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Solidarität, Triumph und Demütigung: Die Geschichte der Arbeiter

Machtgefälle, Maschinen, Monotonie: Charlie Chaplin als Industriearbeiter in der Hollywood-Tragikomödie "Modern Times" (1936) Szenenfoto: Taste of Cinema / CC0 1.0

Sahra Wagenknecht über eine Klasse, der nie etwas geschenkt wurde, über soziale Kämpfe und eine Zeit, in der die meisten Menschen davon ausgehen konnten, dass es ihren Kindern mindestens so gut oder besser gehen würde.

Nichts zu verlieren

Auch die Industriearbeiterschaft hatte einmal ihre große Erzählung, die in Rudimenten bis heute lebendig ist. Sie entstand in zwei Jahrhunderten gesellschaftlicher Kämpfe, die die Arbeiter zur Verbesserung ihrer sozialen Lage führen mussten, und sie spiegelt ihre Lebenswelt und ihre Erfahrungen in diesen Auseinandersetzungen wider.

Stinkende Städte und Elendslöhne

Zunächst hatte alles ziemlich trostlos angefangen. Die frühkapitalistische Industrialisierung war für die betroffenen Arbeiter ein einziges Desaster. Sie entwertete die Fähigkeiten und das Geschick der Handwerker, die verarmten und als Beschäftigte der Manufakturen und späteren Industriebetriebe nur einen Bruchteil ihrer früheren Einkommen erzielen konnten. Sie raubte den einstigen Kleinbauern zunächst das Gemeindeland, ohne das sie nicht überleben konnten, und zwang die entwurzelten Menschen dann in dreckige, stinkende, übervölkerte Industriestädte, wo sie und ihre Kinder unter hygienisch entsetzlichen Bedingungen leben und für Elendslöhne bis zum Umfallen schuften mussten, fortwährend vom Verlust der Arbeit und damit von Hunger, Obdachlosigkeit und schlimmstenfalls Tod bedroht.

Im Vergleich zu diesen Zuständen war das sicherlich entbehrungsreiche, aber sehr viel ruhigere, naturverbundene, in verlässliche Gemeinschaften integrierte Leben ihrer Väter und Großväter geradezu eine Idylle. Anfangs hatten die Arbeiter auch wenig Grund, auf Verbesserungen in der Zukunft zu hoffen. Trotz des mit der Industrialisierung verbundenen gewaltigen Wirtschaftsaufschwungs stagnierten die Löhne in den meisten Ländern bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Der Gesundheitszustand der Arbeiter verschlechterte sich messbar und ihre Lebenserwartung sank. In diesem Umfeld entstanden die ersten Gewerkschaften und Arbeitervereine, die in den meisten Ländern verboten wurden. Auch Streiks waren meist untersagt.

Die sozialistische Rhetorik jener Zeit entsprach der Lebenssituation einer Klasse, die politisch kaum Mitbestimmungsrechte und ökonomisch nicht die geringste Chance auf Wohlstand, Sicherheit oder gar Aufstieg hatte. Die Aussage von Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest, dass der Arbeiter nichts zu verlieren hat als seine Ketten, entsprach im Jahr 1848, als sie formuliert wurde, durchaus der Realität.

Bismarcks Bestechungsversuch

Es gab zwei wichtige Faktoren, die diese Situation veränderten. Zum einen der trotz Unterdrückung wachsende Organisationsgrad der Arbeiter, der es ihnen ermöglichte, immer häufiger erfolgreiche Arbeitskämpfe zu führen und so steigende Löhne und spürbare Verbesserungen auch gegen massive Widerstände durchzusetzen. Der andere war die zumindest in Teilen der Eliten keimende Erkenntnis, dass eine zahlenmäßig wachsende Klasse von Ausgeschlossenen, Geschundenen und Gedemütigten der herrschenden Ordnung und damit auch den Besitzverhältnissen gefährlich werden konnte. Einer der Ersten, die sich zu dieser Einsicht durchgerungen hatten, war Otto von Bismarck, der Reichskanzler des Deutschen Reichs.

