Soldes! Soldes! Soldes!

Fabian Kröger

Der Schlussverkauf in Frankreich als soziales Ritual, Volkssport der shopping-Techniken und Mythos des Alltags

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Drängen, Schieben, Stechen, endlose Schlangen, verstopfte Umkleidekabinen – seit dem 27. Juni haben in fast achtzig französischen Départements die „soldes d´été“ begonnen – ein Ereignis, das mit dem deutschen Wort „Sommerschlussverkauf“ nur unzureichend übersetzt werden kann. "Faire les soldes" ist im Modeland Frankreich soziales Ritual, Volkssport und gesellschaftliches Ereignis in einem, für das die Medien – wie hier der Figaro - mit Sonderseiten und Beilagen Aufmerksamkeit produzieren.

Vor den Pariser Edelboutiquen und Designer-Labels im 8. Arrondissement bilden sich bereits ab 5 Uhr morgens Schlangen von einigen hundert Metern. Kunden entreißen sich an Wühltischen begehrte Exemplare, zertrampelte Kleider liegen auf dem Boden - die noblen Auslagen der großen Kaufhäuser Galeries Lafayette, Printemps, Samaritaine und BHV verwandeln sich in kürzester Zeit in Schlachtfelder.

Höchster Stress wird in Kauf genommen, um am Glamour der Modewelt teilzuhaben. Während der zweimal pro Jahr stattfindenden Soldes können Waren über einen Zeitraum von sechs Wochen „vraiment bon marché“, also „wirklich günstig“ eingekauft werden, lautet das Versprechen. Dabei gibt es verschiedene Eskalationsstufen: In den ersten Wochen werden Nachlässe von bis zu 50 Prozent gewährt. Wird die “deuxième démarque” ausgerufen, sind die verbleibenden Waren nun nicht nur für die Hälfte, sondern ein Viertel des ursprünglichen Preises zu haben. In den letzten Wochen gibt es sogar Verkäufe mit Rabatten bis zu 90 Prozent, bei denen kleinere Händler Verlust machen.

Hohe Umsätze während der Soldes

Es sind vor allem die großen Ketten, die während der Soldes absahnen. So macht das Kaufhaus Printemps am Boulevard Haussmann etwa 16 Prozent seines Jahresumsatzes während des Winter- und Sommerschlussverkaufs. Durchschnittlich drei Mal mehr Kunden als üblich gehen dort während der Schlussverkäufe ein und aus. Manche Textilmarken erzielen 40 Prozent ihres Jahresumsatzes während der Soldes – zunehmende Bedeutung gewinnt dabei auch der Online-Handel. Diese wirtschaftliche Bedeutung bewog Bertrand Delanoë, Bürgermeister von Paris zu Beginn dieses Jahres dazu, die Soldes als offizielle Touristenattraktion zu entdecken. Einem nationalen Mythos wie dem Eiffelturm gleichgestellt, wurde dafür geworben, die „Soldes by Paris“ besuchen zu kommen - und nur hier und nicht etwa in der Londoner Oxford Street beim Shopping sein Geld zu lassen.

Auch das gehört zum Ritual: Wegen der schlechten Arbeitsbedingungen der Beschäftigten riefen mehrere Gewerkschaften am ersten Tag der Soldes zu einem Streik auf: „Man muss wissen, dass 50 Prozent der Beschäftigten von Galeries Lafayette und Printemps nur Gehälter in Höhe des Mindestlohnes SMIC (ca. 1.250 Euro pro Monat bei einer 35 Stunden-Woche) haben und 80 Prozent unter 2 000 Euro liegen“, kritisiert die Gewerkschaft Force Ouvrière. Die Angestellten litten außerdem unter den ausgeweiteten Öffnungszeiten und der Arbeit an Sonn- und Feiertagen.

Privilegierte und Marginalisierte treffen sich im Gewühl

Bisher gibt es keine einzige akademische Studie zu den Soldes, geschweige denn kulturwissenschaftliche Untersuchungen - dafür aber viele Statistiken: Laut Berechnungen des Institut français de la mode vom letzten Jahr machen die Französinnen und Franzosen knapp 30 Prozent ihrer jährlichen Bekleidungseinkäufe während der Soldes. 62 Prozent geben an, „immer oder manchmal“ an den Soldes teilzunehmen, so eine Studie des Centre de recherche pour l’étude et l’observation des conditions de vie (Credoc).

