer, die sich auf die interaktive Situation einlassen müssen. Er ist der Ansicht, dass die digitale Medienkunst anderen Gesetzmäßigkeiten folge, wobei er diese erst einmal als technische Prinzipien beschreibt: Interaktivität, Generativität, offene Prozesshaftigkeit. Im Falle der Software-Kunst kommt noch die Vorstellung einer "Formbarkeit" der Daten hinzu. Stocker sieht diese Begriffe als möglicher Ergänzung zu denen der traditionellen Kunst, ohne länger in einer letztlich unproduktiven Oppositionshaltung bleiben zu wollen. Ausgangspunkt ist seine Überlegung, dass der Prozess der Digitalisierung an keiner Kunstform vorbeigehen werde.

Warum Software-Kunst?

Nicht nur die Medienkunst differenziert sich aus, auch die Zahl ihrer Gestalter nimmt zu. Es wächst eine neue Generation heran, die selbstverständlich mit den digitalen Mitteln umgeht und an den Medienabteilungen der Kunsthochschulen eine entsprechende Ausbildung genießt, was deutlich wurde in einer "Campus"-Ausstellung von studentischen Projekten der Abteilung Medien & Kunst an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich. Dazu Stocker:

Jeffrey Shaw gehört definitiv zu den interessantesten und wichtigsten Medienkünstlern unserer Zeit, aber das ist eine andere Generation als zum Beispiel Künstler wie Casey Reas und die Leute, die "Processing" entwickeln - eine Generation von Künstlern, die natürlich in einer ganz anderen Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit mit Code umgeht. Die Zeit, in der Jeffrey Shaw seine großen Werke begonnen hat, war eine Zeit, in der man, um mit einem Computer zu arbeiten, ein riesiges Institut brauchte, weil erstens der Computer Millionen Euros gekostet hat, zweitens einen riesigen Raum mit Klimaanlage und drittens ein paar Programmierer gebraucht hat, um ihn zu handhaben.

Jetzt sind wir in einer Zeit, wo ein PC, der ganz normal im nächsten Computergeschäft zu kaufen ist, die gleiche Leistung bringen kann, und wir sind in einer Zeit, in der mehr und mehr junge Künstler auch auf Basis ihrer Ausbildung, die sie in Köln oder Zürich kriegen, auch ganz selbstverständlich mit Programmiersprachen umgehen können und überhaupt erst in die Lage kommen, selber als Künstler wirklich darüber nachzudenken, dass die Entscheidung, ob ich das mit Perl, mit C++ oder mit Lingo programmiere, einen Unterschied macht. Das sind Entscheidungen, die Jeffrey Shaw eigentlich noch gar nicht zur Verfügung hatte. Das ist etwas, das sich ändert, da kommt etwas immer mehr an die Oberfläche, und die Ars Electronica versteht sich als Experimentallabor, wo genau solche Dinge stattfinden sollen.

"Software-Kunst" sei ein zweiter Name für die Medienkunst, meinte Gerfried Stocker in der Pressekonferenz. Was könnte jedoch diese Genrebezeichnung begründen? Die Idee der Formbarkeit (von Materie) als Kriterium der traditionellen Künste wird übertragen auf das Prinzip digitaler Daten. Dabei gehe es gerade nicht um die vorgefertigten Software-Features und Plug-Ins.

Wir haben Künstler hier, die ganz bewusst sich entscheiden zum Beispiel, welche Programmiersprache sie verwenden, um ihr Projekt, ihre Idee umzusetzen, weil sie die Software nicht nur als tool verwenden, sondern wirklich auch als ihr Material verstehen, das sie formen. Das ist eine wichtige Unterscheidung zwischen tool im Sinne der Werkzeuge - Werkzeuge sind bereit gestellt von der Software-Industrie, kommen meist aus einem anderen Kontext und können nur approbiert werden - und das andere ist, diese Software als Material, als Grundmaterie zu verwenden und daraus direkt zu formen.

Während die einen die Reinheit und "Schönheit" - wahrlich aktuelle Kategorien des ästhetischen Diskurses - des technischen Codes nahebringen wollen, sehen andere darin nur eine Form von "Software-Purismus". Die gezeigten Arbeiten sehen denn auch oft wie einfache Computergrafiken aus und führen den Vollzug der technischen Algorithmen vor ohne größeren ästhetischen Reiz - für Nicht-Programmierer.

Die Visualisierung von Daten, von dynamischen Verläufen der Code-Prozesse mag der Veranschaulichung von Sachverhalten dienen, aber sie ist keine Kunst, die über Spielerei und formale Experimente hinausgeht. Möglicherweise macht die digitale Medienkunst hier eine Phase durch, die beispielsweise die Filmkunst in den späten sechziger Jahren erlebt hat, indem alle ihre strukturierenden Elemente radikal aufgelöst (und kritisiert) werden, wie der Medienwissenschaftler Erkki Huhtamo in seinem Vortrag erläuterte.

Die Perspektive, die Software-Kunst hinzulenken "zur Entwicklung von Systemen und Generierung von Prozessen an sich", wie Florian Cramer und Ulrike Gabriel als Vertreter dieser Richtung meinen, trägt trotz aller rationalen Herangehensweise eher zu einer Mythisierung der Software bei. Es ist dieses "an sich", dass die Software-Kunst zu einer Glaubens-Frage werden lässt.

"Die Betonung der zentralen Funktion des Codes und der Algorithmusebene symbolisiert die Konzentration auf einen 'harten Kern'," interpretiert Errki Huhtamo weiterführend, "der in der postmodernen Welt oft verschwunden geglaubt wurde."

Die Medienkünstler Laurent Mignonneau und Christa Sommerer, die seit Jahren gemeinsam interaktive Installationen entwickeln, fassen in ihrem Katalogtext ihre Sicht der Medienkunst zusammen (und weisen damit auf die Defizite der formalistisch bleibenden Software-Kunst):

Die Qualität von Medienkünstlern zeigt sich ... darin, wie offen sie der Schaffung neuer Visionen und der Erforschung neuer Werkzeuge und Strukturen zur Realisierung dieser Visionen gegenüberstehen und inwieweit sie uns Inhalte und Erfahrungen bieten können, die über Zeit und Material hinausgehen und tiefergehende emotionale Qualitäten ansprechen, die mit Hilfe von Codes oder Zahlen allein schwer zu erklären sind.

Die sinnlich-intuitive und bewusstseinsmäßige Erfassung des software-technischen Ursprungs-Codes mag Teil der künstlerisch notwendigen "Materialbeherrschung" sein, aber sie ist kein Selbstzweck.