Um, wie er hervorhob, "die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen, zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte", führte Bismarck 1883 eine gesetzliche Kranken- und Unfallversicherung für Arbeiter und wenig später auch eine Rentenversicherung ein. Zwar demonstrierte den Arbeitern jeder im polizeilichen Kugelhagel erstickte Streik - und davon gab es im Kaiserreich viele -, dass der preußische Staat mitnichten ihretwegen bestand. Auch das Sozialistengesetz von 1878, das die Sozialdemokratie für mehrere Jahre in die Illegalität zwang, war ganz sicher kein wohlwollender Akt. Aber trotz allem war die gesetzliche Sozialversicherung für die Arbeiter ein wichtiger Fortschritt.

Ein Machtungleichgewicht

In allen Ländern machten die Arbeiter bereits im 19. Jahrhundert eine Grunderfahrung, die für ihr Weltbild und ihre Werte elementar werden sollte: dass sie nur eine Chance hatten, wenn sie sich mit ihresgleichen zusammentaten. Das zentrale Ziel kapitalistischen Wirtschaftens besteht darin, aus Geld mehr Geld zu machen. Es geht also darum, möglichst billig zu produzieren und möglichst teuer zu verkaufen. Das können Unternehmen durchaus auf Wegen erreichen, die mit dem Allgemeinwohl und auch mit den Interessen ihrer Arbeiter nicht kollidieren. Hohe Gewinnchancen bergen beispielsweise innovative Güter, für die es zunächst keine Konkurrenten gibt und die sich deshalb teuer verkaufen lassen.

Bei funktionierendem Wettbewerb dagegen lässt sich der Verkaufspreis nicht beliebig erhöhen, hier wird die Senkung der Kosten zum Schlüssel. Kostensenkungen wiederum lassen sich durch den Einsatz neuer Techniken bewerkstelligen, die die Arbeit produktiver machen und damit den in jedem produzierten Gut enthaltenen Lohnkostenanteil verringern. Der Anreiz, neue Produkte zu entwickeln und arbeitssparender zu produzieren, ist der Grund dafür, dass der Kapitalismus 150 Jahre lang die technologische Entwicklung vorangetrieben und die materiellen Grundlagen für unseren gesellschaftlichen Wohlstand vervielfacht hat. Aber technologischer Fortschritt ist nicht das einzige Mittel, um Kosten zu verringern und höhere Gewinne zu erzielen.

Das gleiche Ergebnis lässt sich auch durch niedrigere Löhne, Abstriche beim Arbeitsschutz oder quälende Überstunden, die nicht bezahlt werden, erzielen. Um solche Kostensenkungen durchzusetzen, hilft dem Unternehmer ein Machtungleichgewicht, das es überall da gibt, wo der Arbeiter auf den Arbeitsplatz mehr angewiesen ist als der Unternehmer auf just diesen Arbeiter.

Burger-Brater oder Sternekoch

Dieses Machtungleichgewicht, das den Arbeiter erpressbar macht, existiert vor allem dort, wo Arbeitsplätze keine besondere Qualifikation, kein überdurchschnittliches Geschick und keine originellen Fähigkeiten erfordern. Je anspruchsvoller eine Tätigkeit und je höher die für sie erforderlichen Qualifikationen, desto kleiner ist der Kreis möglicher Bewerber und desto stärker naturgemäß die Stellung eines Beschäftigten. McDonald’s kann seine Burger-Brater jederzeit ersetzen, entsprechend schlecht behandelt und bezahlt das Unternehmen sie. Ein Restaurant, das einen Sternekoch beschäftigt, wird dagegen alles tun, um den geschickten Küchenmeister bei Laune zu halten.

Die kapitalistische Industrialisierung motivierte daher von Beginn an nicht nur zum Einsatz arbeitssparender Produktionsmethoden. Sie bevorzugte immer auch Technologien, die die Arbeit soweit möglich entqualifizierten. Die einzig erfolgversprechende Gegenstrategie der Arbeiter angesichts des Machtungleichgewichts war, sich zusammenzuschließen und die Löhne und Arbeitsbedingungen nicht mehr individuell, sondern kollektiv auszuhandeln. Die Gewerkschaften kämpften also um die Fixierung standardisierter Arbeitsentgelte durch Tarifverträge und gegen die Dequalifizierung der Arbeit. Sie bemühten sich, Bildungszertifikate für bestimmte Arbeiten verbindlich vorzuschreiben und mit festen Gehaltstarifen zu verbinden.