Dabei treffen sich privilegierte und benachteiligte Klassen im Gewühl: So gehen 81 Prozent der Führungsschichten während der Soldes einkaufen, gefolgt von 67 Prozent derjenigen, deren Einkommen bei weniger als 750 Euro pro Monat liegt. Im Gegensatz zu geläufigen Vorurteilen geben nur 4 Prozent der Frauen bei ihren Einkäufen mehr als 300 Euro aus, während es bei den Männern 12 Prozent sind.

Seit den 60er Jahren geben die französischen Privathaushalte allerdings immer weniger für Bekleidung und Schuhe aus. Waren laut einer Studie des Zukunftsforschungsinstituts Futuribles 1960 noch 11 Prozent des Haushaltsbudgets für Modeartikel bestimmt, lagen die Ausgaben 2005 nur noch bei 4,8 Prozent. Damit liegen die Franzosen im europaweiten Vergleich eher hinten: Im Durchschnitt geben alle europäischen Privathaushalte 6 Prozent ihres Budgets für Bekleidung und Schuhe aus, erfährt man aus dem neuesten statistischen Jahrbuch der Europäischen Union für 2007. An der Spitze der jährlichen Ausgaben für Mode liegen mit 10,1 Prozent (2004) die griechischen Haushalte, gefolgt von Italien mit 7,8 Prozent im Jahr 2005.

Shopping als Kulturtechnik: Kunden verstecken Kleider im Geschäft

Trotz des Stresses sind die Soldes für 53 % der Franzosen ein Vergnügen. Psychologisch ist der Schlussverkauf wohl deshalb so anziehend, weil er einen hedonistischen Mehrwert zu garantieren scheint.

Es ist nicht eigentlich das begehrte Produkt, mit dem sich die Käuferin oder der Käufer belohnt, sondern das Triumphgefühl, es für einen Bruchteil des sonst üblichen Preises ergattert zu haben und – ganz wichtig - dabei anderen zuvorgekommen zu sein. Es handelt sich hier also nicht mehr um profanes „Einkaufen“, also die Beschaffung von Waren gegen Geld. Im Vordergrund des strategisch vorgeplanten „Shopping“ steht der Erlebnisaspekt.

In diesem Spiel um Tauschvorteile entwickeln die Käufer raffinierte Kulturtechniken: So verstecken manche Kunden am Abend vor Beginn der Soldes für begehrenswert gehaltene Kleider innerhalb des Geschäftes, damit sie ihnen am nächsten Tag niemand wegschnappen kann. Andere fahren extra in bestimmte Provinzstädte, wo die Preisreduktionen noch extremer sind. Viele legen seit Monaten Geld zurück, um sich auf die Soldes vorzubereiten. Zum professionellen Shopping gehört aber auch der spontane Impulskauf, der so seine moralische Verwerflichkeit verliert: „Einkaufen, das war, als Sie ein rotes T-Shirt wollten und mit einem roten T-Shirt den Laden verließen. Shopping ist, wenn Sie ein rotes T-Shirt wollen und mit blauen Hosen, grünen Socken und „3 für 2“ Kleiderrollern aus dem Laden kommen“, schreibt Reto Schneider in dem NZZ-Artikel Preiskampf in der Bückzone" (http://www.nzzfolio.ch/www/21b625ad-36bc-48ea-b615-1c30cd0b472d/showarticle/fffc70d1-99f5-4326-912f-dfc7f23cbc48.aspx über die strategische Architektur von Supermärkten.

Der Survival-Kit zum Überleben des Einkaufs-Erlebnisses

Im Internet findet sich auch ein Survival-Kit, der Anweisungen gibt, wie die Kundin oder der Kunde die Soldes unbeschadet überstehen kann: Zunächst gilt es, einen Schlachtplan mit der Reihenfolge der abzuklappernden Geschäfte zu erstellen, dann sollten leichte Kleider angelegt werden, die es erlauben, sich im Fall von 30 Meter langen Schlangen vor den Umkleidekabinen notfalls im Laden umzuziehen, außerdem sind bequeme Schuhe ratsam, die schnell ausgezogen werden können.

Ausgerüstet mit einer kleinen Wasserflasche, Aspirin und einem Keks gegen Schwächeanfälle, Taschentüchern, um Enttäuschungs- oder Freudentränen zu trocknen, sowie einem Handy, um sich Rat zu holen oder die Bank anzurufen, kann es dann losgehen: Gestartet wird bei den begehrten Schuhen und Taschen, die als erstes weg sind. Deutlich wird hier, dass ein unter solchem Aufwand erbeutetes Stück einen Bedeutungsüberschuss enthalten muss, der ihm einen besonderen Wert zukommen lässt.

Von der mittelalterlichen Handels-Gilde zum Schlussverkaufsgesetz von 1906

Historisch gehen die Soldes auf Praktiken der in Handels-Gilden zusammengeschlossenen Kaufleute im Mittelalter zurück, schreiben die kanadischen Journalisten Julie Barlow und Jean-Benoit Nadeau. Die Gilden hatten zwei Funktionen: Sie schlichteten Streit zwischen Händlern einer Stadt und schützten sie gegen Wettbewerber aus anderen Städten. Außerdem legten sie Qualitätsstandards und Preisgestaltung fest. Wer gegen die Vorschriften verstieß, wurde vom mittelalterlichen Provost bestraft. Heute legen die Präfekten der Departements fest, in welchem Zeitraum die Soldes stattfinden. Und die französische Gewerbeaufsicht kontrolliert, dass die Geschäfte ihre Reduktionen nur auf Preise anwenden, die während der letzten 30 Tage vor den Soldes galten.

In ihrer heutigen Form traten die Soldes erstmals Ende des 19. Jahrhunderts auf, mit dem Ziel, unverkaufte Textilien abzusetzen. Bald wurden sie flächendeckend im Textil- und Schuhmodebereich eingesetzt. Ab 1906 gab es dafür auch eine gesetzliche Grundlage. Heute übersteigt diese Praxis den ursprünglichen Rahmen bei weitem, da sie in Frankreich auch für Immobilien und Elektronikartikel gelten, die keiner saisonalen Logik folgen.

Wie die Soldes zu einem Mythos des Alltags geworden sind

Vor genau 50 Jahren wandte sich der strukturalistische Philosoph Roland Barthes erstmals den „Mythen des Alltags“ in Frankreich zu. Der Mythos ist für ihn eine Art Mitteilungssystem oder eine Botschaft, er schreibt Objekten oder Ereignissen eine zusätzliche Bedeutung zu. Deshalb kann laut Barthes jedes Objekt, von dem „ein Diskurs Rechenschaft ablegen kann“, zum Mythos werden. In seinem Buch „Mythologies“ zeichnete er dies beispielsweise für die Tour de France, den guten französischen Wein, das blutige Beefsteak und die „Göttin“, den Citroen DS, nach.

Diese Beispiele haben seither für viel Aufmerksamkeit gesorgt und werden immer wieder gerne zitiert, sind selbst zum Mythos geworden. Selten verwendet werden aber die semiotischen Werkzeuge, die Barthes im zweiten Teil seines Buches zur Entzifferung von Mythen bereitstellt. Auch als der Nouvel Observateur aus Anlass des fünfzigjährigen Erscheinens der „Mythologies“ im März 2007 verschiedene Schriftsteller und Intellektuelle dazu aufrief, Barthes Ansatz in die Gegenwart fortzuschreiben, befassten sich die Autoren zwar mehr oder weniger gekonnt mit Sushi, Fernsehserien, GPS, Handys, SMS, Gratiszeitungen, Blogs, Zidane, iPods und Geländewagen als heutigen Alltagsphänomenen. Keiner der Autoren bezog sich allerdings auf die zeichentheoretischen Passagen des Buches. Sie lassen sich nur schwer lesen, können aber dabei helfen, moderne Mythen zu dechiffrieren – zum Beispiel die Soldes.