Hinzu kam in allen Ländern früher oder später noch ein umfassendes Bündel von Leistungen aus der Sozialversicherung, die großenteils ebenfalls standardisiert und gesetzlich mit dem Arbeitsvertrag verbunden waren. Außerdem gab es gesetzlichen Kündigungsschutz, festgelegte Aufstiegsmöglichkeiten im Betrieb und feststehende Lohnerhöhungen im Zuge einer längeren Betriebszugehörigkeit.

Die Norm als Befreiung

Es waren also Normen, Kollektivregeln, Standards, die die Situation der Industriearbeiter Schritt für Schritt verbesserten und ihrem Leben allmählich Sicherheit, Planbarkeit und Stabilität gaben. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung in den fünfziger bis siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Damals arbeitete in den westlichen Ländern im Schnitt jeder zweite Beschäftigte in der Industrie, und viele waren gewerkschaftlich organisiert. Der Zusammenhalt in den Belegschaften war groß und die Industriearbeiterschaft als gesellschaftliche Gruppe entsprechend einflussreich. Die aus diesem Milieu entstandenen und damals noch in ihm verankerten linken Parteien erzielten Stimmengewinne und übernahmen in vielen Ländern die Regierung. Eine solide Berufsausbildung versprach zu jener Zeit ein Leben in sozialer Sicherheit, steigende Einkommen und Aufstiegsmöglichkeiten. Selbst ein Angelernter konnte sich hocharbeiten.

Die Erzählung der Arbeiter

Die große Erzählung der Industriearbeiterschaft, die in Befragungen auch heute noch durchscheint, ihre Blütezeit allerdings im 20. Jahrhundert hatte, entstand aus diesen Erfahrungen. Sie war getragen vom Stolz auf die eigene Arbeit, die den materiellen Wohlstand produziert, auf den die gesamte Gesellschaft angewiesen ist. Und sie lebte vom Selbstbewusstsein einer sozialen Schicht, die es durch ihren Zusammenhalt und ihre Solidarität geschafft hatte, ihren Interessen gesellschaftliche Geltung zu verschaffen: gegen das Management, gegen das Kapital und überhaupt gegen die da oben. Wir-Bewusstsein, Gemeinschaftsorientierung, Solidarität und gegenseitige Verantwortung waren Grundpfeiler dieses Weltbilds. Nur Belegschaften, die zusammenhielten, hatten im Betrieb eine Chance gegenüber Vorgesetzten und Management. Vereinzelung bedeutete Wehrlosigkeit. Individualisierte Verträge waren schlechtere Verträge.

Auch in den Wohnvierteln der Arbeiter waren gegenseitige Hilfe und Unterstützung oft überlebenswichtig. Der Zusammenhalt wurde dadurch erleichtert, dass man sich kannte und einander vertraute. Immerhin arbeiteten viele Industriearbeiter ihr Leben lang im selben Betrieb, in dem oft schon der Vater seine Brötchen verdient hatte. Die Arbeiterschaft war daher überwiegend sesshaft und heimatverbunden. Wer aus diesen sozialen Bezügen und Gemeinschaften herausgerissen wurde, etwa weil er zu Hause keine Arbeit mehr fand, war arm dran. Wunsch nach Sicherheit und Kontinuität Bis heute bestätigen Befragungen, dass der Wunsch nach Sicherheit und Kontinuität eine zentrale Rolle im Leben der Arbeiter spielt.