Das sprachliche Zeichen wird zum Rohstoff des mythischen Systems

Zunächst führt Barthes den Leser in einem ersten Schritt in die drei grundlegenden Kategorien der Zeichentheorie ein: Unter dem Bedeutenden oder Signifikant versteht man die materielle Form eines Zeichens, also beispielsweise der Schriftzug SOLDES auf dem Schaufenster eines Geschäftes. Das Bedeutete oder Signifikat ist die Vorstellung, Assoziation oder Bedeutung, die im Kopf eines Passanten entsteht, der im Vorbeigehen die Schrift liest und daran denkt, dass er beim Schlussverkauf billiger einkaufen kann. Zusammen ergeben diese beiden Dimensionen das Zeichen „Schriftzug der für billigeres Einkaufen beim Schlussverkauf steht“. Barthes nennt diesen Zusammenhang die Ebene der Objektsprache. Hier finden wir aber noch keinen Mythos.

Erst im zweiten Schritt kommt Barthes auf den Mythos zu sprechen, den er als „sekundäres semiologisches System“ bezeichnet. Damit ist gemeint, dass der Mythos auf dem gerade beschriebenen semiologischen Zeichen der ersten Ebene aufbaut: Der Sinn des aus dem Wort SOLDES und der Preissenkungsvorstellung davon gebildeten objektsprachlichen Zeichens wird nun zur leeren Form, zum „Rohstoff“ für das mythische System. Es beginnt, von ihm in einer anderen (Meta-)Sprache zu sprechen. Das Zeichen wird für den Mythos also zum Bedeutenden (zur Form), zu der ein zusätzliches konnotatives, mythisches Bedeutetes (der Begriff), hinzutritt. Barthes betont, dass dabei der vorherige Sinn des Zeichens deformiert wird, aber nicht verschwindet. Der mythische Sinn schwingt mit. Weil diese mythische Sinnzuschreibung oszillierend zwischen der ersten, objektsprachlichen Sinnebene und der zweiten metasprachlichen Ebene verläuft, nennt Barthes den neuen Sinn auch "Spiralnebel“.

Die Medien verschmelzen das Zeichen zum Mythos

Am Beispiel der Soldes lässt sich deutlich zeigen, wie der Mythos sich aus den überlagernden Konnotationen der Objektsprache speist, die durch Medien und Marketing unablässig auf den Konsumenten einprasseln: „Schnäppchen! Schlagen sie zu, ehe es zu spät ist! Nur in den nächsten Tagen finden Sie wirklich aufregende Kleider, die verbilligt sind! Am Schluss gibt es nur noch Schrott! Warten Sie bis zum Schluss, dann ist alles noch viel billiger! In den ersten Tagen sollte man die Kaufhäuser wegen des Andrangs meiden!“ – so lauten die Anweisungen.

Neben diesem Aufmerksamkeitsfeuerwerk, das noch an die Imaginationen des den Schriftzug SOLDES betrachtenden Passanten andockt, zeigt sich der Mythos auch als überhöhende, bildhafte Bedeutungsproduktion. So sprechen die französischen Medien von den Soldes als einem „Spiel“, einer „Rabattschlacht“, einer „Jagd“ oder einem „Rennen“, das mit „Fanfarenstössen“ begonnen habe, und in „Triumph“ oder „Wahnsinn“ ende. Hier kondensiert sich ein bestimmtes mythisches Wissen, eine zwischen Glücksverheissung und Stressdrohung oszillierende Botschaft. Wichtig ist, dass diese „Aussagen“ ihren Stellenwert als Mythos erst im Zuge eines öffentlichen Diskurses erhalten, also wenn sie an ein Kollektiv adressiert sind und eine Gemeinschaft über sie spricht.

Laut Roland Barthes zeichnen sich die Mythen des Alltags schließlich dadurch aus, dass sie eine falsche Augenscheinlichkeit suggerieren, also eine bestimmte Ideologie als natürliche und unausweichliche Antwort vorgeben. So erscheinen die Soldes zyklisch wie die Jahreszeiten, sie sind quasi ein Teil der Natur geworden. Auch diese Tendenz, „Geschichte in Natur“ zu verwandeln, ist ein Prinzip des Mythos. Die Rolle des Mythologen besteht darin, anhand der Sprache der Mythen ihre Bedeutung zu dechiffrieren und sie somit zu zerstören. Barthes ist sich aber darüber im Klaren, dass es sehr schwierig ist, den Mythos anzugreifen, "denn die Bewegung, die man ausführt, um sich von ihm zu lösen, wird ihrerseits Opfer des Mythos. Der Mythos kann in letzter Instanz immer auch den Widerstand bedeuten, den man ihm entgegensetzt.“