Geregelte Arbeitszeiten, ein fester Rahmen für Firma, Haus und Familie, die Planbarkeit des eigenen Lebens, das möglichst bis zur Rente durch nichts aus der Bahn geworfen werden soll, gehören zu elementaren Bedingungen für das, was viele Arbeiter unter einem guten Leben verstehen. Ein Leben, das sie mittlerweile immer seltener führen können. "Ich muss heute wissen, was morgen ist", beschreibt ein Facharbeiter, der sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet hat, in einem soziologischen Interview-Band seine Lebensmaxime. "Ich muss heute wissen, was morgen ist", ist die verständliche Leitlinie derer, die schnell und tief fallen können und die Abwechslung deshalb nicht in erster Linie mit aufregenden Erlebnissen und interessanten neuen Erfahrungen in Verbindung bringen, sondern mit gefährlicher Unsicherheit, die im sozialen Absturz enden kann.

In allen westlichen Ländern genoss die harte Arbeit der Industriearbeiter Mitte des 20. Jahrhunderts hohen Respekt, ihre Werte und wichtige Elemente ihres Weltbildes prägten die öffentliche Debatte. Das galt für Frankreich und Großbritannien vielleicht noch mehr als für Deutschland.

Die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft"

Die große Erzählung der Bundesrepublik der fünfziger bis späten siebziger Jahre war die der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft", in der es keine krassen sozialen Gegensätze mehr gibt und jeder, der sich anstrengt und an die Regeln hält, die Chance auf sozialen Aufstieg und ein Leben in solidem Wohlstand erhält. Mit dieser Erzählung verbanden sich Werte wie Leistung, Fleiß, Disziplin, Ordnung, Sicherheit, Stabilität und Normalität, die von der Arbeiterschaft wie von den traditionellen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten geteilt wurden. Die Gesellschaft wurde als eine gemeinsame Angelegenheit betrachtet, in der sozialer Zusammenhalt, Gemeinsinn und Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere zählen.

Außerdem wurde den oberen Zehntausend eine gewisse Zurückhaltung auferlegt. Es war die Zeit von Maß und Mitte, in der es als unschicklich galt, Reichtum zur Schau zu stellen - vielleicht auch, weil das die Erzählung vom Verschwinden der großen Unterschiede gestört hätte. Verantwortung für das gemeinsame Ganze zu tragen, das hieß zum einen, seinem Beruf nicht nur des Geldes wegen nachzugehen, sondern etwas Nützliches zu leisten, auf das man stolz sein konnte. Wer diesen Wertekanon verinnerlicht hatte, wollte nicht einfach nur seine Arbeit machen, er wollte sie gut machen. Die Produkte, an deren Herstellung man beteiligt war, sollten sich nicht nur verkaufen lassen, es sollten auch gute Produkte sein. Hoch geschätzt wurden daher Professionalität, Gründlichkeit und Solidität. Diese Werte waren in der Arbeiterschaft, aber auch im Handwerk, bei Kleinunternehmern und im Mittelstand lebendig.

Was für das französische Nationalbewusstsein Jeanne d’Arc, die Französische Revolution und die Résistance waren, wurden für das deutsche das Wirtschaftswunder, ordentliche Ingenieurarbeit und Qualitätsprodukte, die weltweite Anerkennung genossen. Die Verantwortung für andere hatte aber noch eine zweite Seite, die vor allem von der Sozialdemokratie, aber auch von den Anhängern der katholischen Soziallehre innerhalb der Union betont wurde: die Verantwortung des Stärkeren für die Schwächeren. Ohne breite Akzeptanz dieser Sichtweise in den Mittelschichten wäre der Ausbau der gesetzlichen Sozialversicherungen und des progressiven Steuersystems kaum möglich gewesen.

Denn es war schon damals in erster Linie die Mitte und keineswegs die Oberschicht, die den Sozialstaat und die öffentlichen Aufgaben finanzierte.

Millionenfache Aufstiegserfahrung

Genau besehen war die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" natürlich ein Mythos. Der Unterschied zwischen dem Lebensstandard eines ungelernten Arbeiters und dem der Wirtschaftseliten, deren Besitztümer Nazidiktatur und Weltkrieg vielfach unbeschadet überstanden hatten, war nach wie vor riesig, und es gab nicht nur unverändert großen Reichtum, sondern auch nach Jahren des Wirtschaftswunders immer noch viele Menschen, die sich nach der Decke strecken mussten und ziemlich arm waren.

Dass die Erzählung von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" dennoch so überzeugend wirkte, lag daran, dass im Deutschland der fünfziger bis siebziger Jahre beruflicher Aufstieg eine millionenfache Lebenserfahrung wurde und letztlich jeder in irgendeiner Form vom Wirtschaftswachstum profitierte, wenn auch einige mehr und andere weniger. Hintergrund dessen war, dass der Staat dem Gewinnstreben Regeln und Beschränkungen auferlegt hatte, dass er mit hohen Körperschaftsteuern und Spitzensteuersätzen aktiv in die Einkommensverteilung eingriff, durch ein Netz sozialer Leistungen Sicherheit gewährleistete und viele lebenswichtige Bereiche von Bildung und Wohnen über die Strom- und Wasserversorgung bis zu Krankenhäusern und Kommunikationsdiensten weitgehend aus der Logik von Profit und Kommerz herausgelöst hatte und in öffentlicher Regie anbot.

Die Aufstiegserfahrung bezog sich anfangs noch kaum auf die Möglichkeit für Kinder aus dem Arbeitermilieu, ein Gymnasium besuchen und studieren zu können. Diese Chance gab es für eine größere Zahl erst Ende der sechziger Jahre. Zunächst wesentlich prägender war die Möglichkeit, mit einer soliden Berufsausbildung und mehreren Jahren Berufserfahrung einen Lebensstandard zu erreichen, der Zugang zu den meisten Annehmlichkeiten der damaligen Konsumgesellschaft eröffnete, vom eigenen Auto über Fernseher und Waschmaschine bis zur Urlaubsreise.

Sicherheit durch Normalität

Eine wichtige Rolle spielte auch ein für viele völlig neues Gefühl sozialer Sicherheit. Die Normalbiografie machte das Leben planbar, das Normalarbeitsverhältnis garantierte allmählich steigende Löhne und vielfach auch eine berechenbare Karriere, die Normalfamilie mit der zumindest in Zeiten der Kindererziehung nicht berufstätigen Frau wurde erstmals auch für Arbeiter und einfache Angestellte erschwinglich. Und alle lebten in der Erwartung, dass es ihren Kindern dereinst noch besser gehen würde als ihnen selbst.

Öffentlicher Wohnungsbau und Eigenheimförderung, aber auch die Bereitstellung von Werkswohnungen sorgten zudem für sozial durchmischte Wohnviertel, in denen der Facharbeiter, der Postbeamte und der leitende Angestellte eines mittelgroßen Betriebs nicht selten Nachbarn in der gleichen Reihenhaussiedlung waren. Und während der Einfluss der Kirchen zurückging und die alte Vereinskultur mehr und mehr zerfiel, also wichtige Institutionen verschwanden, die vorher sozialdemokratische wie katholische Milieus konstituiert, aber auch voneinander abgegrenzt hatten, wurde jetzt der abendliche Fernsehkonsum zur wichtigsten das Denken und Fühlen prägenden Aktivität.

Fernsehen wiederum, das waren damals exakt zwei öffentlich-rechtliche Hauptprogramme, die - mit gewisser parteipolitischer Nuancierung - die gleichen Botschaften in die einfachen wie die komfortablen Wohnzimmer sendeten. Auch das trug sicher zu dem breit geteilten Gefühl bei: "Wir sind jetzt alle Mittelschicht." Insofern gab es zwar nie eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft", aber es gab in allen westlichen Ländern eine Epoche, in der es tatsächlich für nahezu alle, und insbesondere für die Arbeiterschaft, aufwärts ging. Sie endete in den achtziger Jahren.

Sahra Wagenknecht ist promovierte Volkswirtin, Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke und Autorin mehrerer Bücher. Von 2010 bis 2014 war sie Stellvertretende Parteivorsitzende, von 2015 bis bis 2019 Ko-Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag. Ihr neues Buch „Die Selbstgerechten: Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ [1] ist diesen Monat im Campus-Verlag erschienen. Dieser Artikel ist eine Schlüsselpassage daraus.


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